Vom solidarischen Gärtnern zur regionalen Rundumversorgung.
von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #34/2015
»Es ist, als ob eine große Gruppe zusammen einen Schrebergarten mietet und bewirtschaftet«, versucht Reinhold Vollmer eine neue Erklärung, als ich verblüfft-ungläubig auf seine Bemerkung reagiere, wonach die seit zwei Jahren bestehende 90-köpfige Gruppe um den Lindenhof ohne jede offizielle Organisationsform existiert. Kein Verein, kein Gewerbe, keine Genossenschaft; alle Subsistenzaktivitäten basierten bisher auf privaten Absprachen. Schon am Anfang unseres Gesprächs hat der 27-Jährige klargestellt, dass sich ihre »solidarische Gartenbau«-Selbstversorgung keinesfalls mit den meisten SoLaWi-Pro- jekten vergleichen lasse. Anders als bestehende Höfe, die unter dieser Überschrift mit einer Konsumentengruppe eine Form der Direktvermarktung vereinbaren, hätten sie ihr Zwei-Hektar-Unterfangen selbst gegründet. Das Land bekommt die Gruppe von einem Reitstallbetreiber südöstlich von Darmstadt kostenlos zur Verfügung gestellt. Doch auch unter dieser günstigen Voraussetzung müssen jährlich immerhin noch 80 000 Euro aufgewendet werden, um Posten wie Folientunnel, Grundabsicherung für das Gärtner-Team, Werkzeug, Lagerräume, ein Arbeitspferd oder den Gruppenraum in Frankfurt zu bezahlen. Das sind pro Nase und Monat 80 Euro – für die der zur Nase gehörige Mund rund ums Jahr feinstes bio-dynamisches Gemüse bekommt. Im Laden würde es etwa das Doppelte kosten. Ja, es geht notwendigerweise auch um Geld. Doch mir scheint: Viel weiter reichen die Tentakeln des Kapitalismus hier nicht. Reinhold hat die Sache vor zwei Jahren initiiert; als Visionär und Gärtner mit zwei Auszubildenden hat er nach wie vor eine Schlüsselfunktion inne. Den Erfolg des Projekts misst er nicht nur an Salatproduktion und Gurkenkonsum, sondern er betrachtet das Ganze als ein Experiment, als einen spannenden sozialen Prozess.
Niemand wird zum Glück gezwungen Reinhold lädt zum Mitmachen ein, knüpft jedoch keinerlei Erwartungen an die Angesprochenen. Wenn etwas nicht aus freier Entscheidung getan werde, so sein Credo, helfe auch Überredung nicht weiter. »Bei uns funktioniert alles über Freiwilligkeit und über Vertrauensverhältnisse«, sagt er. Letzteres gilt zum Beispiel auch für die Beziehung zum Landbesitzer, dem Reitstallbetreiber Wolfgang, mit dem schlicht eine verbindliche mündliche Abmachung über die Ackernutzung besteht. Wie ein Soziologe bei der Feldforschung begleitet und beobachtet Reinhold die Gruppe beim »Ringen und Begreifen dieses sozialen Organismus in der heutigen Gesellschaft«: Am Abend zuvor hat er bei einem Treffen im Frankfurter Gemüse-Verteilungspunkt wieder einmal den Eindruck gewonnen, dass die Mitstreiterinnen und Mitstreiter sein Anliegen verstanden haben und die Vision teilen.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein Der Mann mit den Rastazöpfen ist gelernter Kfz-Mechaniker, autodidaktischer Gärtner, Familienvater und experimenteller Sozialunternehmer; nebenbei geht er auch einer Berufung als Musiker und Straßenkünstler nach. Mit dem Lindenhof-Projekt möchte er Strukturen aufbauen, die im umfassenden Sinn »nachhaltig und gesundend« wirken – Strukturen, die »allen Bereichen des Lebendigen eine freie Entwicklung ermöglichen«. Reinhold hat beobachtet, dass die Arbeit am »Lebendigen« heute völlig von wirtschaftlichen Zwängen bestimmt wird. In der kapitalistischen Verwertungslogik seien Menschen, die zum Beispiel als Erzieher, Tierärztin oder eben Landwirt wirken, gezwungen, viel Kraft dafür aufzuwenden, sich bzw. die eigene Arbeitsleistung – meist mehr schlecht als recht – auf dem Markt zu verkaufen. Dadurch könnten sie sich aber nicht auf ihre wichtige pflegerische Arbeit konzentrieren – und das zeitige katastrophale soziale und ökologische Folgen. In einer wirklich lebensdienlichen Gesellschaft, so Reinholds Überzeugung, müssten in diesen Feldern wirkende Menschen finanziell abgesichert sein, um sich ganz frei auf ihre Aufgabe konzentrieren zu können. Wenn aber Staat und Wirtschaft hier nichts tun wollen, könnten doch jeweils Gruppen von Leuten mit ähnlichen Bedürfnissen die Grundsicherung übernehmen und dafür kollektiv die – von existenziellen Nöten unbeschwerte – Leistung etwa einer Hebamme oder eines Lernbegleiters