Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote [Buchbesprechung]
von Hanne Tuegel, erschienen in Ausgabe #42/2017
Fairness, Empathie und Altruismus sind keine rein menschlichen Errungenschaften. Die Ursprünge »unserer« Moral sind weit älter, wie Frans de Waal in seinem neusten Buch »Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote« zeigt. Darin treten auf: junge Schimpansinnen, die eine von Arthritis geplagte alte Schimpansendame mit Wasser versorgen; Raben, die gestressten Artgenossen zum Trost aufmunternde Schnabelstupser versetzen; Rhesusaffen, die sich um ein Affenbaby mit Downsyndrom kümmern; eine blinde Elefantenkuh, die sich im Naturreservat zurechtfindet, weil eine Elefantenfreundin mit guten Augen als ständige Begleiterin fungiert … Solche Zeugnisse sind mehr als rührende Anekdoten. Sie werfen ein Licht auf existenzielle Fragen: Woher kommen Altruismus und Mitgefühl? Wie konnten sich Fairness und Rücksicht auf Schwächere durchsetzen? Über solche Themen dozieren in der Regel Philosophen und Theologen. Es ist spannend, zu lesen, was ein Forscher zu sagen hat, der die Perspektive auf Wesen ausweitet, die stammesgeschichtlich älter sind als Homo sapiens. Der Biologe und Verhaltensforscher Frans de Waal stammt aus den Niederlanden. Er leitet das »Yerkes National Primate Research Center« in Atlanta, Georgia, und erkundet seit Jahrzehnten mit viel eigener Empathie, was Tiere in freier Natur und in Zoos so treiben. In seinem aktuellen Buch macht er klar, dass es absurd ist, die Ursprünge der Moral auf göttliche Autorität oder rein menschliche Vernunft zurückzuführen. Moralische Prinzipien gehören für ihn zur biologischen »Grundausstattung« – weil wir »soziale Tiere« sind. Die Grundfrage stellt sich für de Waal so: »Ist der Mensch von Natur aus gut, obschon fähig zu Bösem? Oder ist er von Natur aus böse, aber fähig zum Guten?« Noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dominierte die zweite Doktrin. Moral galt danach als eine dünne Schicht Tünche über einem egoistischen und bösartigen Selbst. Ein radikaler Vertreter dieser Sicht, der zeitgenössische amerikanische Biologe Michael Ghiselin, schrieb: »Wenn ein Mensch die Gelegenheit bekommt, nach seinen eigenen Interessen zu handeln, gibt es außer der Berechnung nichts, was ihn davon abhalten könnte, andere zu schlagen, zu verstümmeln, zu ermorden – seinen Bruder, seinen Partner, seine Eltern oder sein Kind.« Unfug, meint Frans de Waal: Entscheidend für ein Leben in Gemeinschaft sind Fürsorge und Kooperation. Einfühlung in andere ist dabei auch im Tierreich überlebensnotwendig und kein Willensakt, sondern ein Automatismus. Spätestens die Entdeckung der Spiegelneuronen hat das bestätigt. Diese Nervenzentren im Gehirn feuern bei dem, der einer Handlung zusieht, exakt so wie bei demjenigen, der sie ausführt; sie gelten als Grundlage für Empathie. Was Charles Darwin für die Evolution körperlicher Merkmale entdeckt hat, gilt eben auch für die Evolution geistiger Fähigkeiten. Nein, Tiere sind keine gefühllosen Automaten, wie es René Descartes, einer der Wegbereiter der Aufklärung, behauptete. Dichter und Denker wie Schopenhauer, Voltaire, Goethe oder der Anarchist Peter Kropotkin haben solchen Ansichten lange vor Frans de Waal widersprochen. Voltaire schrieb: »Nur der Hochmut der Menschen grenzt sie vom Tiere ab.« Wie sehr sich »typisch« menschliche Eigenheiten bei Verwandten aus dem Tierreich wiederfinden, zeigen inzwischen Tests, die sich Verhaltensforscher wie Frans de Waal für sie ausdenken. Einer der eindrucksvollsten betrifft das Gerechtigkeitsempfinden: Zwei Kapuzineraffen sitzen nebeneinander in Glaskabinen, absolvieren kleine Aufgaben und bekommen als Belohnung mal Gurkenstückchen, mal Weintrauben. Beide Leckerlis mögen sie, Trauben allerdings sehr viel lieber. Das wird deutlich, als einer der Affen eine Traube erhält, sein Artgenosse aber mit einer Gurke abgespeist wird. Dessen Reaktion ist Empörung pur: Wütend verweigert der Proband die Belohnung, stampft auf, macht Drohgebärden und schleudert dem Versuchsleiter schließlich die Gurke entgegen. Wer bei YouTube die Worte »Affe, Gurke, Traube« eingibt, findet ein Video dazu – und spürt am eigenen Leib, wie unfair behandelt sich der um die Traube Betrogene fühlt. Das Buch ist eine Schatzkiste mit wunderbaren Beobachtungen zu den Ursprüngen unseres Moralempfindens und klugen Gedanken zu Gott, den Menschen und der Welt. Homo sapiens hat religiöse Gebote, philosophische Theorien und juristische Paragrafen ins Universum der Moral eingebracht. Aber es ist gut, sich mit Frans de Waal daran zu erinnern, was uns mit Affen, Raben, Elefanten und anderen verbindet: »Wir sind Gruppentiere, und als solche brauchen wir einander, verlassen uns aufeinander und finden Freude daran, einander zu helfen.« ◆
Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote Moral ist älter als Religion. Frans de Waal Klett-Cotta, 2015 365 Seiten 24,95 Euro