Titelthema

Erzählen vom ­gemeinen Leben

Wir werden von einer Flut an Geschichten überschwemmt. Dabei geht die Tradition der mündlichen, lebensfördernden Erzählungen verloren.von Lara Mallien, Johannes Heimrath, Matthias Fersterer, Leonie Sontheimer, Maria König, Matthias Fellner, erschienen in Ausgabe #46/2017
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In einer Sommernacht lag ich halb wachend, halb träumend auf meinem Bett. Da erschien mir ein riesiges braunes Ungeheuer, aus dessen Maul enorme Scheren hervorragten. Es kam näher und näher und wollte Besitz von mir ergreifen. Von diesem Bild gebannt, schlief ich ein. Als ich nach tiefem, traum­losen Schlaf erwachte, entdeckte ich eine Zecke, die sich frisch in meinen Oberschenkel gebohrt haben musste. Das Bild des Ungeheuers, das ich vor meinem inneren Auge gesehen hatte, war der Anblick eines ins Riesenhaften vergrößerten Zeckentiers gewesen. 

Lebendige Erzählungen entstehen in einem Zustand der Verschränkung zwischen Innen- und Außenwelt – wie jenem zwischen ­Wachen und Träumen –, deshalb können sie uns in die Innenwelt der Außenwelt und in die Außenwelt der Innenwelt hineinziehen. Vielleicht sind manche unserer traditionellen Märchen im halb­bewussten Dämmerschlaf während dunkler Winternächte entstanden; immerhin wissen wir im Traum oft mehr als im Wachzustand. Zwerge, Riesen, feuerspeiende Ungeheuer, gute und böse Geister, spukhafte Fernwirkung, formwandlerische Wesen, die sich in nichtsahnenden Wirten einnisten und deren Willen lenken – gibt es die nur im Märchen?

Als Reclinervellus nielseni, die Schlupfwespenfrau, ihre Niederkunft nahen spürte, schwirrte sie davon, um die Spinnenfrau Cyclosa conica zu finden. Das war nicht leicht, denn die kleine Cyclosa konnte so fein spinnen, dass ihr Netz fast unsichtbar zwischen den dürren Zweigen über dem Boden im dunklen Tann hing. Ehe sie sich’s versah, hatte die Schlupfwespenfrau ihr Ei der Spinnenfrau in den Leib gebohrt. »Heda, was soll das?«, rief die Spinnenfrau. »Wirst schon sehen, hehe!«, näselte die Schlupfwespenfrau. Und wirklich – bald war im Leib Cyclosas eine winzige Larve aus dem Schlupfwespen-Ei geschlüpft. Gierig schlürfte sie von den Körpersäften der Spinnenfrau, wuchs heran, und als die Zeit ihrer Verpuppung nahte, rief sie: »He, Spinnenfrau, mach mir einen Kokon!« Als wäre sie nicht sie selbst, holte Cyclosa die fast unsichtbaren, klebrigen Spiralfäden ihres Netzes, mit denen sie immer ihre Beute gefangen hatte, ein und warf sie auf den Boden. Das Netz hatte jetzt große Löcher. »Mach es fest!«, rief die Larve. Als wäre sie nicht sie selbst, lief Cyclosa auf den Speichenfäden hin und her und spann und spann, bis die Fäden vierzigmal so stark waren wie zuvor. »Mach es sichtbar!« rief die Larve. Als wäre sie nicht sie selbst, umspann Cyclosa die starken Taue mit hauchzarten Fäden, die im ultravio­letten Licht aufleuchteten. Nun konnten die Hummeln, die Schmetterlinge und die Vögelchen das vorher fast unsichtbare Netz ­sehen und um die Wiege des Schlupfwespenkinds herumfliegen. »Geh in die Mitte!«, befahl die Larve. Mit letzter Kraft kletterte ­Cyclosa in die Mitte ihres leuchtenden Netzes und spann sich ein. Als sie das letzte Stück Faden um sich gewickelt hatte, hauchte sie ihr Leben aus. Nach zehn Tagen aber schlüpfte aus ihrem toten Körper eine neue Schlupfwespe und schwirrte davon.

