Der Einstieg in die Landwirtschaft ist nicht ganz einfach. Der Haettelihof in Konstanz am Bodensee zeigt, dass es mit viel Einsatz und Leidenschaft möglich ist.von Malchus Kern, erschienen in Ausgabe #42/2017
Wer eine Landwirtschaft beginnen möchte, hat im Prinzip drei Möglichkeiten: einheiraten, kaufen oder neu gründen. In Zeiten, in denen die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe Deutschlands jährlich um mehrere Tausend sinkt, ist dies ein mutiges Unterfangen. Thomas Schumacher und Ute Elise Paluch haben die Neugründung gewagt – und würden es wieder tun. Schon mit 15 wollte Thomas Landwirt werden. Ganz zufällig kam das nicht: Thomas stammt aus einer ostfriesischen Bauernfamilie, und auch wenn seine Eltern andere Berufe hatten, so bewirtschafteten doch alle neun Geschwister seines Vaters eigene Höfe; Landwirtschaft umgab Thomas während seiner Kindheit. Als junger Mann machte er eine Ausbildung zum Landwirt, danach Zivildienst in der Landwirtschaft, gefolgt von einem Agrarstudium. Dabei merkte Thomas schnell, dass ihm das praxisferne Lernen nicht zusagte. Er sattelte um und beendete sein Studium als Diplom-Psychologe mit dem Schwerpunkt Marktwirtschaft und Kommunikationspsychologie. Dabei blieb er von der Ausbildung her freilich Landwirt. Diese Kombination an Fähigkeiten brachte ihm eine neunjährige Anstellung am Landwirtschaftsministerium in Baden-Württemberg ein. Doch so viel Politik und Verwaltung machte ihn nicht glücklich, er wollte raus. Sein Verlangen, endlich praktisch zu arbeiten und das zu tun, wovon er träumte, wurde immer stärker. Von heute auf morgen entschied sich Thomas, einen Hof zu gründen – mit Kühen, zurück zu den Wurzeln. Sehr naiv, findet er im Rückblick. Doch wie macht man das eigentlich, so ohne Tiere, ohne Land und ohne Hof? Ute Elise und Thomas wollten gerne in Konstanz bleiben, nahe bei der Stadt. Es dauerte mehrere Jahre, bis ihre Suche Erfolg hatte. Im Jahr 2000 ging es mit einem Nebenerwerbsbetrieb los. Das Grünland – oft kaum mit Maschinen bearbeitbare Feuchtwiesen – wollte damals sonst niemand haben, die beiden bekamen es günstig von der Stadt, von Kollegen und anderen Landbesitzern. Einen Traktor konnten sie gelegentlich von einem Bauern leihen, den ersten Zaun bezahlte die Stadt Konstanz als Naturschutzmaßnahme.
Erst die Kunden, dann die Kühe Fehlte immer noch eines: die Kühe. Die Neubauern finanzierten die Tiere über ein damals noch sehr ungewöhnliches Modell. In der Zeitung suchten sie nach »Kuhpaten«. Diese kauften Genussscheine, die sie bei ihren zukünftigen Fleischeinkäufen einlösen konnten. Wer eine solche Patenschaft hatte, bekam zusätzlich einen Rabatt, und so wurde das Darlehen in Naturalien zurückgezahlt. Aus anfänglich 18 Kunden sind mittlerweile 220 geworden. Dass der Betrieb biologisch-dynamisch bewirtschaftet werden würde, war für Thomas und Ute Elise von Anfang an klar. Für die Kunden spielte es keine Rolle, dass die beiden zunächst kein Siegel vorweisen konnten. Das Vertrauen war da, denn man kannte ja die Bauersleute und ihre Kühe. Später unternahm das Neubauernpaar auch einen Versuch, das Fleisch an Gastronomiebetriebe zu vermarkten. Diese wollten aber nur die edlen Teile und zu günstigeren Preisen als die Endkunden. Auch der Verkauf an eine Großküche bewährte sich nicht, da die Bestellmengen zu schwankend und unkalkulierbar waren; ein Lieferservice scheiterte an zu langen Wegen und zu kleinen Mengen. Heute verkaufen die beiden nur noch an Privatleute, die ihre Bestellung auf dem Hof abholen. Die Kunden werden vor jeder Schlachtung informiert und bestellen im Voraus; so kann nach Bedarf geplant und produziert werden – denn natürlich sind die Wünsche auch jahreszeitenabhängig. Im Sommer werden Würstchen für den Grill nachgefragt, im Winter Braten und Rouladen. Für den Fall, dass Teile übrig bleiben, gibt es im Umfeld einige Großfamilien, die alles treu abnehmen. Nach gut 16 Jahren Entwicklungszeit pflegt der Betrieb heute über 60 Hektar Grünland, hält 60 Kühe und andere Tiere. Die Stadtnähe hat nicht nur für den Vertrieb Vorteile. Es ergibt sich eine