Gesundheit

Heilung ertanzen

Ein Kindertanzprojekt in Liberia hilft, Kriegstraumata zu überwinden.
von Annette Drews, erschienen in Ausgabe #20/2013
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Liberia ist die älteste afrikanische Republik und neben Äthiopien der einzige Staat des Kontinents, der auf eine ununterbrochene Unabhängigkeit zurückblicken kann. Doch das westafrikanische Land, in dem gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele befreite Sklaven aus den USA angesiedelt wurden, hat eine blutige Vergangenheit. Politische und wirtschaftliche Krisen sowie die Auseinandersetzungen zwischen den Nachkommen der Sklaven und verschiedenen einheimischen ethnischen Gruppen führten 1989 zum Ausbruch eines vierzehnjährigen Bürgerkriegs, der über 100 000 Menschen das Leben kostete. Viele Liberianer flohen in die umliegenden Länder und leben teilweise bis heute im Exil.

Die Tänzer des ehemaligen nationalen liberianischen Balletts sind Teil dieser Geschichte. Ich traf sie 2005 zum ersten Mal in Togo. Nach einem Raubüberfall war ich mittellos und konnte nicht mehr im Hotel bleiben. Oldman Morris und Shara Taylor nahmen mich ohne viel Aufhebens freundlich in der Lehmhütte auf, die ihnen von der Hotelleitung »gratis« zur Verfügung gestellt wurde. Sozusagen gratis: Jeden Mittwochabend führten die jungen Künstlerinnen und Künstler als Gruppe mit dem Namen »Lonestar Calebash« ihre atemberaubende After-Dinner-Show auf: Feurige Tänze, bei denen die Füße sich schneller bewegen, als die Augen folgen können, und so den Eindruck erwecken, als schwebten die Tänzer über dem Boden. Folkloristische Tänze auf Stelzen mit furchterregenden Masken, messerscharfe Kabaretteinlagen und Theaterstücke voller Weisheit und Humor – all dies und noch viel mehr wartete auf die zuschauenden Hotelgäste. Nach dem dreistündigen Auftritt durften die Tänzer um eine Spende bitten. Der eingenommene Betrag reichte meistens für zwei Essen pro Tag bis Sonntagabend. Mehrere Stunden täglich probten die acht jungen Männer und zwei Frauen am Strand. Auch am Montag und Dienstag, den »Fastentagen«. Nur am Mittwochmorgen übten sie nicht, um Kraft für den Auftritt zu sparen. Die jungen Menschen klagten nie, sie schienen gerne ihre kargen Mahlzeiten und den kleinen Raum mit mir zu teilen. Trotz Hunger wurde viel gelacht. Nur wenn es irgendwo ein lautes Geräusch gab, wie zum Beispiel den Aufprall eines heruntergefallenen Gegenstands, zuckten die Körper zusammen, und mindestens drei Männer versuchten, unter dem einzigen Tisch in der Hütte Zuflucht zu finden. Ich schaute in die schreckerstarrten Gesichter und weit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen meiner Freunde, mit denen ich eben noch gesellig geplaudert hatte, und konnte nur ahnen, dass dieses Verhalten wohl etwas mit ihrer Vergangenheit als Kindersoldaten zu tun hatte.