Das ist nicht erfunden, sondern das schier unglaubliche Beispiel eines ausgeklügelten »Hackings« – der Fremdsteuerung eines Wirtsorganismus durch einen Parasiten (Quelle: The Company of Biologists). Wer, bitteschön, denkt sich so etwas aus? Tatsächlich gibt es noch weit komplexere Geschichten dieser Art; man könnte glauben, hinter der Evolution des Lebens steckten irre Komiker wie Monty Python. Die Wirklichkeit ist erstaunlich und verrückt – schließlich ist auch die Fähigkeit, Fantasie zu entwickeln, Teil von ihr. So ist es kein Wunder, dass das Geschichtenerzählen zu den ältesten Künsten der Menschheit gehört: »Noch nie haben wir keine Kunst geschaffen«, ruft uns Meistererzählerin Margaret Atwood (siehe »Wollen wir leben?«) in Erinnerung, und dem ließe sich hinzufügen: Noch nie haben wir keine Geschichten erzählt. Traditionelle Gesellschaften, die die Schrift nicht kannten, gaben ihren gesamten Wissensschatz mündlich von Generation zu Generation weiter.
Heute prasseln Geschichten von überall auf uns ein. Zeitschriften, Romane, Werbeclips, YouTube-Videos, Blogs, Twitter-Nachrichten: Alle wollen die beste Story verkaufen. Im Alltag erzählen wir uns alles mögliche – aber welche Spuren hinterlässt dies? Gibt es heute Geschichten, die so wichtig sind, dass sie wieder und wieder mündlich weitergegeben werden müssen, weil sie zu unserer persönlichen und kollektiven Identität gehören?
Rudimente davon kennt jede Familie: »Erzähl mir was, als Mama klein war!«, wünschen sich Kinder von den Großeltern, und wollen es wieder und wieder hören. Jede Gemeinschaft, jedes Projekt hat eine Gründungsgeschichte, die Neulingen und Gästen gerne erzählt wird. Doch nur selten entsteht daraus ein Kontinuum, das mehr als nur ein paar Wenige betrifft, denn selten fühlen wir uns einem größeren Kreis von Menschen so zugehörig, dass wir Wert auf eine gemeinsame Geschichte legen.

Mündliche Tradition
1982 beschrieb der Literaturwissenschaftler Walter Ong die Schwierigkeit, sich als schriftgeprägter Mensch in die mündliche Erzählsphäre zu begeben. Es sei, als erkläre man ein Pferd für Menschen, die noch nie ein solches gesehen haben, als »Auto ohne Räder«: »Es ist nicht einfach, sich die rein orale Tradition exakt und substanzvoll vorzustellen. Die Schrift lässt ›Wörter‹ deswegen den Dingen ähnlich werden, weil wir uns Wörter wie die sichtbaren Zeichen denken, die Wörter an Dekoder übermitteln. Wir können solcherweise niedergeschriebene ›Wörter‹ in Texten und Büchern sehen und fühlen.« In mündlichen Kulturen seien Worte hingegen vor ­allem Klangereignisse in der Zeit: »Ein Laut existiert nur im ­Moment seiner Entstehung. Er ist nicht nur vergänglich, sondern wesentlich verklingend, und er wird als verschwindender wahrgenommen. Wenn ich das Wort ›Beständigkeit‹ ausspreche, ist bei der Nachsilbe ›keit‹ das ›Beständig‹ schon vergangen.« Anders als in Schriftkulturen herrscht in mündlichen Kulturen kein permanenter Innovationsdruck, mit dem immer neue, immer andere Geschichten gefordert werden. »Orale Kulturen besitzen eine Originalität besonderer Art«, schreibt Ong. »Erzählerische Originalität zeigt sich nicht im Erfinden neuer Geschichten, sondern im Geschick, eine besondere Interaktion mit dem Publikum herzustellen.« Zwar wird eine Geschichte »wahrheitsgemäß« wiedergegeben, die Vortragsweise und schmückende Details variieren jedoch: »Jedesmal muss die Geschichte schon deshalb auf einmalige Weise einer einzigartigen Situation angepasst werden, weil das Publikum in einer oralen Kultur zum Partizipieren veranlasst werden muss, und zwar oft genug auf nachdrückliche Art.«
Auf Forscher wie Ong aufbauend, beschreibt der Kulturanthro­pologe David Abram in seinem Buch »Im Bann der sinnlichen Natur«, wie wir modernen Menschen unsere evolutionär herausgebildete Fähigkeit des Lesens von Fährten und Spuren gegen die Schriftkundigkeit eingetauscht haben:
»Das natürliche Terrain, das wir bewohnen und von dessen nährender Kraft wir abhängen, ist von suggestiven Zeichen und Fährten durchwoben, angefangen von der mäandernden Kalligrafie der Flüsse, die sich durch die Landschaft winden und dem ausgedörrten Ödland Täler und Schluchten einschreiben, bis hin zum schwarzen Brandzeichen, mit dem sich der Blitz auf dem Stamm einer alten Ulme verewigt. […] Die Buchstaben, die ich gerade über diese Seite verteile, jenes Gekritzel und Gekrakel, das Sie gerade in gedruckter Form auf dieser weißen Oberfläche verfolgen, unterscheidet sich kaum von der Fährte eines Beutetiers im Schnee. Diese Fährten lesen wir mit Sinnesorganen, deren Fähigkeiten unsere Urahnen über die Jahrtausende hinweg verfeinert haben, indem sie sich instinktiv von einer Spur zur nächsten vortasteten, den einmal verlorenen Pfad stets aufs Neue ausmachten und einer Bedeutung hinterherjagten, die letztlich die Begegnung mit dem Anderen war.«

Bespieltes Land
Können wir uns in unseren westlichen Gesellschaften – unsere lite­ralisierte Prägung anerkennend – der Magie des gesprochenen Wortes als kraftvollem, ereignishaftem Handlungsakt annähern?

