Gesundheit

Gesunde Gemeinden

Zur Aufgabe einer kommunalen Gesundheitsförderung.
von Ellis Huber, erschienen in Ausgabe #26/2014
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© Johannes Mundinger

 Jahr für Jahr zeigen die Berichte der Krankenkassen in Deutschland, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen dramatisch zunimmt. Die dadurch verursachten Fehltage von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben sich seit 2000 verdoppelt, und 42 Prozent der vorzeitigen Verrentungen erfolgten 2012 wegen seelischer Leiden. Immer mehr Menschen werden an ihrem Arbeitsplatz krank und wissen nicht mehr weiter. Hilflos diagnostiziert die Medizin einzelne Symptome. Selbst kreative Therapeuten kommen an ihre Grenzen.
Depressionen, Ängste, Burnout, Bluthochdruck, Rückenschmerzen, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome und die vielfältigen chronischen Gebrechen sind keine Organversagen des Individuums. Sie kennzeichnen vielmehr die Störung des ­sozialen Bindegewebes in Unternehmen und Gesellschaft. Vor allem sensible und gewissenhafte Menschen zerbrechen unter dem Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Lebenswelten sind entscheidend dafür, ob Menschen fett oder depressiv, süchtig oder schmerzgebeutelt sind, sich falsch ernähren oder sich zu wenig bewegen.
Es geht bei ärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung heute immer auch um menschliche Würde, um soziale Anerkennung, ganzheitliche Lebensberatung, Sinnstiftung und erfüllende Arbeit. Wenn kranke Menschen eine Lebensperspektive entwickeln können, einer Arbeit nachgehen, die ihnen Bedeutung gibt, und soziale Teilhabe erleben, sind Schmerzen und Einschränkungen besser zu bewältigen.
Im neoliberalen Zeitalter wird die Medizin dafür zuständig, Wunden zu heilen, die ein entfesselter Finanzkapitalismus schlägt. Ich plädiere daher für ein soziales Gesundheitssystem, das Prävention und Gesundheitsförderung vor Ort – in den Gemeinden – Städten und Landkreisen anpackt und ausbaut.

Virchows soziale Botschaft
Rudolf Virchow (1821–1902) wird als Begründer einer streng naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin gefeiert. Viele Schulmediziner wollen nicht mehr wahrhaben, dass Virchow als politischer Arzt aktiv war. Er verlangte von seinem Berufsstand und der Medizin, dass sie für zwei Bereiche sorgen: »Für die Gesellschaft im Ganzen durch Berücksichtigung der allgemeinen, natürlichen und gesellschaft­lichen Verhältnisse, welche der Gesundheit hemmend entgegentreten. Für das einzelne Individuum durch Berücksichtigung derjenigen Verhältnisse, welche das Individuum hindern, für seine Gesundheit einzutreten.«
Auch die heutige Berufsordnung der Ärztinnen und Ärzte fordert gesellschaftliches Engagement: »Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft.« Medizin muss sich also politisch einmischen und für gesundheitsförderliche soziale Verhältnisse ebenso eintreten wie für die individuelle Gesundheit der Menschen. Ärztekammern wie Kassenärztliche Vereinigungen haben die Aufgabe einer praktischen Sozialmedizin völlig verdrängt. Den staatlichen Sicherstellungsauftrag für die medizinische Versorgung verstehen die Kassenärztlichen Vereinigungen als Kampf um Honorare und nicht als Sorge für die Gesundheit der Bevölkerung.
In seiner für die Schulmedizin wegweisenden Zellularpathologie beschreibt Rudolf Virchow den menschlichen Organismus als einen »republikanischen Zellenstaat«. So wie die einzelne Zelle als ein autonomes Individuum für den gesamten Organismus tätig sei, müsse auch der einzelne Bürger in seinem Verhältnis zum Gemeinwesen gesehen werden. Der Pathologe sah individuelle Krankheit mit den Lebensbedingungen, dem Bildungsangebot, den Wohnverhältnissen und der sozialen Kultur der Gesellschaft verknüpft. Politik sei Medizin im Großen. Der Medizinsoziologe­
Hans-Ulrich Deppe steht in dieser Tradition, wenn er schreibt: »Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar«. Kulturell kreative Medizin mischt sich daher in den politischen Diskurs ein und sorgt für Lebenswelten, die gesunde Verhältnisse fördern und zu gesundheitsdienlichem Verhalten befähigen.

