Titelthema

Was gibt Sicherheit?

Warum es wichtig ist, in Zeiten der Unsicherheiten zu sehen, was ist, ohne in Ohnmacht zu verfallen – und den Grund, der uns ­sicher trägt, zu suchen.von Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #70/2022
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© Lin Haas

Wir sind es gewohnt, über Sicherheit und Unsicherheit in Gegen-satzpaaren nachzudenken: Krieg – Frieden, Angst – Vertrauen, Wohlstand – Armut, -Arbeitslosigkeit – Arbeitsplatz, Obdachlosigkeit – Behausung, Wandel – Verlässlichkeit. Aber stimmt das auch? Suchen wir am richtigen Ort nach Sicherheit? In dieser Ausgabe haben wir uns angesichts der Realitäten – um uns herum wie auch in uns drinnen – auf die Suche nach dem Grund, der uns trägt, gemacht. Wenn alles unsicher erscheint und scheinbare Gewissheiten ungewiss werden, dann ist es an der Zeit, sich auf die Suche nach einer Stabilität, die den Zeiten trotzt, zu begeben und zu fragen, wie es uns möglich wird, dennoch Halt zu finden und einander zu halten.

Wahrnehmen, was ist

Ein ganz normaler Morgen im Spätsommer: Ich machte mir einen Tee und schlug die Zeitung auf. Darin las ich, dass ein großer Süßigkeitenhersteller erklärte, die Gummibärchenmenge pro Tüte künftig bei gleichem Preis um ein Viertel zu reduzieren, der Kostensteigerung wegen. In einem anderen Artikel, illustriert mit einem Foto des ausgetrockneten Po in Norditalien, stand, dass alle europäischen Flüsse mit der Trockenheit kämpften. Auf einer halben Seite ein Bericht über tonnenweise tote Fische in der Oder, nach der Unglücksursache werde noch geforscht. Ein paar Seiten weiter eine kleine Meldung darüber, dass der Württembergische Waffenhersteller Heckler & Koch im vergangenen Jahr 40 Prozent mehr Umsatz und ein Rekordjahresergebnis von 60 Millionen Euro gemacht hat.

Eine Familie aus der Ukraine, die wir in unserem Haus im Odervorland aufgenommen hatten, hat nun im Dorf eine Wohnung gefunden. Die Mutter erzählte mir, dass ihre Wohnung in der Ostukraine inzwischen völlig zerbombt sei. Sie schluckte, als sie davon erzählte, obwohl sie es schon so oft erzählt hat.

Neulich saß ich im ICE von Österreich nach Deutschland. In Passau setzten sich alle Passagiere eine Mund-Nasen-Bedeckung auf – die Pflicht dazu besteht nur in Deutschland. Hinter Passau kontrollierten zwei bullige, blonde Polizisten einen schwarzhaarigen 14-Jährigen, begleitet von seinem gerade erst volljährigen Bruder. Die beiden mussten aufstehen, wurden ins Bordbistro eskortiert. »Racial Profiling« nennt sich diese Praxis der anlasslosen Personenkontrolle aufgrund von äußeren Merkmalen wie Haarfarbe oder Hautton. Der Ältere zeigte den Polizisten seine deutsche Aufenthaltserlaubnis. Er erzählte den Polizeibeamten, was der Jüngere hinter sich hat: Er sei in einem Auto gewesen, das beim Grenzübertritt nach Österreich einen schweren Unfall hatte; er habe einen Monat im Krankenhaus gelegen. Nun hätte er seinen Bruder abgeholt. Den Polizisten war das egal. Als ich mich einmischte und auf das Recht eines jeden Menschen verwies, nach Deutschland einzureisen, um Asyl zu beantragen, drohten sie mir mit einem Platzverweis. Barsch herrschten die beiden Männer die Jungs an, in Straubing aus dem Zug zu steigen und mit aufs Polizeirevier zu kommen. Der Jüngere würde dort eine Anzeige wegen illegalen Grenzübertritts bekommen und sofort wieder ausreisen müssen, nach Griechenland, wo er registriert worden war.