genießen. Warum also nicht das, was im Bereich des solidarischen Nahrungsmittelanbaus schon ganz gut klappt, auf andere Felder übertragen? Sicherlich lässt sich darüber streiten, ob Autoreparaturen zur Arbeit am Lebendigen zählen – aber genau das hat Reinhold im Rahmen seiner Solidargruppe auch schon angeboten. Es war die Initiative dieser Gruppe, ihm eine finanzielle Grundabsicherung anzubieten, nachdem er sie monatelang mit einer Gemüse-Rundumversorgung erfreut hatte. Auch die beiden hinzugekommenen Gärtnerlehrlinge erhalten eine in der Höhe jeweils selbstgewählte Absicherung. Was die erwähnte Hebamme oder den Aufbau eines gemeinsamen Gesundheitsfonds betrifft, macht die Gruppe sich bereits Gedanken zur Umsetzbarkeit. Daneben sind ein Kindergarten sowie – eher perspektivisch – eine eigene Schule im Gespräch. Weil mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch Geist und Seele Nahrung verlangen, hatte der »künstlernde Gärtner« Reinhold schon zu einer Reihe von Kulturveranstaltungen auf dem Lindenhof eingeladen – die dann allerdings mehr von lokalen Anwohnern als von den meist entfernt lebenden Mitgliedern angenommen wurden. Diese Ideen regen meine Phantasie an. Welche Dinge oder Dienstleistungen außerhalb des Bereichs der Nahrungsmittel braucht eine größere Gruppe von Menschen regelmäßig, frage ich mich. Was davon lässt sich regional von engagierten Menschen, die für solche »Produktion« eine Grundsicherung bekommen, herstellen? Vielleicht ließen sich hier ganz neue Verbindungen mit solchen Akteuren denken, wie sie in der letzten Oya-Ausgabe im Fokus standen: den Handwerkerinnen und Handwerkern? Oder gibt es schon Solidargemeinschaften, die sich Künstler oder Dienstleisterinnen in der Gesundheitsfürsorge »leisten«?
Solidarität setzt Gemeinschaft voraus Wie können derartige Entwicklungen ihren Anfang nehmen? Eine fast hundertköpfige Gruppe, die auf mehrere Städte im Umkreis des Lindenhofs verteilt ist – das scheint mir keine ganz einfache Ausgangssituation für eine dauerhaft stabile Wirtschaftsgemeinschaft zu sein. Was kann getan werden, um das Gefühl echter Verbundenheit – das sicherlich solidarisches Verhalten erleichtert – in solch einer Gemeinschaft hervorzurufen und zu bewahren? Diese Herausforderung ist ja bereits für Ökodörfer oder urbane Nachbarschaften nicht gerade klein. Reinhold ist überzeugt, dass Menschen sich gerne für die gute Sache engagieren – und das entspricht auch seiner Erfahrung aus den ersten beiden Jahren des Lindenhof-Projekts. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Gruppe dank der Eloquenz und Visionskraft des Initiators schnell Feuer gefangen hat – doch wie lange wird das über den Zauber der Anfangszeit hinaus tragen? Früher oder später werden wohl Konflikte auftauchen, zum Beispiel wenn die nahe dem Hof wohnenden Gelegenheitshelfer es irgendwann leid werden, dass entfernt lebende Mitglieder sich nie auf dem Acker blicken lassen. Oder angenommen, die Solidargemeinschaft übernimmt demnächst die Grundsicherung einer Hebamme sowie eines Kindergärtners: Wie lange werden die Kinderlosen in der Gruppe bereit sein, ihren Teil hierzu beizutragen, wenn sie aufgrund der geografischen Distanz nur sporadischen Kontakt mit den Familien pflegen können? Reinhold macht einstweilen die Erfahrung, dass Gemeinschaft ganz einfach deshalb entsteht, weil das Land für den Gartenbau einerseits und geteilte Visionen andererseits sowohl für Erdung als auch für Inspiration sorgen. Zwischen Erde und Vision liegt vielleicht die Qualität des Miteinanders, die Herzlichkeit, die eine Gemeinschaft trägt. Um dies zu pflegen, gibt es im Lindenhof-Solidarkreis die Rolle einer »Hüterin«. Mitglied Melanie hat sich bis zu ihrem kürzlichen Wegzug darum gekümmert, dass die Kommunikation zwischen den Gärtnern und dem Rest der Gruppe im Fluss blieb; außerdem sorgte sie mit ihrer Anwesenheit bei der Gemüseausgabe für eine gute Atmosphäre in den Verteilpunkten. Wer wird wohl in Zukunft an dieser wichtigen Schnittstelle wirken? Mir scheint, dass weitere Bemühungen zur Etablierung eines echten Gemeinschaftsgefühls unter den Mitgliedern entscheidend dazu beitragen, dass das junge Lindenhof-Projekt in Zukunft noch viele Äste, Zweige, Blüten und die verschiedenartigsten – essbaren und nicht essbaren – Früchte ausbilden kann. •