Gesundheit ist individuell
Dieses Anliegen lag auch dem »Deutschen Gesundheitstag« zugrunde, der 1980 in Berlin als Gegenpol zum Deutschen Ärztetag ins Leben gerufen wurde. Hier fanden sich Vertreter einer neuen Gesundheitsbewegung zusammen, die sich durch soziale Verantwortlichkeit und eine andere Umgangsweise mit gesundheitlichen Problemen auszeichnete. Im Vorwort zur Programmbroschüre hieß es: »Wir weigern uns, Gesundheit als Ziel zu definieren, das von uns stellvertretend für andere gesetzt wird. Es gibt viele Arten von Gesundheit, wie Formen von Schönheit oder Glück; genauso gibt es viele Wege zur Gesundheit und verschiedene Formen des Widerstands gegen deren Bedrohung. Wir finden unseren Weg in unserem Alltag: Wir überwinden die Grenzen oder die Konkurrenz zwischen den Berufsgruppen und die Entfernung zwischen Experten und Laien. Wir lernen voneinander und helfen uns gegenseitig.«
Auf internationaler Ebene fordert die Ottawa Charta der Weltgesundheitsorganisation von 1986 eine neue Gesundheitspolitik: »Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben, ­sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.«
Eine solche Gesundheitskompetenz beinhaltet die Fähigkeit, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken: zu Hause, in der Gemeinschaft, am Arbeitsplatz, im System der medizinischen Versorgung, beim Einkaufen und im sozialen wie politischen Umfeld.
Gesundheit wird zudem gestärkt – und alle Krankheiten werden besser bewältigt – wenn Menschen eine innere Haltung besitzen, die etwa so beschrieben werden kann: Ich bin den Herausforderungen meines Lebens gewachsen, kann sie meistern und bin dabei nicht allein. Es ergibt Sinn, was ich tue, und ich blicke zuversichtlich in die Zukunft. Menschen, die achtsam miteinander umgehen, zusammenhalten und Probleme gemeinsam lösen, sind gesünder und meistern ihr Leben leichter. Die Arzneien der Zukunft sind also Bildung, Teilhabe und Gemeinschaft.

Bürgerkompetenz für Gesundheit
Schätzungsweise 80 Prozent aller Angelegenheiten, die Bürgerinnen und Bürger mit dem »Staat« in Verbindung bringen, werden auf kommunaler Ebene geregelt: von Baugenehmigungen über Kindergärten und Schulen bis zu Freizeitangeboten und dem Umweltschutz. Kommunale Lebenswelten entscheiden darüber, ob und wie Menschen gesund auf die Welt kommen, darin möglichst lange und gut leben können, bei Krankheit und Gebrechen angemessene Hilfe erhalten und dann in Würde sterben dürfen. Kommunale Gesundheitspolitik sorgt für die Gesundheitskultur vor Ort.
Bewegungsmangel ist nicht nur ein Problem moderner Arbeitsplätze, sondern auch ein Problem des Schulwegs, der Schulen selbst, der Verkehrswege, der Städteplanung und der Finanz- oder Wirtschaftspolitik. Die Arbeitsstätten sind auch Sozialisationsräume für individuelle Gesundheitskompetenz. Bei der Prävention von chronischen Krankheiten sind soziale Integration, Chancengleichheit, Bildung und soziale Teilhabe von entscheidender Bedeutung. Gesundheitliche Chancengleichheit betrifft alle, vom Neugeborenen mit Migrationshintergrund über bestausgebildete Leistungsträger bis hin zum alternden Mitbürger an der Schwelle zur Demenz.
Menschen, die sich als kompetent erfahren, die soziale Resonanz finden und die bei Entscheidungen mitwirken können, sind weniger krank. Umgekehrt steigen Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit in der Bevölkerung deutlich an, wenn das gesellschaftliche Bindegewebe unter Spannung steht. Ein kommunales Gesundheitssystem sollte also subsidiäre Solidarität verwirklichen und das Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger auf eine gesundheitsdienliche Weise kultivieren.
Der gesellschaftliche Strukturwandel wird in den Kommunen am deutlichsten sichtbar - und zwar gerade in den städtebaulich, sozial und wirtschaftlich benachteiligten Quartieren. Langzeitarbeitslose und schlecht ausgebildete Jugendliche fallen dort auf und brauchen Hilfe. Der bundesweit aktive Kooperationsverbund »Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten« unterstützt konkrete Projekte der kommunalen Gesundheitsarbeit. Auf einer Internetplattform bietet er zudem eine Fülle von Anregungen zur Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen, für Arbeitslose und für Ältere sowie zu Gesundheit im Quartier. Mehr als 3000 Initiativen sind hier gelistet, die als Vorbild für Aktivitäten in der eigenen Gemeinde nützlich sein können.

