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Degrowth/Postwachstum zur Einführung

von Ute Scheub, erschienen in Ausgabe #55/2019
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Die herrschende ökonomische Lehre geht bekanntlich vom »Homo oeconomicus« aus, der einzig an den eigenen Vorteil denkt. Andreas von Westphalen zeigt in seinem Buch »Die Wiederentdeckung des Menschen«, dass das eine rein ideologische Konstruktion ist. Denn inzwischen belegen zahlreiche Studien aus der Hirnforschung oder den Sozialwissenschaften, dass Altruismus uns angeboren und Kooperation unsere bevorzugte Handlungsweise ist. Dummerweise wird uns das in Schule, Uni & Co. oft wieder abgewöhnt – und erst recht in der Wirtschaft.
In vielen Bereichen ist die Bevölkerung Deutschlands längst weiter als seine sogenannten politischen und ökonomischen Eliten. 78 Prozent der Befragten gaben in einer repräsentativen Studie an, dass es natürliche Grenzen des Wachstums gibt, die die industrialisierte Welt erreicht oder überschritten hat. Und 91 Prozent stimmten der Aussage zu: »Wir müssen Wege finden, wie wir unabhängig vom Wirtschaftswachstum gut leben können.«
Die Umfrage ist dem Buch »Degrowth« von Matthias Schmelzer und Andrea Vetter entnommen. Angesichts einer drohenden Rezession ist das Thema aktueller denn je, wobei die beiden klar und deutlich ­schreiben: »Wirtschaftliche Schrumpfung ist nicht das Ziel von Postwachstum, und ebensowenig ist Postwachstum das Gegenteil von Wachstum. Die Reduktion von Produktion und Konsum ist vielmehr eine notwendige Konsequenz der Tatsache, dass es unmöglich ist, Wirtschaftswachstum von Materialdurchsatz – also dem Verbrauch von Rohstoffen und Energie ­– ausreichend zu entkoppeln.« Eine Postwachstumsgesellschaft sorge langfristig für den Erhalt der ökologischen Grundlagen für ein gutes Leben. Die Wachstumsrücknahme müsse dabei aber differenziert vorgehen: »Es geht um das selektive Wachstum.«
Der Wirtschaftshistoriker Schmelzer und die Kulturanthropologin Vetter arbeiten beide für das Leipziger »Konzeptwerk Neue Ökonomie«. Mit diesem Werk unternehmen sie den gelungenen Versuch, einen Überblick über die breite nationale und internationale Debatte zu geben, wie man den fatalen Wachstumszwang stoppen kann, der uns Klimakrise, Plastikmeere und schreiende Gegensätze zwischen Arm und Reich beschert hat. In ihren Augen sind »drei Zieldimensionen« des nötigen ökosozialen Umbaus der Wirtschaft wesentlich: erstens globale ökologische Gerechtigkeit; zweitens das gute Leben für alle, das soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Selbstbestimmung einschließt; drittens »Wachstumsunabhängigkeit« der Betriebe, Institutionen und Infra­strukturen.
Die größte Frage dabei lautet: ­Degrowth by design or by desaster? Kann man den Kapitalismus überhaupt dazu bringen, selek­tiv zu wachsen – also mehr Care-Arbeit, Biolebensmittel und erneuerbare Energien herzustellen – und in anderen Bereichen zu schrumpfen – also weniger Autos, Zement, Stahl und Chemie zu produzieren? Ein Patent­rezept haben Vetter und Schmelzer natürlich nicht gefunden. Aber sie raten zu einer Kombination von »Freiraumstrategien« von unten, bei denen lokale Gemeinschaften neue Ansätze ausprobieren, und »nicht-reformistischen Reformen« von oben, mit denen zum Beispiel fossile Energiekonzerne in die Knie gezwungen werden können. In ihrem empfehlenswerten Buch kommen sie zu diesem Schluss: Durchsetzen lässt sich das alles »nur mit starken Bewegungen auf den Straßen und Plätzen, in den Konzernen, Kindergärten und Kohlegruben.«

Degrowth/Postwachstum
zur Einführung
Matthias Schmelzer, Andrea Vetter
Junius Verlag, 2019
256 Seiten
ISBN 978-3060603078
 15,90 Euro

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