Im Exil
Den Begriff »posttraumatische Belastungsstörung« kannte ich damals noch nicht. Tief berührt von der unbändigen Lebensfreude der jungen Liberianer, die das Schicksal nicht zu trüben vermochte, versprach ich ihnen, sie in ihrer Heimat zu besuchen, sollten sie jemals dorthin zurückkehren. Ich wollte sie darin unterstützen, durch Tanz und Musik Heilung in ihr Land zu bringen!
Im Juni 2011 war es so weit: Oldman und einige Mitglieder von Lonestar Calebash kehrten in ihre Heimat Zwedru in der Provinz Grand Gedeh zurück mit dem Wunsch, Kindern das kulturelle Erbe ihrer Vorfahren in Form von Tanz und Musik weiterzugeben. Da in den Kriegswirren kulturelle Aktivitäten vernachlässigt worden waren, hat heute in Liberia kaum noch jemand Zugang zu indigenen kulturellen Ressourcen, die dem herrschenden westlichen Idealbild entgegengesetzt werden könnten. Durch die Vermittlung von Tänzen, Liedern und Rhythmen aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen soll auch die Vielfalt des liberianischen Kulturguts bewahrt werden. Obwohl nicht explizit formuliert, werden bei dieser Arbeit auch wichtige Ziele aus personen­zentrierten Therapieansätzen verfolgt, so die Förderung eines positiven Selbstbilds, das Entdecken und Ausschöpfen der eigenen Ressourcen, soziale Zufriedenheit und die Entwicklung eines eigenen Wertesystems. Besonderes Augenmerk liegt auf der Selbstachtung, die den Grundstein für jegliche Entwicklung und Entfaltung bildet.
Oldman und seine Mitstreiter sind selbst vom Kriegsgeschehen körperlich und seelisch traumatisiert. Das Weitergeben ihres Wissens und vor allem die tiefe Beziehung, die sie dafür mit ihren Schülerinnen und Schülern eingehen müssen, fördert auch ihren eigenen Heilungsprozess. Positive Eigenschaften wie Respekt, Vertrauen und Wertschätzung nähren und unterstützen nicht nur die Kinder, sondern auch sie selbst. Durch den therapeutischen Aspekt ist das Projekt selbst die Veränderung, die es bewirken will.

Erste Schritte
Im November 2011 reiste ich nach Liberia – im Gepäck die Zusage des Vereins »Afrika macht Schule e. V.«, ein tanztherapeutisches Projekt für fünfzehn Kinder zu finanzieren, inklusive je einer Mahlzeit nach dem Training. Die auf zwei Jahre angesetzte professionelle Ausbildung sollte den Kindern auch zu einer beruflichen Existenz verhelfen. Wie ambitioniert dieses Ziel unter den gegebenen Rahmenbedingungen ist, wurde erst in der folgenden Zeit deutlich, als Absprachen nicht eingehalten und Gelder anderweitig ausgegeben wurden. Bis heute durchlebt das Projekt immer wieder Unterbrechungen und Wechsel der beteiligten Personen.
Oldman hatte in seinem Viertel eingeladen, und vor seinem Haus waren ungefähr 40 interessierte Kinder versammelt. Er spielte die Djembe und organisierte den Unterricht. Shara war der Vortänzer und korrigierte individuell, Moses spielte die Bassdrum. Die erste Übung war das »Laufen«, bei dem die Beine abwechselnd nach hinten ausgestreckt und die Hände über Kreuz nach oben geschwungen werden. Anschließend kamen erste Rhythmus­elemente hinzu: je zweimal Klatschen links und rechts, noch einmal rechts, links und rechts, dann in die Luft springen und tief verwurzelt stehen. Bald wurde deutlich, dass die kleineren Kinder mit diesen Koordinationsaufgaben überfordert waren.
Die Auswahl geschah auf eine liebevolle und sanfte Art und Weise. Kein Kind brauchte das Gefühl zu haben, versagt zu haben. Die älteren meisterten die erste Aufgabe rasch. Aber bei den darauffolgenden komplexeren Tanzschritten sah man auch ihnen die enorme Anstrengung und den bei Misserfolg aufkommenden Selbstzweifel an. Die zwölfjährige Diamond verlor schnell den Mut, als sie immer wieder korrigiert wurde.Erschwerend kamen kritische Bemerkungen und Spott der umstehenden Erwachsenen hinzu. Oldman bat die Kinder, sich ausschließlich auf sich selbst und ihr eigenes Tun zu konzentrieren und die Außenwelt zu ignorieren, was den meisten interessanterweise nach ein- oder zweimaliger Aufforderung mühelos gelang. Bei sich selbst angekommen, verschwanden alle Zeichen von Angst und Anspannung aus den Gesichtern, und sie begannen, von innen heraus zu strahlen. Auch hatte diese zentrierte Haltung einen positiven Effekt auf den Lernerfolg. Wenn die Grundbewegung »saß«, konnten sich die meisten Kinder in den Rhythmus der Trommeln fallen lassen und mit ihm eins werden. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Verbindung von Musik und Körperbewegung sehr ästhetisch wirkt, ist der selbstvergessene »Flow« zutiefst heilsam. Bewertende Gedanken über sich selbst kommen in diesem Zustand zur Ruhe. Die Fokussierung auf das Tanzen erlaubt es den Kindern, sich auf neue Weise wahrzunehmen. Als fast alle mindestens ansatzweise den Flow-Zustand erreicht hatten, baute Oldman eine kleine Choreographie auf, die die Kinder mühelos umsetzten, und alle freuten sich über diesen Erfolg.
Zum Abschluss hatte ich für alle ein Stückchen Brot und eine Schüssel Brei vorbereitet, den die Kinder hungrig und dankbar verspeisten. Wer wollte, bekam ein zweites Mal. Alle wollten. Was noch übrig war, wurde an die zuschauenden Kinder verteilt.

