Bildung

Großer Wurf mit kleinen Steinen

Der Verein »Steinschleuder« hilft beim Aufbau von Lernorten im globalen Süden.
von David Kannenberg, erschienen in Ausgabe #39/2016
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© www.steinschleuder.org

Angefangen hat alles nach der Nuklearkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl 1986. Eine Gruppe von Jugendlichen aus Bochum fuhr in das Unglücksgebiet und baute dort in Kooperation mit den Menschen vor Ort eine Krankenstation auf. Nach drei Jahren intensiver Arbeit war das Projekt abgeschlossen, aber der Impuls, diese wertvolle Arbeit weiterzuführen, war erst geboren: So wurde die Organisation »Steinschleuder – Bewegung zur Bewegung e. V.« gegründet und war bald in allen Erdteilen aktiv: zum Beispiel in Brasilien, in Irland, im Senegal, in Albanien und auf den Philippinen.
Schon während des Gründungsprozesses war klar: Unser Verein sollte von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Selbstverwaltung geführt werden und sich für die Unterstützung von lokalen Ideen und Initiativen in sogenannten Entwicklungsländern engagieren. Meistens unterstützen unsere Projekte Kinder und Jugendliche durch den Bau von Schulen, Kindergärten oder Bildungsbauernhöfen. Wir konzentrieren uns dabei auf ein konkretes Bauprojekt, um im gemeinsamen Tätigsein zusammenzukommen. Wichtig ist uns dabei, die Hierarchien flach zu halten: Der Bauleiter ist immer ein Einheimischer. Wir wollen nicht unsere Ideen und Lösungen importieren und langfristige Abhängigkeiten erzeugen; daher sind wir sehr behutsam und nutzen das Wissen vor Ort. Wesentlich für unsere Arbeit ist auch, nicht nur finanziel­le Hilfe zu leisten, sondern jedes Jahr mit einer Gruppe von Jugendlichen vor Ort zu sein und im Rahmen eines Baucamps tatkräftig am Projekt mitzuarbeiten – eine interkulturelle Lernerfahrung.

Stolpersteine, die zum Nachdenken anregen
Manchmal kommen Erkenntnisse bei ganz alltäglichen Dingen, wie etwa bei den wechselnden Küchendiensten während unseres Baucamps im Senegal. Dort haben wir mit den Senegalesinnen stundenlang den Reis für die Gruppe von 35 Leute zubereitet; ihn wieder und wieder nach kleinen Steinen abgesucht, gewaschen und über kleinen Kohleöfen im Hof gedämpft. Schon allein durch die zwangsläufige Langsamkeit dieser Arbeit wurden die Unterschiede zu unserer durchgetakteten, industrialisierten Welt deutlich, aber auch die Selbstverständlichkeit ständig verfügbarer Lebensmittel wurde erschüttert.
Ein ähnliches Gefühl stellt sich ein, wenn man feststellt, wie anstrengend es ist, ein Gebäude vom Fundament bis zum Dach in reiner Handarbeit zu bauen. Für die Schulräume in Tansania hoben wir zuerst ringförmige Fundamente aus, in die wir anschließend die Grundmauern setzten und zwischendurch immer wieder Säulen aus Beton gossen. Wegen der zugesetzten Kieselsteine wurde das Anmischen zu einem kräftezehrenden Knochenjob. Solche Arbeit verrichteten wir tagelang, so dass sich bald ein gehöriger Respekt vor den tansanischen Arbeitern einstellte, deren tägliche Beschäftigung dies ist. Neben den Gebäuden wird so auch in allen beteiligten Köpfen – in unseren ebenso wie denen unserer Gastgeber – gewaltig viel umgedacht und gelernt.