natürliche Beziehung der Kunden zum Hof, der nicht weit von ihrem Alltag entfernt ist. Seit mehreren Jahren kooperieren Ute Elise und Thomas mit dem BUND in einer Apfelsaftinitiative. Auf ihrem Land stehen nämlich über 300 Obstbäume; jedes Jahr pflanzen sie mehrere Dutzend neu. Das Obst wird gemeinsam mit den Aktiven der BUND-Ortsgruppe geerntet, der Saft aufgeteilt. Für Thomas Schumacher ist das eine willkommene Abwechslung im Betrieb und eine zusätzliche Einkommensquelle. Für die Kunden stellt der Saft ein weiteres »erlebbares« Produkt dar, das eine Verbindung vom Anbau zum Lebensmittel herstellt und die am Hof geleistete Arbeit sichtbar macht. Viele Kunden kommen täglich an den Obstbäumen vorbei. Die Pflege mehrerer Einkommensquellen ist für so einen kleinen Betrieb überlebenswichtig. So kann etwa eine schlechte Apfelernte von guten Erträgen in anderen Bereichen des Hofs abgefedert werden. Mitunter allerdings bringt die stadtnahe Lage des Haettelihofs auch Nachteile mit sich. So kam es schon vor, dass ein besorgter Bürger beim Veterinäramt anrief und – letztlich grundlos – einen Besuch des Tierarztes verursachte. Wenn wieder einmal ein Bericht über Massentierhaltung im Fernsehen läuft, sind Thomas und Ute Elise für viele Menschen die erste Anlaufstelle. Tatsächlich betrachtet Thomas Aufklärung als eine seiner Aufgaben. Der Stall steht offen, jeder kann sich den Betrieb ansehen. Das führt zu vielen guten Gesprächen – und gelegentlich zu Komplikationen mit Menschen, die wenig Ahnung von Landwirtschaft haben. Schwierig wird es auch dann, wenn der Bedarf nach Aufklärung bei besorgten Bürgern gerade dann auftaucht, wenn für den Landwirt eigentlich Dringlicheres ansteht.
Bauer = Kulturpfleger Kulturpflege ist für Thomas und Ute Elise ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Neben den Rindern gibt es auf dem Hof auch – wie Thomas es formuliert – »ein paar Hühner und ein paar Ziegen«. Wer jetzt an ganz normale Hühner und Ziegen denkt, liegt falsch, denn auf dem Haettelihof ist vieles nur auf den ersten Blick »normal«. Die drei Ziegen sind Girgentana-Ziegen, eine fast ausgestorbene Rasse, die ursprünglich aus Sizilien stammt. Vor zwei Jahrzehnten gab es weltweit nur noch 50 reinrassige Exemplare. Durch Nachzüchtung ist der Bestand mittlerweile wieder auf knapp 1000 Tiere gestiegen. Es ist eine anspruchslose, widerstandsfähige Rasse, die jedoch von Hochleistungsrassen verdrängt worden ist. Die weißen Girgentana-Ziegen haben ein eindrucksvolles Aussehen, wobei wohl am meisten die bis zu 80 Zentimeter langen, gedrehten Hörner ins Auge fallen. Obwohl die Tiere am Hof recht robust erscheinen, stammen sie doch ursprünglich aus kargeren und trockeneren Gegenden. Sie fühlen sich in den Feuchtwiesen rund um den Bodensee nicht wohl, verfangen sich mit ihren Hörnern in den Elektrozäunen, und Kindergartengruppen fühlen sich oft durch die martialisch wirkenden Tiere bedroht. Manche Dinge erkennt man eben erst nach einer Weile, darum werden Thomas und Ute Elise ihre Girgentana-Ziegen durch eine andere, ebenfalls bedrohte Rasse ersetzen. Diese kulturpflegende Arbeit liegt den beiden sehr am Herzen, auch wenn die Haltung solche Tiere keinen nennenswerten finanziellen Ertrag bringt. Direkt neben dem Wohnhaus steht das kleine, selbstgebaute Hühnermobil. Fast kitschig ist es eingerichtet, vor den Nistkästen hängen Gardinen. Die Hühner sind mehr ein Hobby, aber sie gehören zu einem richtigen Bauernhof eben dazu. Die vierzehn »Tiroler Haubenhühner« sind nicht für die Produktion da und werden auch nicht künstlich beleuchtet (was in anderen Bio- und Demeter-Betrieben üblich ist), denn diese Tiere sind Teil eines Rückzüchtungsprogramms. Tatsächlich piept es fleißig im Stall; die jungen Küken sind gerade ein paar Tage alt. Das echte Tiroler Haubenhuhn ist schon vor über 100 Jahren ausgestorben. Hier werden die Küken aufgezogen, um sie an einen anderen Betrieb weiterzugeben. Die Haettelihof-Bauern haben genug Hühner für sich selbst, acht bis zwölf Eier legen sie pro Tag – ein kleiner Beitrag zum Frühstück, als Dank für die Zuchtarbeit.
