Buchtipps

Die Wiederentdeckung des Menschen (Buchbesprechung)

von Ute Scheub, erschienen in Ausgabe #54/2019
Photo

Die herrschende ökonomische Lehre geht bekanntlich vom »Homo oeconomicus« aus, der einzig an den eigenen Vorteil denke. ­Andreas von Westphalen zeigt in seinem Buch »Die Wiederentdeckung des ­Menschen«, dass das eine rein ideologische Konstruktion ist, denn inzwischen belegen stapelweise Studien aus Hirnforschung und Sozialwissenschaft, dass Altruismus uns angeboren und Kooperation unsere bevorzugte Handlungsweise ist. Dummerweise wird uns diese in Schule, Uni & Co. oft wieder abgewöhnt – und erst recht in der Wirtschaft.
Einige Beispiele aus dem Buch: Die Verhaltensforscher Michael Tomasello und Felix Warneken zeigten in berühmt gewordenen Experimenten, dass bereits sechs bis zehn Monate alte Wickelkinder ein Gerechtigkeitsgefühl haben: Sie bevorzugen Puppen, die anderen Puppen »geholfen« haben.
14 bis 18 Monate alte Kleinkinder öffnen für schwer beladene Erwachsene spontan eine Schranktür. Nach Recherche des Sporttrainers Terry Orlick entscheiden sich zwei Drittel aller zehnjährigen Kinder für Spiele ohne Sieger und Verlierer, weil sie sich dabei glücklicher fühlen.
Weitere Untersuchungen zeigen, dass Menschen eine faire Verteilung von Geld und Ressourcen bevorzugen und eine »Ungleichheits-Aversion« haben. Ein Team um Christopher Dawes testete das in einem Geldspiel: Alle anonymen Mitglieder einer Gruppe konnten das Guthaben ihrer Mitspielenden beliebig erhöhen oder verringern. Ein Homo oeconomicus hätte sein Geldsäckel fest zugeklemmt. Stattdessen aber erhöhten knapp drei Viertel der Getesteten das Guthaben anderer mit ihrem eigenen Geld. Eine andere Studie in Japan ergab, dass nur 7 Prozent der Menschen dem Eigennutz Vorrang einräumten, während 84 Prozent sich kooperativ verhielten. Weitere Experimente belegen zudem, dass das Gehirn uns mit Glückshormonen belohnt, wenn wir uns sozial und fair verhalten – nicht aber, wenn wir in Konkurrenz zueinander treten. Michael Tomasello kommt deshalb zu dem Schluss, Homo sapiens sei ein »ultrakooperativer Primat«.
Also alles prima? Leider nicht. Studien besagen, dass Individualismus in den vergangenen 57 Jahren um 12 Prozent zu- und Empathie in den letzten 30 Jahren um 40 Prozent abgenommen hat. Die Erfindung des Homo oeconomicus ist längst zu einer wirkmächtigen, selbsterfüllenden Prophezeiung geworden: Die Ichlinge vermehren sich.
Oya-Lesenden dürfte das alles nicht neu sein. Dennoch lohnt sich die Lektüre, denn was der Journalist und Theaterregisseur Andreas von Westphalen an älterem und neuem Fachwissen zusammengetragen  hat, ist in der Summe doch erstaunlich. Vor allem aber macht es Spaß, es zu lesen.


Die Wiederentdeckung des Menschen
Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen.
Andreas von Westphalen
Westend, 2019
238 Seiten
ISBN 978-3864892134
22,00 Euro

weitere Artikel aus Ausgabe #54

Photo
von Lea Hinze

Keine Angst vor Konflikten

Gemeinschaftlich geprägte Organisatio­nen – seien es das Planungsteam für ein Festival, ein kollektiv ­organisierter Betrieb oder eine ­Gemeinschaft – entscheiden sich oft bewusst nicht für konventionelle Organisationsstrukturen, sondern für

Photo

Handbuch zur Selbstermächtigung

Es ist ein Handbuch im besten Sinn: Das »Empowerment Manual« von Starhawk nehme ich in die Hand, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Das war schon oft der Fall. Starhawk ist eine weltweit bekannte Permakulturlehrerin aus Kalifornien, Friedensaktivistin, Feministin und Naturmystikerin.

Photo
von Jochen Schilk

Sex – die wahre Geschichte (Buchbesprechung)

Vor zweieinhalb Jahren hat mir Oya Leser Timo das Buch »Sex – die wahre Geschichte« des Psychologen Christopher Ryan und der Psychiaterin Cacilda Jethá geschenkt, doch seither lag diese Empfehlung mehr oder weniger unbeachtet im Regal. Hätte ich geahnt, welch

Ausgabe #54
einander verstehen

Cover OYA-Ausgabe 54
Neuigkeiten aus der Redaktion