There was a fiddler, you know … Wisst ihr, da war einmal ein Fiedler. Er wanderte von Dorf zu Dorf, und als er eines Morgens wieder einmal auf dem Weg nach Granny war, leuchtete ihm etwas in der Sonne entgegen: Die hellen Schottersteine, mit denen man den Weg quer über den Berg befestigt hatte. Das freute den Fiedler, konnte er doch jetzt leichteren Schritts wandern. Und während er so vor sich hin ging, erfand er auf seiner Fiedel eine neue Melodie.

Nach dieser Geschichte klemmte sich James Byrne die Geige unters Kinn und spielte den »Gravel Walk to Granny«. Er war im neuen Jahrtausend der letzte der bäuerlichen Fiedler aus der irischen Grafschaft Donegal, die ihre Melodien an dunklen Abenden von den Älteren in der Familie nach dem Gehör gelernt hatten. ­Notenlesen konnte er nicht. 2008 starb er, kaum älter als 60 Jahre, an einem Herzanfall – und mit ihm gingen Hunderte Geschichten zu den traditionellen Liedern und Tanzweisen unter.
Im vertrauten Kreis wusste James zu fast jedem seiner Musikstücke etwas zu erzählen – vom »Kleinen Volk«, dem die Fiedler Melodien abgelauscht hatten, von Streichen, die man sich gegenseitig im Dorf gespielt hatte, vom politischen Widerstand gegen die Besatzung der Engländer, vom heimlichen Kartoffelschnaps-Brennen auf der Klippe oder von verzauberten Inseln. Märchenhaftes, Alltägliches, Politisches – alles erzählte James mit demselben Zauber; seine Melodien spielte er mit dem immer gleichen, auf einen präzisen Punkt in einer undefinierten Ferne gerichteten Blick. Seine Geschichten spielten nicht irgendwo, sondern in der Gegend rund um seinen Heimatort Mín na Croise in Glencolumbkille, einem kargen Tal im äußersten Nordwesten Europas.
Wer James zuhörte, wurde unweigerlich in die Innenseite dieser Landschaft hineingezogen. Der Feldweg nach Granny mag unscheinbar sein, aber durch die ihm gewidmete Melodie bleibt ihm die Magie der ersten Wanderung des Fiedlers eingeschrieben, so lange das Lied tradiert wird.
Bespieltes, erzähltes Land – das war Europa über Jahrtausende hinweg. Überreste mündlicher Volkskultur sind auch auf unserem Heimatkontinent noch lebendig. Wie überall auf der Welt sind sie Ausdruck des »Eingeborenseins«, des In-einen-Ort-­hineingeboren-Seins. »Eingeborensein« bezeichnet nicht notwendigerweise ­Ethnien aus anderen Kulturräumen, sondern vielmehr eine Qualität der tiefen Verbundenheit mit einem einzigartigen Ort.
James Byrne erzählte von der gemeinsamen Geschichte der Menschen und der durch die Rodung der Wälder für die englische Kriegsflotte so karg gewordenen irischen Landschaft mit ihren endlosen Torfmooren, steilen Hügeln, schroffen Klippen und wilden Bächen. Sie sind nicht Kulisse, sondern aktiv Mitspielende – der Fiedler bringt ihren Klang auf seine Art zum Ausdruck. Es gibt Geschichten, die diesen Prozess des Erlauschens widerspiegeln.

Wisst ihr, da war einmal ein Fiedler namens Paddy, der trank abends öfter einen über den Durst. Einmal wollte er vom Pub durch das Moor, das hier »The Park« genannt wird, nach Hause gehen. Nach kurzer Zeit kam Nebel auf, und er hatte bald völlig die Orientierung verloren. Da erkannte er einen Dolmen und wusste wieder, wo er war. Als er erleichtert, an die Steine gelehnt, rastete, hörte er aus dem Inneren des Dolmen eine Melodie. Er lauschte, doch bald war sie wieder verklungen. Da hörte er sie erneut, aber entfernter, sie kam aus einer anderen Richtung irgendwo im Nebel und war so zauberhaft schön, dass Paddy ihr folgte, aller Gefahr, sich wieder zu verlaufen, zum Trotz. Die Melodie führte ihn zu einem anderen Dolmen, doch kaum hatte er sich dort niedergelassen, wurde es wieder still – bis die Musik erneut aus der Ferne zu erahnen war. So stolperte Paddy die ganze Nacht im Park umher, bis sich der Nebel lichtete, und er endlich nach Hause fand. Die Melodie kannte er nun für immer auswendig. Sie heißt »Paddy’s Rambles Through the Park« (Paddys Streifzüge durch den Park).

