Gesundheit

Häusliche Pflege in der Nachbarschaft

Selbstverwaltung zum Wohl von Patientinnen und Patienten.
von Elisabeth Voß, erschienen in Ausgabe #38/2016
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© Susen Rumposch – www.sekundenkunst.de

Zwei Krankenschwestern und zwei Krankenpfleger hatten 1981 in Westberlin die Idee zu einem alternativen Pflegekollektiv – sie wollten nicht länger entfremdet in hiera­rchischen Institutionen arbeiten, sondern selbstbestimmt ihre eigenen Vorstellungen von ganzheitlicher, menschlicher Pflege umsetzen. Es war die Zeit der Hausbesetzungen und des Aufbegehrens gegen verkrustete Strukturen, und so kamen schnell weitere Interessierte dazu. Im alternativen Kreuzberger Projektzentrum Mehringhof gründeten sie den gemeinnützigen Verein Ambulante Krankenpflege Berlin (AKB). Seit drei Jahren war dort auch Netzwerk Selbsthilfe zu Hause. Dieser noch heute bestehende politische Förderfonds gab ihnen ein zinsfreies Darlehen, und nachdem auch die Zusicherung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen vorlag, nahm der Betrieb am 1. Januar 1982 seine Arbeit auf. Im gleichen Jahr wurde das Büro in die Schöneberger Crellestraße verlegt.

Durch Selbstverwaltung mehr Zeit für Pflege
Heute kümmern sich 15 Pflegekräfte um 30 bis 40 Patientinnen und Patienten – seit vor vielen Jahren der letzte Mann das Kollektiv verließ, hat es sich ergeben, dass im AKB ausschließlich Frauen arbeiten. Die Besonderheit im Konzept ist seit der Gründung, dass alle eine dreijährige Ausbildung als Kranken- oder Altenpflegerin haben. Drei Kolleginnen haben eine Weiterbildung zur Pflegedienstleiterin absolviert, was erforderlich ist, um eine Sozialstation führen zu dürfen. Einjährig ausgebildete oder angelernte Pflegehelferinnen gibt es nicht, und daher auch keine hierar­chische Arbeitsteilung. Jede macht die ganze Arbeit: Grund- und Behandlungspflege, Hilfestellungen im Haushalt, Begleitung und Unterstützung bei der Freizeitgestaltung sowie Antragstellungen. Auch in der letzten Lebensphase sind die Kolleginnen des AKB für die Pflegebedürftigen da, wenn sie zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung sterben möchten.
Dass jede alles macht, unterscheidet den AKB von anderen Pflegediensten. Wo nur ein Verband zu wechseln ist oder Augentropfen verabreicht werden, macht sich der Unterschied nicht so bemerkbar. Deutlich wird er bei den größeren Einsätzen, wo eine hochqualifizierte Kollegin sowohl die Behandlung durchführt als auch Essen kocht und die Wohnung putzt. Sie erlebt die Pflegebedürftigen in verschiedenen Lebens­situationen viel intensiver, als wenn die einfacheren Arbeiten von einer anderen Person übernommen würden. Mit fachlich geschultem Blick kann sie so zum Beispiel beim Waschen behandlungsbedürftige Hautveränderungen erkennen, im Gespräch während der Arbeiten im Haushalt erfahren, was fehlt oder bedrückt, und Symptome von Verwirrung oder gar lebensbedrohliche Bewusstseinstrübungen frühzeitig erkennen. Notfallmaßnahmen kann sie direkt und ohne Umwege und Rückfragen einleiten. Die Patientinnen und Patienten bekommen so schneller eine notwendige Behandlung, als wenn eine Pflegehelferin erst eine examinierte Kraft hinzuziehen müsste. Doppelte Wegezeiten fallen weg, ebenso eine Reihe von Kontrolltätigkeiten.
Zeit wird auch eingespart dank der neu geregelten Anforderungen an die Dokumentation im Zug der Entbürokratisierung der Pflege. Examinierte Pflegekräfte müssen zum Beispiel nicht mehr umständlich begründen, warum sie welche pflegerischen Handlungen vornehmen und welche Defizite damit ausgeglichen werden. Darin drückt sich die Anerkennung der fachlichen Kompetenz der Pflegenden durch die Bundesregierung aus.
Selbstverwaltung braucht viel Zeit, denn es reden alle mit, und oft sind mehrere Treffen nötig, bis eine Entscheidung getroffen werden kann. Aber auch die Hierarchie hat ihren Preis, denn Kontrolle kann Arbeitsabläufe verzögern und raubt oft auch die Motivation. Der AKB ist ein schönes Beispiel dafür, wie gerade durch die Selbstverwaltung und durch die Qualifikation aller Kolleginnen Zeit gewonnen wird, die den Patientinnen und Patienten zugute kommt.

