Titelthema

Vom Wind getragen

Leben zwischen Odervorland und Tschadsee.von Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #63/2021
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Ich reise jährlich über 10 000 Kilometer. Einmal hin, einmal zurück. Es ist nicht so, dass ich müsste, ich könnte auch bleiben. Bekannte von mir haben erzählt, ihre Beine machen das durchaus mit, sie vertrügen den Schnee ganz gut, auch diese schier ewige Kälte im Winter – möglich wäre mir das also schon. Aber ich will lieber unterwegs sein. Immer, wenn an meinem Sommernistort die Tage merklich kürzer und die Nächte länger werden; wenn der Tau morgens kühl und feucht auf den abgemähten Stoppelfeldern liegt und die Mäuse so hübsch springen; und natürlich, wenn die Kleinen so ungeduldig werden, dass sie einfach losdüsen, dann befällt mich so ein Gefühl – dass es jetzt richtig wäre, loszuziehen, nicht auf die Stare zu warten, die in großen Wolken am Himmel umherstreifen, nicht auf die Schwalben, die in Gruppen durch die Luft zwitschern. Einfach losziehen, eines Morgens, mit dem Sommerpartner, noch ein paar Runden über dem Nest gedreht, und dann fliegen, fliegen, fliegen! Wie herrlich es ist, sich in den Winden treiben zu lassen. Nach einem ganzen Frühling und Sommer Kleinfamilie, Nestbau, ewig an den Halmen herumzupfen, hier und da polstern, klappern, klappern, klappern, dann das wirklich mühsame Eierlegen und schließlich die ewige Sorge um die Kleinen: Ist es nicht zu trocken, regnet es nicht zu viel, nehmen sie auch zu? Bis sie dann endlich soweit sind, sich aus dem Nest fallen zu lassen und die ersten Runden zu drehen – ein wunderschöner Moment, der mich immer ein wenig stolz macht und mich rührt, ich gebe es zu. Aber am allerliebsten mag ich den Augenblick, in dem ich merke: Heute früh lasse ich mich einfach weitertreiben. Heute schraube ich mich nicht zur immer gleichen Sommerwiese hinunter, ich bleibe oben, oben, oben, den ganzen Tag, bis ich abends erschöpft auf einer anderen Wiese schnell ein paar Schnecken oder Frösche schlucke, mich in einem Baum zurechtsetze und mit dieser explodierend glücklichen Flugerschöpfung einschlafe. Ich mag die ersten Tage, manchmal Wochen im Spätsommer am liebsten: nur zu zweit oder zu dritt unterwegs zu sein, unter uns dichte grüne Wälder, Berge, Moore, langsam Tag für Tag alte Freundinnen und Freunde treffen, sich anklappern, gemeinsam aufbaumen.

Und dann: das Meer! Wie eine alte Freundin glitzert es verheißungsvoll unter uns – es ist immer ein wenig unheimlich, diese Meerenge zu überqueren, ich fliege lieber über Land, da kann ich mich von den Winden tragen lassen, aber es ist auch irre aufregend. Und dann kommt der gesellige Teil der Reise. Hunderte Bekannte wiedersehen, einen alten Liebhaber aus dem Vorvorjahr begrüßen, und jeden Tag in der Riesenschar Kilometer machen. Die Menschen lieben uns hier, weil wir nach Mekka ziehen, sagen sie, wie einige von ihnen es auch tun – unten allerdings, sie haben ja leider keine Flügel, die Armen. Manchmal spüre ich die Traurigkeit der Menschen, wenn sie zu mir hochschauen, darüber, dass sie sich nicht in den Wind hineinlegen können wie wir. Manche von ihnen haben Storchenstaub in den Knochen, denke ich mir, etwas in ihren Körpern erinnert sich ans Fliegen, aber sie können es nur noch im Traum.

Schön ist diese Schwarmreise, immer an den Flüssen entlang: am Jordan und am Nil, wie die Menschen diese Wasserläufe nennen. Wir sind so viele, dass die Flugzeuge, die die Menschen gebaut haben, um auch in der Luft sein zu können, uns ausweichen müssen. Nach wenigen Wochen verändert meine Reise wieder ihren Charakter: Nach und nach verlassen kleine Gruppen den Schwarm, finden ihre Wintergebiete, manche bald, ich hingegen liebe es, noch weiter zu fliegen, weiter bis zum schönsten See, den meine Augen je gesehen haben; er besteht aus vielen kleinen verzweigten Wasserläufen, an den Ufern saftiges Grün, weiter weg von seinem Wasser eine gewaltige Wüste. Riesige Krokodile sehe ich dort manchmal lauern und unzählige andere Fliegende, viele wie wir aus dem kalten Norden. Hier lässt es sich leben, ich komme zur Ruhe, stakse durch die grünen Grasbüschel.

Und dann, ich weiß nicht, wie es kommt, nach einigen Monaten erfasst es mich wieder, dieses Drängen, dass es nun genug ist mit dem See und dem ewig blauen Himmel, dass es Zeit ist, sich hoch in die Lüfte zu schwingen, wochenlang zu reisen, die anderen wiederzusehen, zum Nest zurückzukehren, zu meinem Nest – hoffentlich ist es noch frei! – und der Liebe und der Lust Raum zu geben, auf den noch winterkahlen Äckern des Nordens. Sich gemeinsam um ein Nest zu kümmern, das frische, sprießende Grün zu begrüßen, zu klappern, klappern, klappern.

Seit über zwei Jahrzehnten lebe ich nun schon so. Ich habe von einigen Bekannten gehört, die nicht ziehen. Ich könnte das nicht. Ich liebe den Wechsel aus Kommen und Bleiben, aus Elterlichsein und Freiheitspüren, aus Staksen und sich treiben lassen. Wie gut, dass ich als geflügeltes Wesen aus dem Ei geschlüpft bin.  Madame Adebar


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