Der britische Geschichtenerzähler Martin Shaw (siehe »Das Prinzip Gefährtenschaft«) beschreibt Mythen als eine Art »Echoortung«, die aus der Erde selbst kommt: »Wenn ein Tier einen Ruf aussendet, wird ein Echo zurückgeworfen, das auch einem beinahe blinden Wesen ein Gefühl für seine Umgebung vermitteln kann. Genau das hat die Erde immer schon getan. Sie sendet einen Puls aus … und wartet auf Widerhall.« Geschichtenerzählerinnen und -erzähler sind diejenigen, die diesen Ruf hören und erwidern können: »Vielleicht erreicht der Ruf einen Inuit-Fischer, der an einem Eisloch kauert, vielleicht einen Wanderer auf einem Feldweg in Wales oder eine Frau, die frühmorgens die Sommersonne zum Gärtnern nutzt. Diesem Puls können wir ablauschen, wie wir leben sollen.«
Dieses musikalische Prinzip von Ruf und Antwort verbindet Mensch, Ort und Mythos. Ortsgebundene, indigene Kulturen bilden nicht aus ethisch-moralischen Gründen eine unauflösbare Einheit mit der sie umgebenden Landschaft, sondern weil es das Naheliegende, weil es eine basale Überlebenstechnik ist – weil Verbindung Leben und Trennung Tod bedeutet.

Was ist ein Ort?
Dass es einen Ort völlig unabhängig von uns »dort draußen« gäbe, ist ebenso eine Illusion wie die Annahme, Orte seien lediglich innere, menschlich konstruierte Phänomene. Die Anthropologen Steven Feld und Keith Basso bezeichnen das Phänomen »Ort« als eine »gewaltige Fusion von Selbst, Raum und Zeit«. Die pflegnutzerischen Austauschbeziehungen der Tiere, die dort weiden, graben oder jagen, gehören ebenso zu diesem Wahrnehmungs- und Beziehungsgeflecht wie die stoffliche und immaterielle Widmung, Pflege und Nutzung durch uns Menschen, eingeschlossen die Erzählungen, mit denen wir einen Ort aufladen und die wir ihm ablauschen. Die Rufe der Vögel, die Schattenwürfe der Bäume und Felsen, die Witterungsbedingungen und Wetterwechsel, das Säuseln, Tosen und Brausen des Winds – all dies geht bewusst oder unbewusst in die Geschichten ein, die wir uns von Orten erzählen.
Für archaische Kulturen wie die der australischen ­Aborigines ist die Landschaft eine Landkarte mit topografischen wie seeli­schen Qualitäten – Mindmap und Roadmap zugleich. Wie ein Nervensystem durchziehen ihre Songlines (Traumpfade) den Kontinent, der selbst ein Speicher von Erinnerungen und Erzählungen ist. Bestimmte Geschichten konnten nur – und mussten sogar – an bestimmten Orten erzählt werden. Man konnte nicht diesen Felsen passieren, jenen Hügel überqueren oder den Fluss dort drüben durchwaten, ohne deren je eigene, von Generation zu Generation überlieferte Geschichte erneut lebendig werden zu lassen.

Wir fuhren in Begleitung eines Ältesten der Pintubi namens Jimmy Tjungurrayi mit dem Lastwagen über eine Staubpiste westlich von Alice Springs. Während wir den staubigen Weg entlangrollten, auf der Ladefläche des Wagens sitzend, begann er plötzlich, sehr schnell auf mich einzureden. Er sprach über einen Berg in der Nähe, und erzählte dann, wie in der Traumzeit einige kleine Kängurus zu dem Berg kamen und dort in eine Auseinandersetzung mit Eidechsenmädchen gerieten. Er hatte die eine Geschichte kaum zu Ende erzählt, als er schon mit der nächsten Geschichte über einen weiteren Hügel hier drüben und einer anderen Geschichte dort hinten begann. Ich kam nicht mehr mit. Nach etwa einer halben Stunde begriff ich, dass es sich um Geschichten handelte, die beim Gehen erzählt werden sollten, und dass ich gerade eine Hochgeschwindigkeitsvariante dessen erlebte, was sich gemächlich während eines mehrtägigen Fußmarsches erzählen lässt. (Gary Snyder, Lektionen der Wildnis, Matthes und Seitz, 2011)

Ist das gemeint, wenn es heißt, beim zu schnellen Reisen käme die Seele nicht mit? Welche Geschichten entgehen uns, wenn wir auf Gleisen oder Autobahnen in Hochgeschwindigkeit die Landschaft rechts und links liegen lassen?