Bauer = Dienstleister Noch vieles mehr gibt es auf dem Haettelihof. Was den Ort, neben den erwähnten Besonderheiten, zusätzlich besonders macht, ist seine ausgeprägte pädagogische Ausrichtung. Es handelt sich um einen intensiv genutzten »Lernbauernhof«, auf dem jährlich allein über 120 Termine mit Schulklassen stattfinden. Dazu kommen Aktivitäten mit Kindergärten oder mit Gruppen psychisch Kranker, sowie Nachmittagsangebote für kleinere Kinder im Kindergarten- und Vorschulalter. Die Gruppen versorgen die Tiere, legen »Lern-Gemüsebeete« an und erforschen die Natur. Städtisch geprägten Besucherinnen und Besuchern wird der Lebensmittelkreislauf nähergebracht – vom Acker auf den Teller und wieder zurück.
Ist es da erstaunlich, dass ein guter Teil der Aktivitäten auf dem Haettelihof nicht in der Produktion und beim Verkauf von Lebensmitteln liegt, sondern im Bereich der sozialen Dienstleistungen? Dies ist schlicht notwendig, um den Betrieb zu finanzieren, aber es stellt auch eine Abwechslung dar. Auf diese Weise wird auch der Umgang mit den Tieren kreativ, und so viele Ressourcen wie möglich werden genutzt: Eine Kuh mit Kalb wird beispielsweise im Sommer auf dem Schaubauernhof der Insel Mainau zu sehen sein. Für die Stadt Konstanz und andere Auftraggeber erledigt Thomas diverse Holzfällarbeiten. Er hat die Maschinen zur Hand und kann die Aufträge schnell und einfach erledigen. Regelmäßig gibt es auch Hofführungen und Vorträge rund um die biologische Landwirtschaft. Man mag sich fragen, wie das alles funktionieren kann – besteht das Team doch nur aus Thomas, Ute Elise sowie einem Praktikanten. Was der ostfriesische Haettelibauer durchblicken lässt, ist eindeutig: Es ist sehr, sehr viel Arbeit, im Sommer meistens sechseinhalb Tage pro Woche. Er brauche wenig Schlaf, sagt er und skizziert seinen Tag: Morgens um fünf steht er auf und fängt den Tag im Büro an, um Mitternacht geht er ins Bett – ein bäuerlicher Arbeitstag eben. Doch lässt er auch wissen, dass das gewaltige Pensum mit einer individuellen Schwäche zu tun habe: »Ich bin nicht so der Held im Verteilen von Arbeit.« Eher sucht Thomas sich noch neue Tätigkeiten. Obwohl er mit dem laufenden Betrieb ohnehin schon viel zu tun hat, stürzt er sich derzeit in weitere Projekte, welche die biologische und ethische Tierhaltung – und alles was damit zusammenhängt – fördern sollen. Begriffe wie »Salamiprojekt« und »Hofschlachtung« fallen in unserem Gespräch. Thomas ist ein Visionär und zugleich Realist; seinen Beruf betrachtet er als Geschenk.