Wie gut, dass viele zuständig sind!
Viele Pflegebedürftige hätten am liebsten eine, höchstens vielleicht zwei vertraute Pflegerinnen, die sie betreuen. Der AKB arbeitet aber ganz bewusst mit vier- oder fünfköpfigen Teams, in denen sich alle im Wechsel um eine Person kümmern. Sie tun dies engagiert und liebevoll, nicht nur nach Plan, sondern gehen auf die Besonderheiten und Wünsche jedes einzelnen Menschen ein. Darüber hinaus bieten sie jedes Jahr einen gemeinsamen Ausflug an und laden alle Patientinnen und Patienten zu einer Weihnachtsfeier ein. Jedoch können und wollen sie nicht Familie oder Freundeskreis ersetzen. Stattdessen stellen sie die Vielfalt der Möglichkeiten zur Verfügung, die unterschiedliche Kontakte bieten. Die Patientinnen und Patienten wissen es nach einer Weile auch zu schätzen, dass zum Beispiel die eine so gut eincremen kann und die andere so lecker kocht. Das Wissen um die Pflegebedürftigen wird im Team geteilt, um die Kontinuität zu wahren, auch wenn einzelne Kolleginnen für längere Zeit ausfallen oder gehen.
Pflegebeziehungen sind oft ­langjährig und intensiv – und gerade darum ist professio­nelle Distanz wichtig, um sich nicht emotional zu verstricken oder in Spiralen von Abhängigkeit und Aufopferung zu verlieren. Die Frauen vom AKB achten sehr bewusst auf ihre Kommunikation. Da gibt es kein »Wie geht es uns denn heute?« oder »Was hast du denn da schon wieder angestellt?«, sondern ein respektvolles »Sie« in jeder Lebenslage. Diese Grundhaltung drückt sich auch in der Kinästhetik aus, einer Methode der körperlichen Kommunikation, die alle Kolleginnen in Fortbildungen erlernt haben. Sie ersetzt verkrampfte Anstrengung auch bei schweren körperlichen Tätigkeiten durch ein harmonisches Wechsel­spiel fließender Bewegungen, das die eigenen Bewegungsmöglichkeiten der Patientinnen und Patienten in die Pflegeabläufe einbezieht. Statt von einer Fremdeinwirkung überrascht, vielleicht sogar erschreckt zu werden, reagieren selbst demente oder extrem bewegungseingeschränkte Menschen auf Ansprache und körperliche Kommunikation mit Entspannung, teils auch mit korrespondierenden Bewegungen. Behutsam und langsam, und vor allem immer im Kontakt gelingen so selbst schwere Umbettungsarbeiten viel leichter. Für die Kolleginnen wird die Arbeit angenehmer, und sie leiden weniger unter berufstypischen Gelenk- und Rückenpro­blemen.

Gelingt der Generationenwechsel?
Im selbstverwalteten Betrieb haben alle Mitglieder gleiche Rechte. Entscheidungen werden einvernehmlich im Konsens getroffen. Immer montags ist Plenum – da geht es abwechselnd in einer Woche um kollektive Belange, in der nächsten um die Pflege. Zusätzlich gibt es Fallbesprechungen nach Bedarf. Alle arbeiten zum Einheitslohn, überwiegend in Teilzeit, 32 Stunden die Woche. Die Bezahlung entspricht etwa dem, was auch andere Pflegeunternehmen zahlen. Wenn es die Ertragslage erlaubt, gibt es Weihnachts- und Urlaubsgeld, auch das liegt in der gemeinsamen Entscheidungsverantwortung.
Einiges hat sich in den Jahrzehnten des Bestehens verändert. So rotierte anfangs die Arbeit im Büro, aber nachdem die formalen Anforderungen immer komplizierter wurden, hat das nun eine Kollegin fest übernommen. Jedoch wirken alle an den Verwaltungsarbeiten mit, zum Beispiel bei der Erstellung des wöchentlichen Dienstplans oder beim Protokollieren der Plenen. Ganz zu Beginn gab es auch ein Firmenauto, und die Patientinnen und Patienten waren über drei Berliner Bezirke verstreut. Recht bald jedoch entschied sich der AKB aus ökologischen Gründen dafür, alle Wege mit dem Fahrrad zurückzulegen und seine Tätigkeit auf die Nachbarschaft im Bezirk Schöneberg zu beschränken.
Sollte ich einmal Pflege benötigen, würde ich mich gerne den Frauen vom AKB anvertrauen. Leider liegt deren Altersdurchschnitt schon fast bei Mitte fünfzig, also altern wir gemeinsam. Ob kollektive Selbstverantwortung bei Jüngeren nicht so angesagt ist? Oder schreckt es vielleicht ab, dass die Arbeit in diesem selbstverwalteten Betrieb ein gewisses Maß an Idealismus und Sich-Einlassen erfordert? Im AKB bringt sich jede intensiv in die Beziehungen mit den Kolleginnen und mit den Pflegebedürftigen ein – erfüllend für diejenigen, die genau so arbeiten möchten, und viel mehr als irgendein beliebiger Job. Es wäre schön, wenn der Generationenwechsel gelänge und wenn es weitere ähnliche Projekte gäbe. •


Elisabeth Voß (61) publiziert, unterrichtet und berät zu Selbstorganisation und alternativem Wirtschaften.

Selbstverwaltete Pflege näher kennenlernen
www.akb-crellestrasse.de

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