Ortssinn und Verbundenheit
Dem Land eingeborene Menschen umzusiedeln oder zu vertreiben, kommt einem kulturellen Genozid gleich. In Europa sind wir seit Jahrhunderten Vertriebene und Vertreibende, gerade vertreiben wir mittels der virtuellen Realität die letzten Relikte unseres Ortssinns. Während Maschinen uns in die fernsten Winkel der Erde und ­sogar in den Weltraum befördern, sind wir nicht mehr in der Lage, das Naheliegende, das uns umgibt, zu lesen. Wie sollten wir etwas, das wir nicht mal mehr erkennen, bewahren können?
Eine weitere Ebene der Verbundenheit indigener Kulturen mit der sie umgebenden Landschaft drückt sich in den Erzählungen der Navajo, der Cheyenne, der Hopi, der Netsilik-Inuit und anderer Ethnien aus, die ihre Erzählungen mit einer Bekräftigung der Verwandtschaft und Gleichwürdigkeit von Mensch und Tier beginnen lassen: »Als Menschen und Tiere dieselbe Sprache sprachen …«
Wie David Abram schreibt, gilt diese Verbundenheit für die Gesamtheit der Natur: »In einer oralen Kultur sprechen nicht nur die anderen Tiere und Pflanzen […] zu den Sinnen, sondern auch der mäandernde Fluss, von dem jene Tiere trinken, die sintflutartigen Monsunregen oder der Stein, der sich in die Handfläche schmiegt. Auch der Berg hat seine eigenen Gedanken, und die Regenwald­vögel, die die untergehende Sonne mit ohrenbetäubendem Schwirren, Sirren und Kreischen bis hinter den Horizont begleiten, sind Stimmorgane des Walds selbst.«

Das gemeine Leben
In einer Welt, die alles zur Ware macht, ist die Welt entzaubert, das Nicht-Menschliche fremdgeworden. Ursächlich zu dieser Entfremdung beigetragen hat der »500 Jahre währende Krieg gegen die Subsistenz« – gegen die Fähigkeit, sich regional zu versorgen –, den der Universalgelehrte Ivan Illich von vielen Aspekten aus beleuchtete. Zunächst näherte er sich diesem Phänomen sprachlich. Als Bezeichnung für umfassende regionale, konviviale (lebensfördernde) Lebensweisen schlug Illich den Begriff des »Gemeinen« vor. Die Gebrüder Grimm bezeichneten diesen in ihrem Wörterbuch als »ein altes hochwichtiges und edles Wort, nun aber übel heruntergekommen«. Die »Gemeinheit« entspricht dem Englischen »commons«, und bezeichnete ursprünglich nicht ein niederträchtiges Motiv, sondern das, was allen gemeinsam ist: die Allmende.
Was genau ist das Gemeine, das Naheliegende, das Hiesige? ­Illich zufolge ist es »all das, was im Haus geboren, gesponnen, aufgezüchtet oder gemacht wurde, im Gegensatz zu dem, was nur durch Kauf erworben werden konnte.« Das »Hiesige« umfasst immer auch Menschen, die neu an einem Ort ankommen und sich diesem zueignen wollen. Diesem Verständnis nach ist der Akt, ­hiesig, heimisch und verortet zu werden, niemals etwas Ausgrenzendes, sondern immer etwas Einschließendes. Das Naheliegende ist somit ständig in Bewegung, es ist nie allgemeingültig festzuschreiben und immer auch mit dem Fernen verbunden.
Beispiele gibt es zuhauf: Wände aus Lehm und Stroh; handgepresster Most aus Wildäpfeln; Geschichten, die ich von denen, die vor mir waren, gehört habe, um sie weiterzuerzählen für die Zeit, wenn ich nicht mehr bin; jede verweigerte Konsumhandlung; nicht in einzelne hochsprachliche Wörter übersetzbare Mundartbegriffe (»fei«, tüddelig«, »og ne«, »plietsch« usw.); bioregional gewachsene (vernakuläre) Architektur; mit jungen Menschen leben; mit alten Menschen leben; mit Tieren leben; schenken statt tauschen …
Vielleicht ist die einzige Sprengkraft, die wir auf der Suche nach lebensfördernden Erzählungen entwickeln können, uns dem Gewöhnlichen, dem Gemeinen zuzuwenden – etwas ganz Normalem, das in der normierten Realität des Normalismus zu etwas Abseitigem, Randständigem, Marginalisiertem verkommen ist. In diesem Sinn sind wir »Partisanen des Normalismus« (Jürgen Link), die in dem Maß von der Norm abweichen, in dem die Norm von der Essenz des Lebens abweicht.
Das Gemeine ist das, was uns der Essenz des Lebens näherbringt. Was die Essenz des Lebens ist, können wir erkennen, indem wir das Lebendige beobachten – und davon erzählen.
Die Geschichten des Fiedlers James Byrne waren über Generationen hinweg Gemeingut. Darin mischten sich andersweltliche Motive über Begegnungen mit dem Feenvolk mit Anekdoten aus dem Dorfleben oder mit Naturbeobachtungen. Das hatte etwas befreiend Anarchisches, gab es doch dem einen Lebensbereich nicht mehr Bedeutung als dem anderen. Es ging um alles, was in jenem Tal als so bemerkenswert empfunden wurde, dass jemand dem Ereignis eine Melodie gewidmet hatte – um das gemeine, schöne und schmerzvolle Leben.
Erzählungen, die weiterleben, müssen keineswegs von hochtrabenden Dingen handeln. Ein Folk-Song aus der südwestenglischen Grafschaft Wiltshire, den die modernen Barden Ed, Will und Ginger auf ihren Wanderungen gefunden haben (siehe Seite 29), handelt vom sangesfreudigen Wandersmann »Spencer the Rover«. Es erzählt von seinen Streifzügen und seiner Heimkehr zu Frau und Kindern. Nichts sonst. Kein Drama, keine Verfolgungsjagd, kein Bösewicht, keine Romanze. Der Song kündet von gemeinen Gefühlen: Freude über leibliches Wohl, Sehnsucht des Ausgezogenen und der Daheimgebliebenen, Wiedersehensfreude.
Wer den darin besungenen Brunnen in der Nähe des nordenglischen Städtchens Rotherham kennt, an dem Spencer eine Rast einlegte und dessen Wasser ihm »süßer als Honig« schmeckte und »teurer als Gold« war, wird dieses Lied wieder und wieder hören wollen. Wer ihn nicht kennt, kann dies durch das Hören besagten Lieds nachholen (tinyurl.com/EdWillGinger). Jeder Ort kann auf solche Weise mit lebendigen Geschichten und Liedern gewürdigt und auf unserer inneren Landkarte eingezeichnet werden.