Wirkliche Begegnung
Nach einigen Tagen Baucamp löst sich meist das Gefühl auf, bloß Besucher zu sein; die Beteiligten beginnen, Teil des Alltags vor Ort zu werden, denn das gemeinsame Arbeiten mit Einheimischen und die Unterbringung in Familien sind soziale Katalysatoren: Man wird von seiner Gastfamilie auf einmal als »little brother« oder »little sister« vorgestellt, oder der Familienvater nimmt einen auf der Straße, wie in muslimischen Ländern unter Freunden üblich, an die Hand. Diese Kraft der Gemeinschaft zeigt sich auch im Feixen auf der Baustelle, beim Essen und gemeinsamen Singen.
So wie wir meist bestimmte Vorstellungen von sogenannten Entwicklungsländern haben, herrschen auch dort bestimmte Vorurteile über Europa vor. Es überrascht die Menschen vor Ort meist, wenn wir nach drei Tagen Baucamp immer noch arbeiten, statt uns touristisch zu vergnügen.
Neben dem Effekt, dass die Baucamps engen Kontakt zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen ­herstellen, ­bringen sie auch innerhalb der Steinschleuder-­Jugendlichen einen besonderen Lern­prozess ins Rollen. Zum einen wird ihnen deutlich, was sie im Alter von 16 oder 18 Jahren schon zu bewegen vermögen. Dass es möglich ist, ganze Schulen vom Fundament bis zum Dach selbst zu bauen, schafft Mut und Selbstvertrauen und wird auch nach 20 Jahren noch von vielen Ehemaligen als etwas Besonderes erinnert. Ein wohl noch größerer Lerneffekt ist, zu erkennen, dass vor Ort meist viel bessere Lösungen für Probleme existieren, als im Vorfeld angenommen wurde. Die Steine zum Bauen stellen die Einheimischen selbst her, und wenn ein Feld gegen die Einflüsse der Witterung geschützt werden soll, wissen sie am besten, welche windbeständigen Sträucher gepflanzt werden müssen. Wenn es uns wichtig ist, die Folgen der Globalisierung und des Klimawandels in den Griff zu bekommen, müssen wir dorthin gehen, wo die Pro­bleme sind; wir müssen die Menschen vor Ort fragen, was und wie etwas zu tun ist. Dieses Lernen ist so wichtig, dass wir mittlerweile sagen: Wir leisten keine Entwicklungshilfe. Wir sind diejenigen, denen in ihrer Entwicklung geholfen wird!

Reflexionsvermögen und handfeste Werkzeuge
Ein Grundsatz der Vereinsarbeit lautet: Die Projekt­ideen existieren immer vor dem Kontakt mit der Steinschleuder. Bevor wir etwa in Tansania mit dem Bau von Schlafräumen für eine Schule begannen, wussten wir: Der Schulbetrieb und das pädagogische Konzept hatten sich schon bewährt, so dass wir sicher sein konnten, nicht Ideen zu importieren, sondern das umzusetzen, was vor Ort wirklich gewollt wird und sinnvoll ist.
Genauso wichtig ist uns, dass die Gruppe nicht unvorbereitet auf die Situation vor Ort trifft. Deshalb geht den Baucamps eine intensive Vorbereitungszeit voraus. Dabei erarbeiten wir uns Wissen über das Land der bevorstehenden Reise, über seine Geschichte, Geografie, Sprache und Kultur, lernen Erste Hilfe und setzen uns mit dem Problemfeld der Entwicklungszusammenarbeit auseinander. Zu unserem Anspruch der Selbstorganisation gehört auch, dass die Teilnehmenden in die administrativen Aufgaben eingebunden sind. Flüge buchen, Visa beantragen, Infoveranstaltungen organisieren und Spenden sammeln sind nur einige der Aufgaben, die die Jugendlichen selbst übernehmen. Kein Baucamp ist wie das andere. Vieles darf und soll immer wieder neu ausgehandelt werden. Das ist zwar manchmal anstrengend, bringt aber immer wieder neue Ideen und Einsichten und macht die Steinschleuder zu einem lebendigen und pulsierenden Wesen.
Zusätzlich zu diesen »normalen« Vorbereitungen haben wir einen Kurs entwickelt, in dem den Jugendlichen praktische und emotionale Werkzeuge für ihre Baucamp-Zeit mitgegeben werden: So lernen sie Fundraising, Öffentlichkeitsarbeit und Buchhaltung ebenso wie Achtsamkeit und Empathie. Die Erfahrung menschlicher Wärme ist eines der wichtigsten Elemente des halbjährigen Kurses, der im Dezember zum zweiten Mal beginnen wird. Solche Vorbereitung kann helfen, dass Steinschleuder-Projekte nicht nur eine Form von Abenteuerurlaub in der Fremde sind. Indem junge Menschen ihre Eigenverantwortung spüren, die globalen Probleme im direkten Kontakt erleben und auch verstehen, was wir von den Lebensweisen der Menschen lernen können, die ihren Reis nicht im Supermarkt kaufen, kann die Vision einer gerechten und ökologischen Welt geweckt und wachgehalten werden. So kommen vielleicht durch einen kleinen Stein auch größere ins Rollen. •


David Kannenberg (31) ist Tischler, Soziologe, Fotograf, Bühnentechniker am Stadttheater Bielefeld und seit mehr als 16 Jahren aktiver Steinschleuderer. Er war in nahezu allen Bereichen des Vereins tätig und wird demnächst ein Baucamp in Ecuador leiten. Er dankt Johanna Fürst und Verena Heine für Unterstützung und Anregungen beim Schreiben dieses ­Artikels.


Beim Bauen in der Ferne mithelfen oder am Kurs teilnehmen?
www.steinschleuder.org
www.fairventure.de/interaktion

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