Titelthema

Wurzeln und Flügel

von Angela Kuboth, erschienen in Ausgabe #42/2017
Photo

Wenn jemand fast sechs Jahrzehnte gelebt hat und sich fragt, welche Menschen aus welchem Jahrzehnt ihm geblieben sind, geht das nah. Und so manches dabei geht einem nach. Werden die gemeinsam ­geplanten Tage des Abschiednehmens von den 50ern ausreichen, das alles zu (er-)klären?

Gern würde ich meine Liebsten unter jenem Baum versammeln, der mir auf der griechischen Insel Kos begegnete. Ich war auf der Suche nach der Platane des Hippokrates, als ich verzaubert unter diesem uralten Stamm stehenblieb und dem Licht nachsah. Schaue ich jetzt auf das Foto, dann ist mir, als würde meine
Seele dort hinaufstreben, um ihre Flügel auszubreiten und davonzuschweben. Was hält sie? Ich glaube, sie wartet darauf, mich ­mitnehmen zu können, mag nicht ohne mich davonschweben.

In jenem Moment auf Kos fühlte ich mich flügellos, konnte mich nicht lösen aus all den Gedanken über Vergangenes und Allgegenwär­tiges. Dunkel und schwer war es am Fuß des Baums. Ich habe eine Weile gebraucht, um meinen Blick vom Licht bis hinunter zum Anfang seines Wuchses gleiten zu lassen. Mir schien, als fürchtete ich ­dieses Erdverbundene. Bin ich den Flügeln näher als den Wurzeln?

Mir fällt Oya ein, die Göttin der Veränderung. Der Sage nach soll sie mit der Kraft des Windes dazwischengefahren sein, als einer der Götter glaubte, alle Weisheit der Erde für sich einsammeln und bewahren zu müssen. Die gesammelten Schriften verteilten sich auf der ganzen Erde. Seither liegt die Weisheit in Stücken um uns herum, und wir sind dabei, diese wieder zusammenzufügen. Dazu bedarf es des Lichts, damit wir sehen, welches Stück uns begegnet. Und es bedarf des Stamms, der stark genug ist, das Neue zu tragen und das Alte zu bewahren.

weitere Artikel aus Ausgabe #42

Photo
von Matthias Fersterer

Ich–Dylan–Ich [Buchbesprechung]

Vor zwei Jahren wurde an dieser Stelle bereits Peter Wawerzineks Vorstudie zu seiner Ode an den walisischen Dichter Dylan Thomas vorgestellt. In der Zwischenzeit ist sie in voller Länge erschienen – Grund genug für eine erneute Besprechung.Was verbindet Václav Havel, Bob

Photo
von Ulrike Meißner

Spriessbürger [Buchbesprechung]

»Allen sonstigen Meinungen zum Trotz entsteht ein Gärtner weder aus Samen noch aus Schösslingen, Zwiebeln, Knollen oder Ablegern, er wächst einzig und allein durch die Erfahrung, durch die Umgebung und durch Naturbedingungen.«Das ist eines der schönsten Zitate, die

Photo
von Elisabeth Voß

Selbst denken, selbst machen, selbst versorgen [Buchbesprechung]

Hinter dem etwas simpel klingenden Titel »Selbst denken, selbst machen, selbst versorgen – Ein Bauer zeigt, wie‘s geht« verbirgt sich ein Kleinod an Erfahrungen und Einsichten. In eingängigem Stil erzählt Markus Bogner, wie er sich als gelernter Elektriker

Ausgabe #42
Entpuppungen

Cover OYA-Ausgabe 42
Neuigkeiten aus der Redaktion