Kulturelle Aneignung
Ortsgebundene europäische Traditionen sind heute die Ausnahme. Da ist der Blick auf andere Kontinente, auf denen lebensförderndes kulturelles Erbe vitaler zu sein scheint, verlockend. In kolonialistischen Gesellschaften ist die Gefahr, sich romantisierend oder gar ausbeuterisch mit Versatzstücken aus anderen Kulturen zu schmücken, immer gegeben – oft geschieht es in bester Absicht.
Auf einer Schokoladen-Verpackung, die durch das besondere Design und Material ausstrahlt, dass man etwas Gutes tue, wenn man sie kauft, findet sich folgende Geschichte:

Auf ihrer Reise durch Mexiko, Brasilien und Ecuador wird Laura durch die Weisheit der heiligen Pflanzen inspiriert. Sie verliebt sich in die zauberhafte Kraft roher Schokolade und nimmt sich vor, diese Liebe zu verbreiten. Zurück in Amsterdam stellt Laura ihre eigene Schokolade her. Ihre Freunde wollen mehr davon.

Die Gründerin dieser Schokoladen-Marke ist tatsächlich eine Frau namens Laura. Auf ihrer Internetseite erfährt man, dass die Schokolade aus ökologisch angebauten Zutaten gefertigt wird, der Kakao in Multi- statt in Monokultur wächst und dass die Verpackung biologisch abbaubar ist. Erfreulich – und dennoch ist die Geschichte auf der Verpackung zwiespältig. Sie ignoriert, dass diese Schokolade in den meisten Fällen konsumiert wird wie jede andere. Sie reflektiert nicht über die globalen Machtverhältnisse, die es erst ermöglichten, dass Laura mit einem Produkt und einer Geschichte aus dem globalen Süden in Amsterdam Geld verdient. Wenn Geschichten, Traditionen und Rituale für kommerzielle Zwecke importiert werden, dabei der Kontext verlorengeht und Machtverhältnisse unausgesprochen bleiben, ist das kulturelle Aneignung.

Befreiung
Selbst unser scheinbar traditionellstes »eigenes« Kulturgut, Grimms Märchen – nach der Bibel das meistverkaufte Buch in Deutschland –, sind ein Resultat kultureller Aneignung. Die Gebrüder Grimm haben, um ein romantisch inspiriertes, gesamtdeutsches Märchenwerk zu schaffen, lokale Mundarterzählungen in ein diffuses hochsprachliches Irgendwo verlagert und verharmlost. Dem gehe, so Matriarchatsforscherinnen wie Heide Göttner-Abendroth, eine lange Verformung voraus, in denen etwa starke Frauen zu zarten Prinzessinen oder bösen Alten umgedeutet wurden.

Vergangenen Sommer löste sich meine Gemeinschaft, in der ich mich zu Hause gefühlt hatte, auf. Ich war zurückgeworfen auf das Alleinsein mit meinen Kindern. Auf einer Reise in jener Zeit begleitete mich das Buch »Im Land der Seele« von Ursula Seghezzi. Darin entspann sich ein Gespräch zwischen zwei Frauen über europäische Kulturgeschichte, in dessen Verlauf Grimmsche Märchen als Initiationsgeschichten neu erzählt werden. Die bekannten Märchenfiguren waren Mädchen und Jungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Der Wald wurde zum Ort der Initiation. Sie begegneten weisen Frauen und wohlmeinenden Zwergen, bestanden Prüfungen oder erlernten Tätigkeiten, um als initiierte Erwachsene zu ihren Familien zurückzukehren. Das Motiv, allein im Wald zu sein, resonierte stark in mir. Dieser Wald hatte nicht mehr das Gesicht eines bedrohlichen Orts, dem ich mit Schläue entkommen musste, sondern lud mich zum Verweilen ein, um dem Prozess, irgendwann wieder in einer Gemeinschaft anzukommen, Zeit zu geben.