Bauer = Landschaftspfleger Landschaftspflege ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der täglich anfallenden Arbeit. Sie bedarf durchaus einer Menge innerer Beschäftigung. Wann wird beispielsweise das Heu eingebracht? Auf dem Haettelihof wird nicht vor Juni geschnitten, denn nur so haben Wiesenblumen genug Zeit, sich auszusäen. Neben der Erhaltung aussterbender Tierrassen widmet sich der Betrieb auch anderweitig der biologischen Vielfalt. Eine tausend Quadratmeter große Wildbienenweide bietet Platz für viele Pflanzen und Insekten. Dies geht jedoch nur mit finanzieller Unterstützung, denn einen Ertrag durch ein marktfähiges Produkt bietet die Wiese nicht. Die Kühe sind »Hinterwälder«, so heißt die kleinste Rinderrasse Europas, die für die feuchten Wiesen am Bodensee gut geeignet ist. Sie sind sehr robust und haben gute Muttereigenschaften, halten die Feuchtwiesen kurz, fressen auch das Schilf, stutzen die Hecken und können an für Maschinen unzugänglichen Stellen grasen. Für die meisten Menschen in der Umgebung ist Thomas wohl nur »der mit den Kühen«, die ungefähr alle halbe Jahre ausbrechen und die Stadt unsicher machen. Anderswo stehen Kühe ganztägig im Stall und verbrauchen Energie. Hier dienen sie nicht nur der Produktion von Fleisch, sondern auch der Landschaftspflege.
Bauer = Planer Thomas sieht den Betrieb auf einem guten Weg – und auch wenn er und Ute Elise im Rückblick wohl vieles anders machen würden, ist er überzeugt, dass sie es wieder täten. Die Haettelihofbauern sind froh, ihre Erkenntnisse jetzt an andere Hofgründer weitergeben zu können, damit diese nicht alle Fehler wiederholen müssen. Zum Beispiel hatten sie ursprünglich den Plan gehegt, noch im ersten Jahr das Wohnhaus und den Stall zu bauen, im folgenden Jahr die Heuhalle und im übernächsten das Seminargebäude mit den Ferienwohnungen. Heute stehen das Wohnhaus und der Stall – die anderen Gebäude gibt es nicht. Die eigene Kraft reichte nicht für mehr, und auch der »eigenwillige« Finanzplan machte einen Strich durch die Rechnung. Macht nichts, immerhin haben sie den Betrieb in zehn Jahren dahin gebracht, wo andere nach einer ganzen Generation stehen! Thomas empfiehlt also, mit den eigenen Ressourcen realistisch umzugehen und sich dabei auch professionell beraten zu lassen. Wichtig sei zudem, nichts zu überstürzen und zu wissen, dass so ein Projekt seine Zeit brauche. Er hat erfahren: »Träume belasten, wenn man sich zu sehr übernimmt.« Selbstverständlich wirke es sich auf die Gesundheit und das eigene Wohlbefinden aus, wenn man einen derartigen Betrieb in solch kurzer Zeitspanne aufbaue. 2015 hat Thomas den ersten Urlaub seit zehn Jahren gemacht. Mit einem Augenzwinkern meint er: »Wer immer nur arbeitet, hat keine Zeit zum Geldverdienen und zur Erholung – und beides nicht zu haben, ist schon blöd.« Dem Plan, künftig mehr Urlaub zu machen, stehen jedoch andere Pläne im Weg. Beispielsweise, dass Heuhalle und Gästegebäude doch noch irgendwann entstehen und Geld einbringen sollen. Zudem trifft Thomas sich regelmäßig mit den Demeter-Kollegen der Region. Nicht zu Kaffee und Kuchen, wie es eigentlich mal schön wäre. Nein, gemeinsam tüftelt man und gründet weitere Firmen, um besser zusammen wirtschaften zu können.
Bauer = Visionär Auf dem eigenen Betrieb steht für Thomas und Ute Elise als nächstes die Beschäftigung mit der Verwertung von Mist an. Derzeit wird der produzierte Mist lediglich abgelagert und im Herbst ausgestreut. Eine stoffliche oder energetische Nutzung kann weitere Kreisläufe schließen, denn auch die Frage der Energieversorgung will angesehen werden. Ein Betrieb wie der Haettelihof verbraucht eine Menge Strom, der auch selbst erzeugt werden könnte. Einer der Kollegen betreibt eine kleine Biogasanlage nur mit Gülle. Sie produziert genug Energie für den gesamten Bedarf des Betriebs, heizt zusätzlich die Ferienwohnungen und produziert immer noch einen Überschuss, der verkauft werden kann. Thomas träumt von einer eigenen Energieversorgung, doch Fördermittel für solche Kleinanlagen gibt es nicht. Landwirtschaft ist kein Zuckerschlecken, das war mir schon vor meinem Hofbesuch klar. Es braucht wahrlich eine große Portion Leidenschaft und Idealismus, um Landwirt zu werden! •
Malchus Kern (26) beschloss mit elf Jahren, sich ohne Schule weiterzubilden. Heute ist er als Unternehmer im Groß- und Einzelhandel sowie als Unternehmensberater für Bio-Landwirte und den Bio-Handel tätig.