Kollabierende Systeme

Kurz vor Drucklegung war ich zur »Ars Electronica« in Linz eingeladen. Das diesjährige Motto der Großveranstaltung für digitale Kunst lautete »Planet B«. Ich hatte die Gelegenheit, mit dem Soziologieprofessor Craig Calhoun zu sprechen, der vor einigen Jahren Präsident der »London School of Economics« – einer der weltweit renommiertesten Universitäten für Wirtschaftswissenschaften – war. Auf meine Frage, ob er, der sich seit 40 Jahren intensiv mit den Funktionsweisen des globalen Kapitalismus auseinandersetzt, glaube, dass das moderne Weltsystem gerade dabei sei, zu kollabieren, antwortete er ohne nachzudenken: »Ja. Wir haben in unserem Buch ›Does Capitalism Have a Future?‹ vor einem Jahrzehnt vier verschiedene Szenarien, die zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen könnten, beschrieben. Drei davon sehen wir aktuell: Umweltkrisen, Pandemie und Krieg. Das ist das Ende des modernen Weltsystems, wie wir es kannten.« Ähnliche Überlegungen sind in dem ebenfalls vor zehn Jahren erschienenen Buch »Die Post-Kollaps-Gesellschaft« von Oya-Rat Johannes Heimrath nachzulesen.

Kürzlich frühstückte ich mit einer Bekannten aus Russland. Früher hat sie in Moskau Charity-Events organisiert. Das ist nun nicht mehr möglich, da alle unterstützenden Unternehmen ausgewiesen wurden oder ihre Filialen geschlossen haben. Sie ist eine Gegnerin von Putin und dem Krieg in der Ukraine und erzählte mir, dass Menschen, die das öffentlich äußern, derzeit nach dem Willkürprinzip jahrelang Gefängnis droht. Sie lebt nun in Wien. Wir sprachen über die Trockenheit in den Städten – darüber, wie krank viele der Berliner Kastanien sind, und darüber, wie sie ihren Eltern bei deren letzten Besuch einen See außerhalb Wiens gezeigt hat, dessen Wasserpegel zwei Meter tiefer als noch im Jahr zuvor lag. Sie wisse weder, ob und wann sie diesen See an ihrem neuen Lebensort, noch, ob und wann sie ihre Eltern in ihrer alten Heimat wiedersehen werde. »Lass uns von etwas anderem sprechen«, sagte sie mit feuchten Augen. – Nur wovon?

Die äußere Sicherheit

In dem Aufsatz »Der gemeine Frieden« von 1980 unterschied Ivan Illich (1926–2002) zwischen der »pax populi« und der »pax oeconomica«, zurückgehend auf dem Gebrauch des lateinischen Worts pax für »Frieden« im Mittelalter, vor der Bildung der Nationalstaaten: »Pax bedeutete im 12. Jahrhundert nicht die Abwesenheit von Kriegen zwischen den Fürsten. Die pax, die die Kirche oder der Kaiser garantieren wollten, war nicht die Abwesenheit bewaffneter Treffen zwischen Rittern. Pax oder Frieden bedeutete den Schutz der Armen und ihrer Subsistenzmittel gegen die Gewalt des Krieges. Der Friede wollte den Bauern und den Mönch vor den Folgen der Fehde schützen. Dies war die Bedeutung von tregna dei, Landfrieden. Er schützte spezifische Zeiten und Orte. Wie blutig der Krieg zwischen den Fürsten auch sein mochte, schützte der Frieden doch den Ochsen und das Korn auf dem Halm. Er schützte den Notspeicher, das Saatgut und die Erntezeit. Allgemein ausgedrückt, schützte der Landfrieden den Nutzungswert der Allmende vor gewalttätigen Übergriffen. Er schützte den Zugang zu Wasser und Weide, zu Wald und Flur, den Zugang derer, die ihren Lebensunterhalt unmittelbar aus der Gemeinheit zogen. Der Landfrieden war also etwas anderes als der Waffenstillstand. Diese subsistenz-orientierte Bedeutung von Frieden ging mit der Renaissance verloren.« Die in der Neuzeit mit den Nationalstaaten, der Einhegung der Allmenden und der Produktion für den Markt entstandene, von Illich so genannte »pax oeconomica« schützte hingegen die Produktion, und bedeutete damit »Krieg gegen den Brauch, die Allmende, gegen das ›ganze Haus‹«. Illich fuhr fort: »Die pax oeconomica schützt ein Nullsummenspiel. Sie sichert dessen ungestörten Fortgang. Sie zwingt alle Mitspieler, sich nach den Regeln des homo oeconomicus zu richten. Diejenigen, die sich weigern, diesem einen Modell zu gehorchen, werden entweder aus dem Spiel ausgeschlossen oder eben erzogen, bis sie passen. ›Entwicklung‹ ist der Name für die Expansion dieses Spiels: für die Vereinnahmung von immer mehr Mitspielern und ihren Ressourcen. Pax oeconomica ist nicht Menschen-, sondern Waren-Frieden. Deshalb muss das Monopol der pax oeconomica tödlich sein.«