Ursula Seghezzi beschreibt die Entstehung der Neuerzählungen als einen langen Prozess des Hinspürens, Herauslesens und Umdrehens. Grundlage dafür waren ihre Erfahrungen beim Wiederent­decken und Neugestalten alter jahreszeitlicher Bräuche.
Es gibt viele Wege, sich den schmerzhaften Geschichtsschichten der eigenen Kultur – von Entfremdung in patriarchalen Lebenszusammenhängen über Profanierung bis hin zum nationalsozialistischen Mythenmissbrauch – zuzuwenden und sich von der Lebenswirklichkeit vor der eigenen Haustür berühren zu lassen.

Als ich im Februar vor etwa vier Jahren am grauen Hauptbahnhof in Berlin in den Zug einstieg, war es bitterkalt. Während der ersten Stunden auf dem ICE-Sessel zweiter Klasse hatte ich Kopfweh und fühlte leichten Schwindel, denn erst im Zug sitzend wurde mir körperlich bewusst, welches Ausmaß die Entscheidung, Berlin zu verlassen, hatte: Es bedeutete, dass mein Studium und mein beruflicher Werdegang plötzlich keinen Wert mehr haben würden. Ich fuhr an einen Ort, wo ich mich dem Gärtnern widmen wollte. Es bedeutete, einen größeren Kundenstamm zu verlieren, den ich mir über die vergangenen Jahre aufgebaut hatte. Eine Stimme in meinem Kopf fragte immerzu: »Was tust du da eigentlich?«, während der ICE unbeirrt gen Süden düste. In Augsburg stieg ich in einen kleinen Regionalzug. Es roch nach den angebissenen Äpfeln und Butterbroten einer Schulklasse, die um mich herum ausgelassen quasselte. Ich fühlte mich fremd, und schaute aus dem Fenster in die weite, grüne Hügellandschaft. Langsam ging die Sonne unter, und am Horizont tauchte plötzlich ein schmaler, weißer Streifen auf. Hauchdünn war dort eine glitzernde, weiße Bergkette erkennbar. Noch nie waren mir Berge so magisch erschienen wie in diesem Moment. Je näher ich den verschneiten Alpengipfeln kam, desto stärker konnte ich ihre Kraft spüren, desto heiliger kam mir ihr Antlitz im Abendlicht vor. Und plötzlich wurde mir tief in meinem Inneren bewusst, dass mich möglicherweise diese Berge gerufen hatten.

Dass es im Leben um Sicherheiten und um Karriere gehe, um ein kontinuierliches Aufbauen von Wissen und Bekanntschaften, die einen stetig steigenden, individuellen Nutzen bringen, ist kulturell tief verankert. Ist es möglich, sich davon zu befreien? Diese Geschichte handelt von Angst und Misstrauen gegenüber dem eigenen Leben und wird von Eltern, Lehrern und Professorinnen tief im Bewusstsein junger Menschen verankert. In jedem Kennenlerngespräch spinnt es sich weiter fort. Nach kurzer Zeit wird gefragt: »Was machst du beruflich?« Was wäre, wenn jemand darauf keine Antwort wüsste?
Wenn es gelingt, eine kolonisierende Geschichte abzuschütteln, ist es oft wie im Märchen vom Froschkönig, wenn es heißt: »Heinrich, der Wagen bricht!«, doch in Wirklichkeit ist es stets eines der drei eisernen Bänder – die sich der treue Heinrich ums Herz hatte schmieden lassen, damit es vor Kummer nicht zerspränge –, das sich mit lautem Krachen löst. Die Welt ist danach, und sei es nur für Sekunden, voller Zauber. Vielleicht kann in solchen Momenten eine Ahnung für einen indigenen Blick entstehen. Jeder Mensch ist der Erde eingeboren, alle Zellen kommunizieren beständig mit dem, was uns umgibt und durchdringt. Warum also sollten uns nicht auch die Berge rufen?