Heilkraft der Bewegung
Auch wenn die Jungen und Mädchen, die an diesem Tag ihre ersten Tanzerfahrungen gesammelt hatten, in Friedenszeiten geboren wurden, leiden viele von ihnen an denselben Symptomen wie ihre direkt traumatisierten Eltern. Unvermittelte Panikreaktionen und eine sehr leicht und heftig aufflammende Aggression zeugen von unverarbeiteten Gewalterfahrungen. Während ein Kinderstreit in Deutschland normalerweise einen längeren Wortwechsel beinhaltet, bevor physische Gewalt ausgeübt wird, fällt bei den liberianischen Kindern die verbale Auseinandersetzung weg. Die Angriffe sind von einer mir vorher nicht bekannten Heftigkeit und lösen sofort einen Gegenangriff aus. Auch beim Erlernen der Tänze gibt es immer wieder Gewaltausbrüche zwischen den Kindern. Manchmal ist es sogar die Musik selbst, die aggressive Reaktionen auslöst.
Bei Lonestar Calebash ist die Verbindung zu traditionellen afrikanischen Heilungsritualen sehr präsent. Tanz, Gesang und die vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrern und Kindern bilden den Rahmen, in dem heilsame Prozesse stattfinden können. Die Tänzerin Pina Bausch beschreibt das Tanzen als Ausdruck, wenn die Sprache versagt. Traumatische Erfahrungen werden neurologisch in den älteren, vorsprachlichen Gehirnzentren gespeichert. Wenn die Sprache also die Verzweiflung über das Erlebte nicht auszudrücken vermag, bleibt dem Menschen der Tanz.
Eine besondere Bedeutung kommt in der Tanztherapie den Überkreuzbewegungen zu. Ist ein Kind motiviert, komplexe Bewegungsabfolgen zu erlernen, die das Koordinationsvermögen herausfordern, muss es sich automatisch auch mit den körperlichen Verspannungen auseinandersetzen, die durch die Traumatisierung entstanden sind. Durch die konzentrierte Aufmerksamkeit auf ein neues Bewegungsmuster, das beständig wiederholt wird, bilden sich neue Verschaltungen im Gehirn. Alte Angstprogramme, die im Körper gespeichert sind, können sich auflösen, ohne dass die Inhalte ins Bewusstsein zu treten brauchen.
Ein weiteres wesentliches Bewegungselement ist das Fallen. Im Tanzprogramm lassen sich die Jungen gerade nach hinten fallen, fangen sich erst mit einer Hand hinter dem Rücken ab und sichern im Folgenden ihr Gleichgewicht mit der zweiten Hand. In einer Art Tischposition tanzen sie mit ihrem Rumpf parallel zur Erde. Auch Gleichgewichts- und Fallübungen ermöglichen einen direkten körperlichen Kontakt mit traumatischen Erfahrungen und tragen zu deren Überwindung bei.
In Paar- und Kreistänzen machen die Kinder die Erfahrung, eine Herausforderung gemeinschaftlich zu meistern. Sich selbst offen zu zeigen und gleichzeitig die anderen akzeptierend und aufmerksam wahrzunehmen, um so zu einem gemeinsam geschaffenen körperlichen Ausdruck zu kommen, stärkt sowohl das Selbstvertrauen als auch das Vertrauen in die anderen.
