Bildung im richtigen Leben: Aus einer vielfältigen Kooperative und lernbegierigen jungen Leuten entwickelte sich im schwäbischen Dürnau die »Dorfuniversität«.von Alex Capistran, erschienen in Ausgabe #41/2016
Auf einem blinden Fleck der Landkarte liegt Dürnau. »Ein ganz normales oberschwäbisches Dorf«, höre ich einen Bewohner sagen. Ganz normal? Nein! In Dürnau sieht man nicht nur ungewöhnlich viele Menschen auf den Straßen, es ist auch ein Universitätsdorf. »Warum hast du lackierte Fingernägel?«, fragt mich Student Martin beim Abholen vom Bahnhof Bad Saulgau. Ich bin Großstädter und vornehmlich Kopfarbeiter. Für meine Woche in Dürnau habe ich mich auf Anpacken und grobe Arbeiten eingestellt, aber die Nägel verraten mich. In der Küche im sogenannten Speisehaus schräg gegenüber der Dorfkirche treffen wir auf Camilla, die wie Martin hier studiert. Gemeinsam bereiten wir Essen für die Gemeinschaft von gut 15 Menschen, die die Kooperative Dürnau trägt – ein Verbund kleiner Betriebe, darunter eine Druckerei, ein Versandhaus für Bücher, Papeterieartikel und Ökoprodukte, eine Schreinerei und ein Verlag. Mit dabei ist auch Rolf Reisiger, den immer eine Aura aus Tabakrauch und Geheimnis umgibt. Vor über dreißig Jahren ist er mit einigen anderen aus Wuppertal nach Dürnau emigriert; gemeinsam haben sie dort seither eine Gemeinschaft und zahlreiche Betriebe aufgebaut. Über die Jahre kamen immer wieder junge Leute zum Lernen, bis Rolf schließlich den offenen Rahmen der Dorfuniversität ins Leben rief: »Am Anfang hatte ich mir vorgestellt, Studenten würden zu Intensivseminaren herkommen. Dann ergab es sich aber, dass einige permanent hier studieren wollten.« Daraus habe sich dann das schöne »Zweisäulenmodell« der Dorfuni entwickelt, wie es seit gut drei Jahren besteht: Zum einen gibt es die Möglichkeit, für einen längeren Zeitraum ab einem halben Jahr im Dorf mitzuleben und zu studieren, was bisher von Martin, Camilla und Lukas in Anspruch genommen wird. Zum anderen existiert ein vielfältiges Kursangebot für kürzere Zeiträume von einem Tag bis zu einer Woche: Sprach- oder Internetkurse, Handwerkliches, Flechten von Bienenkörben, Wirtschaften oder auch eine einwöchige »Charmeschule«. Außerdem kommen immer wieder Jugendliche, die für Probleme in ihren Schulen gesorgt haben, oder Menschen, die einen Abschluss nachholen wollen und dafür in Dürnau Unterstützung suchen: »Gerade haben wir erst wieder einen 32-Jährigen aufs Abitur vorbereitet.«
Reale Herausforderungen Die für längere Zeit in Dürnau lebenden Studenten sind vielfältig in die Betriebe der Kooperative eingebunden; sie helfen beim Versand, in der Schreinerei und bei praktischen Dorftätigkeiten. Aber »Dorfuni bedeutet nicht nur: Vom Leben lernen«, meinen die drei Dauer-Studenten. »Studieren heißt für uns, intensiv an einer Fragestellung zu arbeiten und uns in die Dinge zu vertiefen«. Dazu seien viele junge Leute heute kaum mehr in der Lage, weiß Rolf aus Erfahrung mit vielen Besuchern. Ein Dorf sei gerade dafür der richtige Ort: »Alles konkrete Tun, alles Können und auch die wirtschaftliche Grundlage unserer Gesellschaft haben ihren Ursprung auf dem Land.« Camilla, Lukas und Martin kamen alle drei vom »Uniexperiment« in Stuttgart, das sich Anfang 2015 auflöste. Dort wurde in einem informellen Rahmen versucht, ein selbstbestimmtes Studium selbst auf die Beine zu stellen. »In der Vorbereitung des Uniexperiments waren sich alle Beteiligten einig, aber in der Praxis hat sich gezeigt, wie unterschiedlich die Vorstellungen waren«, rekapituliert Lukas. Camilla tat sich mit der Unfokussiertheit der Stuttgarter Gruppe und deren vorschnellen Antworten schwer, Martin hinderte die Stadtumgebung: »Man konnte nicht an echten praktischen Herausforderungen lernen, sondern nur in einer künstlichen Umgebung, die wenig Gestaltungsspielraum bot.« Wer Hand anlegen wollte, tat das nicht, weil es wirklich gebraucht wurde, sondern aus Muße: »Die Infrastruktur und die Einrichtung waren ja schon da.« In Dürnau sieht sich Martin täglich handwerklichen und ökonomischen Herausforderungen gegenüber. Seine Erzählung verschafft mir den ersten Aha-Moment: Hier steht »Wirkliches« auf dem Spiel – so wird auch ein »wirklicher« Bildungsprozess angestoßen.