Was also steht wirklich auf dem Spiel, wenn die gegenwärtige pax oeconomica brüchig wird? Und in welcher Verbindung zuein-ander stehen Krieg und Subsistenzalltag? Zu letzterer Frage erzählen in dieser Ausgabe Frauen aus Rojava (Seite 52) und aus der Ukraine (Seite 32).

Die innere Sicherheit

Sicherheit ist ein Grundbedürfnis: »Jeder Mensch braucht einen Schutzraum, ein sicheres Zuhause, eine Höhle der Geborgenheit, in der er weder Himmelsgewalten noch menschliche Gewalt fürchten muss«, sagt der Friedensforscher Sascha Hach im Interview (Seite 36).  Manche meinen, diesen Schutzraum könne sich jeder Mensch unabhängig von den äußeren Gegebenheiten im Inneren schaffen: indem er Sicherheit in sich kultiviere, meditiere, Traumata in sich heile. Das ist sicherlich nicht falsch, aber es erzählt nur einen Teil der Geschichte. Wie kann ich meditieren, während Bomben auf mein Haus fallen? Wenn ich sehe, wie mein Zuhause in einer Kohlegrube verschwindet, und wenn ich Heimweh bekomme, nicht weil ich die Umgebung, sondern weil sie mich verlassen hat (Seite 44)? Wenn ich fürchte, morgen ausgewiesen, vertrieben oder als Soldat eingezogen zu werden? Wie kann ich mich sicher fühlen, wenn ich nicht weiß, welche Bäume ich noch pflanzen kann (Seite 24 und 40)? – Ich zumindest bin dankbar, dass es uns möglich war, diesen Sommer in unserem Haus mehrere Holzöfen einzubauen. Wir wissen nicht, wie kalt der Winter werden wird, und mit Sicherheit werden wir nicht genug Geld haben, um alles mit Gas warm zu heizen. 

Das Notwendige

Ivan Illich schrieb auch vom Wachstums- und Entwicklungs-paradigma, das seit dem Zweiten Weltkrieg alle in der Politik tätigen Menschen – in Ost wie West – leitet: »Entwicklung impliziert grundsätzlich, vielseitige Fähigkeiten und reichliche Subsistenztätigkeiten durch Gebrauch und Konsum von Waren zu ersetzen.« Vielleicht ist es an der Zeit und vielleicht wird es auch zunehmend zu einer Notwendigkeit, diese »Entwicklung« umzudrehen. »Arbeitslosigkeit« ist ein Wort, so schrieb Ivan Illich, das erstmals 1898 verwendet wurde. Es ist ein paradoxes Wort, beschreibt es doch nicht den Zustand, ohne Arbeit, ohne Tätigkeit zu sein, sondern: ohne Einkommen. Die Politikwissenschaftler Antonio Negri und Michael Hardt schrieben vor über zehn Jahren, dass der einzige uns offenstehende Ausweg das Desertieren sei. Das bedeutet, nicht mehr mitzumachen und die eigene Energie dorthin zu lenken, wo sie jetzt gebraucht wird – und Arbeit, Tätigsein wird ja allenthalben und überall gebraucht: Kinder wollen gehütet, Bohnen versorgt, Holz gemacht, Freundinnen getröstet, Geschirr abgewaschen oder neu getöpfert, die Toilette geputzt, der Computer repariert, das Fenster gestrichen werden. Wie im Märchen von der Frau Holle rufen uns die vielen alltäglichen Sorge- und Reparaturarbeiten zu: »Kümmere dich, kümmere dich jetzt!« Wer sind wir, dass wir im Namen eines kollabierenden Gesellschaftssystems, eines ungedeckten Schecks auf eine ungewisse Zukunft, den Kindern im Hier und Jetzt, den Bohnen, dem Holz, der Freundin, dem Geschirr, der Toilette, dem Computer, dem Fenster unseren Dienst versagen, weil wir erst noch dieses und jenes für irgendeinen Chef irgendwo erledigen müssen? Im Licht der Notwendigkeiten hat Sicherheit plötzlich mit den ganz grundlegenden Dingen des Lebens zu tun: wie wir geboren werden (Seite 46), wie wir uns gesund erhalten (Seite 48), wie wir sterben (Seite 50).