Grundlage der pädagogischen Arbeit bei Lonestar Calebash ist die bewusste Absicht, die Kinder bedingungslos zu akzeptieren und sie nach besten Kräften in der Entfaltung ihres Potenzials zu unterstützen. Diese positive Zuwendung bietet Halt in Momenten, wo negative Gefühle und belastende Persönlichkeitsanteile an die Oberfläche kommen. Bei einigen Kindern treten solche Hemmungen gelegentlich auf, bei anderen, wie etwa Lovetee, dem größten Mädchen der Gruppe, durchgängig. Oldman nimmt das sehr wohl wahr, hat aber die Weisheit, es nicht persönlich zu thematisieren. Stattdessen wendet er sich an die Gruppe als Ganze und führt ein kraftloses, uninteressiertes Abarbeiten der korrekten Tanzschritte vor. Dabei fragt er: »Können Leute so Freude an eurem Tanz haben?« Alle lachen. »Nein! Ihr müsst alles geben, was ihr habt! Ihr müsst alles, was in euch ist, ausdrücken! Dann freut ihr euch, und die Leute freuen sich auch.«
Mir fällt auf, wie ähnlich die Entwick­lungsaufgaben der Menschen sind – jenseits von Alter, Herkunft und ­Lebensumständen. Ich habe großen Respekt vor dem Mut dieser Kinder, denn ich weiß, wie es sich anfühlt, an die eigenen Grenzen zu stoßen, und wie dann plötzlich aus dem Nichts her­aus eine Kraft zu fließen beginnt, die etwas von mir auf ganz neue Weise in dieser Welt zeigt. Ich freue mich mit den Kindern über diesen Triumph des Lebens!
Oldman ist davon überzeugt, dass die Tänze aus den verschiedenen Traditionen auch zum Frieden in Liberia beitragen können: »Wir lehren Tänze aus allen Regionen Liberias. So werden wir Freunde. So entsteht Frieden. Um den Tanz einer anderen Gruppe zu lernen, müssen wir uns in ihr Leben, ihre Bewegungen und ihr Denken einfühlen. Wir verstehen sie dann mit unserem eigenen Körper. Außerdem lernen wir so den ganz einzigartigen Charakter liberianischer Rhythmen kennen. Ich selbst war in Togo, Ghana und im Senegal. Ich habe auch deren Musik gelernt, die auch schön ist. Aber anders als unsere. Die anderen Afrikaner mögen die liberianischen Tänze sehr. Sie wollen sie lernen. Das können sie nur von uns. Wir haben etwas zu geben. Wir können stolz auf unsere Musik sein. Lasst uns auf unser gemeinsames Erbe schauen und die Kämpfe vergessen!«•


Annette Drews (50) ist Professorin für Sozialmedizin an der Hochschule Zittau/Görlitz, Entwicklungshelferin und Yogalehrerin. Als Coach für integrale Lebensberatung ist sie außerdem am Therapeium in Berlin tätig.


Fliegende Füße im Netz
www.youtube.com/watch?v=7STm9ttJQVs
www.buildingafricanchildfuture.weebly.com
Literatur:
• Annette Drews: Die Kraft der Musik. Afrikanische Heilungsrituale in Westafrika und in der Diaspora im kulturanthropologischen Vergleich (Brasilien, Togo, Marokko). Lit-Verlag, 2008 

• Peter A. Levine: Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. Kösel, 2012.

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