Theoriefreiheit Inzwischen habe ich mich im Dürnauer Mikrokosmos eingefunden, wohne in einem schlichten Zimmer bei einem Landwirt, habe die Dorfluft verinnerlicht, kenne den Ablauf des abendlichen Essens, habe mit Kindern aus der Kooperative gespielt und auch schon angepackt: Holzhacken, Haus verputzen, Kühe melken – ich spüre meinen ganzen Körper; da geht man um neun Uhr abends ins Bett. Naja, eigentlich doch um zehn Uhr, aber die Zeitumstellung auf Sommerzeit wird in der Kooperative nicht mitgemacht. Also stelle ich meine Uhr im Telefon auf Zeitzone »Lissabon«. Hier wird versucht, radikal zu verwirklichen, was die Beteiligten für richtig halten, und dabei erstaunlich wenig auf Kompromisse und Konventionen gegeben. In ihren Publikationen und Mails schreibt die Kooperative kein »ß«, weil das, wie Camilla weiß, ursprünglich mal zwei Buchstaben waren. Steht irgendwo ein »Open Space« auf dem Programm, geht Rolf nicht mehr hin, weil er diese Form nicht gut findet. Auch im geistig-theoretischen Bereich nehme ich eine ebenso interessante wie eigenwillige Denkweise wahr: Postmoderne Ansätze, Linken- und Nachhaltigkeitsjargon oder klassische Wissenschaftstheorien finden wenig Anklang. Die Dürnauer versuchen vielmehr, sich »goetheanistisch-phänomenologisch« – also erfahrungswissenschaftlich – auszudrücken, sozusagen die Dinge selbst zum Sprechen zu bringen. Sie streben sogar »Theoriefreiheit« an, indem sie von der Wirklichkeit und nicht über abstrakte Konzepte sprechen wollen. Weil sie aber dem menschlichen Willen eine große Bedeutung beimessen, sind sie Menschen unterschiedlicher Denkweisen gegenüber sehr offen: »Der Abiturient, dem wir geholfen haben, möchte theoretische Physik studieren – das war für uns kein Problem, obwohl wir theoretische Physik nicht so gut finden.«
Die Wirklichkeit erforschen Ein Dürnauer Studium definiert sich über eine konkrete Frage, die über einen längeren Zeitraum, eingebettet in die Gemeinschaft, möglichst theoriefrei bearbeitet wird und direkte, konkrete Verantwortung und Entscheidungen implizieren sollte. Aber welche Fragen treiben die Dorf-Studiosi konkret um? Eigentlich hatte Rolf im Sinn, dass hier Natur und Wirtschaften beforscht werden würden, doch Camilla und Lukas sind vornehmlich an pädagogischen Fragen interessiert, Martin an Form und Gestaltung. Er ist daher viel »mit Händen und Füßen« auf den Baustellen und in der Schreinerei beschäftigt, wo er zum Beispiel mit dem Schreiner einen besonderen Birkenholz-Stuhl nach den Vorgaben eines Kunstprofessors gebaut hat. Die entscheidende Gestaltungsidee besteht darin, Holz, das sonst nur entlang der Maserung gespalten wird, im Querschnitt zu nutzen und anzuschleifen, wodurch ein faszinierendes Muster entsteht. Begleitend versucht er, das Wesen von Würfeln, Pyramiden und anderen platonischen Körpern aus reiner Beobachtung zu bestimmen. Wenn das Praktische oder das Intellektuelle wegfallen würden, wäre die Dorfuni keine Uni mehr, meint Rolf: »Dann wären wir so etwas wie eine ländliche Volkshochschule.« In den Herbst- und Wintermonaten sitzen die Studenten und Rolf abends oft zusammen und beschäftigen sich über Wochen mit einem Thema, zum Beispiel mit dem Begriff der Wahrnehmung oder Rudolf Steiners Menschenkunde. Im vergangenen Winter forschten sie allgemein über Ästhetik. Zentrales Organ für geistige Früchte ist die unregelmäßig erscheinende Zeitung der Dorfuni »gentle landing«, zu deutsch etwa »sanfte Landung« – ein Wink in Richtung Bodenständigkeit. Hier landen dann auch von Studenten geschriebene Beiträge aus den Feldern ihrer Forschungsprojekte. Viele Artikel drehen sich um pädagogische Fragen. Lukas schreibt kritisch über das »Abitur als Beispiel für schulische Verbildung« und möchte trotzdem Lehrer werden; allerdings nicht an einer Regelschule: Er differenziert die Begriffe Ausbildung, Wissen, Lernen und Bildung und macht sich dafür stark, dass Schüler wie Lehrer »urteilsfähig« werden, also lernen, richtig einzuschätzen, was eine Situation oder einen Menschen gerade