Der Grund

»Goldman Sachs doesn’t care if you raise chickens« (Goldman Sachs interessiert sich nicht dafür, ob du Hühner hältst), schrieb die Politikwissenschaftlerin Jodi Dean vor zehn Jahren. Als Marxistin streitet sie für eine Revolution für mehr Gerechtigkeit und Gleichheit für alle Menschen. Dazu müsse man vor allem die Werktätigen in den Energiekonzernen von der Revolution überzeugen, belehrte mich bei einer Online-Diskussion der Politikwissenschaftler Matt Huber. Ich will mich aber nicht belehren lassen, sondern will Hühner halten – und mich schert es nicht, was die Investmentbanker von Goldman Sachs davon halten! Andere Menschen, die an Oya mitwirken, kümmert es offensichtlich auch nicht (Seite 44, 89 und 97). Ich schaffe mir dann aber doch keine Hühner an, weil meine Mitbewohnerinnen angesichts unserer knappen Kapazitäten dagegen sind. Dafür tut es eine Nachbarin und verspricht mir ab und zu ein Ei.

»Fragend schreiten wir voran«, sagen die Zapatistas seit fast 30 Jahren. Seitdem verteidigen sie den Grund, auf dem sie im Hochland von Chiapas leben, der in den offiziellen Atlanten zu Mexiko gehört, gegen Ausbeutung der Ressourcen und Einmischung, gegen den Einfall der Konsumwirtschaft und gegen die Zerstörung der Subsistenz. Oya-Rätin Friederike Habermann schenkte jüngst bei einem Treffen des »Netzwerks Oekonomischer Wandel« (NOW-NET) in Kassel ein Bild des Umweltaktivisten und Hühnerhalters Gopal Dayaneni weiter: »Das weltweite Wirtschaftssystem ist wie die gigantische Müllpresse in dem Film ›Star Wars‹. Die Wände rücken unausweichlich näher. Die Menschen in der Mitte, in den Zentren des Weltsystems in Europa und den USA, merken es erst noch nicht, die Menschen an den Rändern fühlen hingegen schon lange, wie es immer enger und enger wird. Sie versuchen, die näherrückenden Wände durch Metallstangen aufzuhalten. Doch eine Müllpresse ist eben dafür gemacht, Metall zu zerquetschen. Es wird unaufhaltsam enger – und nun spüren es auch die Menschen in der Mitte.« Ja, die Wände rücken näher, auch hierzulande.

Was also ist der Grund, auf dem wir stehen? Dafür gibt es noch kaum Worte. Deshalb haben wir einige Menschen aus dem Oya-Umfeld, die sich mit Fotografie befassen, gebeten, uns von ihren Bildern solche zu schicken, die zeigen, auf welchem Grund ihre Füße stehen (Seite 66). Die Hinwendung zu dieser »Grundsicherheit«, zum stofflichen Boden, der uns trägt, zu den Aufgaben im Hier und Jetzt sind rückversichernde, in sich selbst zutiefst sinnhafte Gesten, die in Zeiten der Erschütterung Halt geben können, ganz egal, was da noch kommen mag. //

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