Kommunale Gesundheitspolitik
Im Zusammenwirken von Krankenkassen, den Sozialleistungsträgern, einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft und kommunaler Selbstverwaltung können wir gesündere Lebenswelten verwirklichen. Ein Meilenstein in diesem Aufbruch ist die »Empfehlung der kommunalen Spitzenverbände und der gesetzlichen Krankenversicherung zur Zusammenarbeit im Bereich Primärprävention und Gesundheitsförderung in der Kommune« vom Mai 2013:
»Die Qualität von Bildung und Erziehung, berufliche Anforderungen und Belastungen, die Integration in den Arbeitsmarkt und die soziale Teilhabe, die Einkommenssituation einschließlich des sozialen Schutzes gegen Verarmung sowie die Wohn-, Verkehrs- und Umweltbedingungen beeinflussen nachhaltig das Risiko, zu erkranken, und die Chancen, gesund zu bleiben. Diese Determinanten wirken auch auf die individuelle Fähigkeit und Bereitschaft ein, Verantwortung für das persönliche Gesundheitsverhalten zu übernehmen.«
In Analogie zu Stadtentwicklungs- oder Bebauungsplänen und vergleichbar mit den Empfehlungen der Agenda 21 bieten sich auch Gesundheitsentwicklungspläne als Instrumente für Veränderung und Innovation an. Sie sollten Probleme aufzeigen, die örtlichen Ziele festlegen, Maßnahmen beschreiben und über die Ergebnisse regelmäßig berichten. Die öffentliche Diskussion und die Beschlussfassung in den kommunalen Parlamenten machen Gesundheit zum gemeinsamen Anliegen.
Der Landkreis Reutlingen zeigt beispielhaft, wie das in die Praxis umgesetzt werden kann. Die dortige »Kommunale Gesundheitskonferenz« berät über Fragen der Gesundheitsförderung, der Prävention und der Versorgung auf lokaler Ebene, stimmt Empfehlungen ab und begleitet deren Umsetzung. Das baden-württem­bergische Ministerium für Arbeit und Soziales hat in seiner Gesundheitsstrategie Handlungsanleitungen und Umsetzungshilfen für solche kommunalen Gesundheitskonferenzen erarbeitet. Es lohnt sich, diese frei verfügbaren Konzepte zu nutzen und für eigene Vorhaben einzusetzen.
Eine zielgerichtete und systematische kommunale Gesundheitspolitik für Dörfer und Gemeinden ist noch Neuland. Sie eröffnet aber weitreichende Zukunftschancen – von der regionalen Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte bis hin zum Gesundheitstourismus. Kommunale Parlamente und Stadträte sollten also künftig Gesundheitsförderpläne und Investitionen in die Prävention so leidenschaftlich und ausgiebig diskutieren wie heute schon Bebauungspläne oder Investitionen in den Straßenbau. Das kommende Präventions­gesetz sollte finanzielle Mittel von Krankenkassen und Kommunen in regionalen Fonds zusammenführen und dadurch eine nachhaltige Gesundheitsförderung in den Lebenswelten vor Ort ermöglichen. •

 

Ellis Huber (65) studierte Humanmedizin, Germanistik und Geschichte. Er praktizierte als Arzt, war Präsident der Ärztekammer Berlin und Geschäftsführer der Krankenkasse »Securvita«. Heute engagiert sich Ellis Huber unter anderem als Vorsitzender des Berufsverbands für ­Präventologen.


Ideen zu einem gesunden Gesundheitssystem
www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
www.kreis-reutlingen.de/392
www.praeventologe.de
Literatur:
Ellis Huber, Kurt Langbein: Die Gesundheitsrevolution. Aufbau-Verlag, 2004

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