ausmacht. Aufregend während meines Besuchs ist vor allem Lukas’ Experimentierfreude bei einem etwas speziellen Projekt: Nachts – der Vollmond scheint hell – macht er sich zum kooperativeeigenen Acker auf, um zu beobachten, wie Regenwürmer Steckzwiebeln aus der Erde befördern. Die Frage ist, ob bei Vollmond durch erhöhte Regenwurmaktivität das Zwiebelsetzen ungünstiger ist. »Darauf hat noch nie jemand genau geschaut«, erklärt Rolf und ist zufrieden und unzufrieden zugleich, denn die Ergebnisse der Forschung lassen auf sich warten. »Es dauert manchmal, bis die Erkenntnisse kommen, aber dafür haben wir sie wirklich selbst erschlossen und nicht nur irgendwo abgeschrieben.« »Wie sollte heute eine kindgemäße Schule aussehen?« lautet Camillas Forschungsfrage. Es trifft sich gut, dass sie im Büro der Kooperative an der Buchführung arbeitet, denn dabei ergeben sich mit Rolf viele informelle Gespräche, die ins Philosophische münden. Rolf sagt dazu passend: »Ich betrachte die Studenten nicht als Leute, denen ich etwas beibringen soll, sondern als Kollegen, die in manchem noch nicht so weit sind.« Camillas Frage hat sich dahingehend kristallisiert, wie heute eine Oberstufe aussehen sollte. Daraus resultierte die Idee, eine Schule in Dürnau zu gründen. »Wir fangen mit der Oberstufe an und arbeiten uns zu den unteren Jahrgängen vor«, erklärt sie. Zur Vorbereitung treffen sich in unregelmäßigen Abständen Pädagogen und andere an Bildung interessierte Menschen in Dürnau, um ein Wochenende lang über die Schulgründung zu sprechen und sich im Didaktischen zu erproben. Dafür bereitet jeder unter anderem theoriefreie Curricula vor, also erste Unterrichtsstunden, die gemeinsam abgehalten werden. Alle Oberstufenschüler sollen zunächst ein Jahr in die Landwirtschaft gehen und vor allem selbständig werden – in die Welt hinaus gehen. Alles, was die Schüler lernen, soll einen direkten Praxisbezug aufweisen. Als ich meine, dass es bis zur Schulgründung wohl noch lange dauern würde, wird mir entgegnet: »Vielleicht geht das schneller, als du denkst. Hier ist es oft so, dass die Ereignisse mit einem Mal an der Tür klingeln.«
Den Blick weiten Mit dem umzugehen, was die Welt – manchmal langwierig, manchmal urplötzlich – für einen bereithält, zeichnen Dorfuni und Kooperative aus. »Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen«, zitiert Martin den guten Schiller. Wenn die Dürnauer vom Besuch anderer alternativer Bildungsprojekte erzählen, wird deutlich, wie suspekt ihnen die Unverbindlichkeit vieler selbstorganisierter Studienversuche ist. »Viele Autodidakten geben sich nicht nur ihre Art des Lernens, sondern auch die Ziele selbst – dabei geht es doch eher darum, zu erkennen, welche Wesensgesetze die Dinge vorgeben«, meint Rolf. Ist diese Bestimmtheit eine weise pädagogische Einstellung oder bloß rurale Engstirnigkeit? Mir scheint, dass Dürnau mehr Offenheit gegenüber unvertrauten Ideen oder vermeintlich unzweckmäßigen Methoden und Strategien guttun könnte, zugleich empfinde ich das Projekt keineswegs als borniert oder weltfremd. Das geistige Niveau ist beachtlich, die vielen Außenkontakte und Exkursionen der Studenten sowie ein offener Umgang mit Medien verleihen dem Projekt eine frische Weltgewandtheit. Angesichts der unzähligen Gestaltungsspielräume bekomme ich mehr und mehr fast den Eindruck, das Dorf sei schon immer die bessere Stadt gewesen. »Kurzsichtigkeit – also die Unfähigkeit, weit Entferntes zu fokussieren – tritt häufiger in der Stadt auf«, meint Martin. Beim Abschiedsfrühstück zeigen mir die Studenten ihre erarbeiteten Materialien zu Experimenten mit dem Sehsinn. Irgendwann finde ich meinen blinden Fleck, aber die Augen sind bald müde vom Fokussieren. Ein Handwerk zu lernen, sei es das Schärfen der Sinne oder eines Messers, kostet Kraft; in Dürnau kann man durch das Augenmerk auf Konkretes wirklichen Weitblick entwickeln. Am Ende der Zeit bin ich mir ziemlich sicher, dass statt der altbekannten Kirche vielleicht doch lieber die Universität im Dorf bleiben sollte. •