Titelthema

Fährten egalitären Zusammenlebens

Warum wir uns auf eine Spurensuche nach nährenden Seinsweisen in Zeiten des Spätpatriarchats begeben – und was Bären damit zu tun haben.von Lara Mallien, Matthias Fersterer, Anja Marwege, erschienen in Ausgabe #62/2020
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© gausai.com

Warum haben wir inmitten von manchmal übermächtig wirkenden spätpatriarchalen Strukturen eine Ausgabe über matriarchale Gehversuche gemacht? Matriarchale Prinzipien sind ein tief in die Menschheitsgeschichte eingebetteter Weg des lebensfördernden Zusammenlebens auf der einen Planetin. Von jedem Krabbelkind, das begierig dem nächsten Fähigkeitenschub zustrebt, lässt sich lernen: Gehversuche – und seien sie noch so anfänglich und unbeholfen – sind wichtig!

Wie unsere Recherche nahelegt sind die vielversprechendsten matriarchalen Ansätze entweder über Jahrtausende gewachsen oder aber in der Gegenwart in kriegerischen Zuständen aus dem Bedürfnis, dem Leid und der Gewalt ein Ende zu setzen, heraus entstanden. Unter welchen Bedingungen können jedoch aus »friedlichen« Verhältnissen matriarchale Lebensweisen entstehen? Immer wieder zeigen sich solche Impulse im scheinbar Kleinen – in nährenden, sorgenden Beziehungen zwischen menschlichen und mehr-als-menschlichen Beteiligten: zwischen Müttern, Vätern, Freundinnen, Großeltern, Kindern, zwischen Menschen, Tieren, Landschaften.

In der vergangenen Ausgabe »Matriarchale Perspektiven« kamen Frauen aus heute existierenden matriarchalen Gesellschaften zu Wort. Wir haben matriarchale Wurzeln in der europäischen Geschichte sichtbar gemacht und hier und heute – etwa in urbanen, queeren Familien – nach herrschaftsfreieren Lebensformen gesucht. Ausgehend von der modernen Matriarchatsforschung fanden wir Gemeinschaften – zusammengenommen mehrere Millionen Menschen –, deren Zusammenleben wesentlich durch matriarchale Prinzipien geprägt ist. Das war ermutigend! Die Ausgabe endete mit der Frage: »Was folgt aus all dem für unser Leben im Hier und Jetzt?« Was können wir aus diesem viel zu wenig beachteten Wesenszug der Menschheitsgeschichte und aus diesen gelebten Praktiken hier und heute für unsere Überlegungen hinsichtlich des guten Lebens für alle -lernen?

Von dort aus konnten wir uns nur noch tastend voranbewegen – Wege zu egalitärem Zusammenleben sind nicht vorgezeichnet, sondern können vor dem Hintergrund unserer patriarchalen Geschichte nur in »pfadlosem Land« gefunden werden.

In diesem Sinn nahmen wir die Fäden aus der letzten Ausgabe auf: Während wir uns mit vielfältigen queeren Haltungen und moderne matriarchale Perspektiven auseinandersetzten, erschien es uns fruchtbar, beide einander näher zu bringen (Seite 22). Wir erkundeten post-patriarchale Beziehungsweisen (Seite 40) und fragten, wie wir mit dem patriarchalen Erbe umgehen können (Seite 36). Wir setzten die Reise zu existierenden Matriarchaten fort, und lassen Wilhelmina Donko, die den westafrikanischen Fante angehört, zu Wort kommen (Seite 64). Unter ähnlichen Bedingungen wie im nord-ost-syrischen Jinwar (siehe Oya 61) entstand das kolumbianische Frauendorf Nashira (Seite 28). Und wir wagten, aus der Perspektive des dem Lebendigen zugewandten Matriarchalen einen Wirtschaftszweig unter die Lupe zu nehmen, der gegenwärtig massive Zerstörung und Ausbeutung verursacht: die Metallindustrie (Seite 48).

Das nach wie vor wirkmächtige Erbe des Patriarchats klingt bei dieser weitverzweigten Spurensuche in vielen Tönungen an. Wie gehen wir mit all den »zivilisatorischen Errungenschaften« um, die ja auch Nebeneffekte aus 6000 Jahren Patriarchat sind? Immerhin sind auch diese ein Teil des Sediments, auf dem wir wachsen. Während wir nach Möglichkeiten suchten, an ein viel älteres menschheitsgeschichtliches Erbe – das auch heute in vielfältigen Formen und Ausprägungen existiert – anzuknüpfen, fanden wir neben vielem Anderen – Bären!

Seit Jahren folgt der Fotograf Gauthier Saillard (Seite 67) ihren Fährten. Auch die finnische Mythenforscherin Kaarina Kailo (Seite 44) erzählte von Bären als Inbegriff der Verbundenheit zwischen Menschen und der mehr-als-menschlichen Welt – als essenziellem Bestandteil unseres kollektiven Geschichtenschatzes, der uns daran erinnert, woher wir kommen: Wir sind lebendige Wesen in einer lebendigen Welt und ohne elterliche Fürsorge und Einbettung in ein großes Ganzes, hätten wir die evolutionäre Reise bis hierhin nicht bewältigen können. Aus der »zottigen Nacht« -(Ingeborg Bachmann), die die witternde Bärin auf dem Titelbild und die nährend-schützende Bärenmutter links verkörpern, spricht eine unzähmbare Urgewalt, die vielleicht auch der Gewalt patriarchaler Strukturen etwas entgegensetzen kann.  

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