Verzauberung
Etwas greift in dich hinein, du kannst dich nicht entziehen. Vielleicht ist es der Silberstreif am Horizont über den Bergen, vielleicht sind es die Steine auf dem neuen Schotterweg in der Morgensonne. Sie verzaubern dich. In so einem Moment bist du nicht allein, denn das, was dich ergreift, ist in dir präsent. Du selbst bist völlig präsent. Das Andere verwandelt dich, du musst es verstoffwechseln, es verlangt nach Ausdruck. Die Ausdrucksform, die jeder und jedem zur Verfügung steht, ist die Geschichte. Wenn du erzählst, was du wahrgenommen hast, wird dein Zauber – diese innerste, intime Angelegenheit – auf die Zuhörenden übergehen, sie werden ihn nachempfinden, als seien sie selbst dabei gewesen (siehe »In allen Dimensionen wahrnehmen«), sie werden etwas von dir in sich aufnehmen.
Verzauberung geschieht immerzu, indem sich unsere Sinne mit dem Außen verbinden, sie beginnt mit dem ersten Blick aus dem Fenster am Morgen, sie gehört zu den »gemeinen« Lebensprozessen, die selbst die imperialistischste kulturelle Überformung nicht ganz aussterben lassen kann. Somit ist sie eine der widerständigsten Keime, aus denen eine verbundene, dem Leben zugewandte Kultur entstehen kann.
Zauber entzieht sich rationalen Erklärungen und ist doch nicht notwendigerweise irrational. Einer Deutung zufolge leitet sich »Zauber« vom altenglischen Wort »teafork« für »Rötel« ab, der für das Schreiben von Runen verwendet wurde. »Rune« bedeutet »geheimes Wissen«, somit ist der »Zauberer« ein »Wissender«. Wer weiß, braucht nichts zu glauben.

Ich habe Hoffnung, seit ich gelesen habe, dass Neandertaler im Vorderen Orient vor 60 000 Jahren ihren Verstorbenen roten Ocker – Rötel – und Blumen – Schafgarbe, Kornblume, Stockrose, Traubenhyazinthe, Jakobskraut – ins Grab mitgegeben haben. Das rührte mich beim Lesen zu Tränen. Welche Kulturvorstellung müssen die Neandertaler gehabt haben? Dass wir uns bis heute eingebettet wissen wollen in imaginative Innenräume, die auch Blüten und Zauberfarben nur andeuten können, ist möglicherweise ein Erbe des Homo neandertalensis, nicht des Homo sapiens sapiens. Etwas Neandertaler ist auch in unseren Genen, angeblich vier Prozent. Ich liebe die Neandertaler für diese vier Prozent.

Erzählen lässt sich weder instrumentalisieren noch kaufen oder herbeizwingen. Es ereignet sich. Es ist die Praxis, die Augen und all unsere Sinne weit zu öffnen, um hinter dem hektischen Treiben unserer Tage in der Tiefe wahrnehmen zu können.

Große und kleine Erzählungen
Mit dem zunehmenden Fortschreiten der menschlichen Zivilisation haben wir Geschichten ersonnen, die so wirkmächtig sind, dass sie ganzen Gesellschaften und Zeitaltern als Grundlage ihres Selbstbilds dienen: »Vorsprung durch Technik!«, »Wachstum!«, »Fortschritt!«, »Wir sind die Guten!«, »Die Wissenschaft wird’s schon richten!«. Diese Art von Geschichten, die in den 1970er Jahren durch den Literaturwissenschaftler Fredric Jameson identifiziert wurden, werden als »große Erzählungen«, »Meta-Narrative« oder »Meistererzählungen« bezeichnet. Während der Politologe Francis Fukoyama in den 1990er Jahren das Ende aller großen Erzählungen und gar das »Ende der Geschichte« ausrief, wiesen andere – wie die Commons-Forscherinnen Elinor Ostrom und Silke Helfrich, die Klimaaktivistin Christiana Figueres oder auch Papst Franziskus – dar­auf hin, dass das Wohlergehen der Menschheit möglicherweise davon abhängt, ob es uns gelingt, die Geschichte von Ausbeutung und Konkurrenz aller gegen alle zu einer lebensfördernden Erzählung von Gleichwürdigkeit und Kooperation zu wandeln.
Eine solche Meistererzählung ist etwa die seit Jahrhunderten überlieferte Geschichte des gemeinschaffenden Pflegnutzens (Commoning). Sie erzählt von einer Welt, in der Orte nicht das Eigentum von Menschen sind, sondern vielmehr Menschen sich Orten zueignen, indem sie diese pflegen und ihre einzigartigen Geschenke nutzen. Menschen werden darin von Orten gepackt, anstatt sich diese anzueignen. Solche tiefe Verortung bedarf nicht des Landschaftsschönen – sie kann sich auch auf einer Industriebrache ereignen. Die Geschichte des gemeinschaftlichen Pflegnutzens wurzelt in mündlichen Traditionen, handelt sie doch von Spielregeln, die nicht festgeschrieben sind, sondern fluide immer wieder neu von wie auch immer gearteten Gemeinschaften gefunden, eingeübt und eingespielt werden.
Wenn sie so einfach auf der Hand liegt – warum sucht dann alle Welt noch immer nach der »neuen großen Erzählung«, die endlich die sozialökologische Transformation einleiten werde? Was oft übersehen wird: Das Commons-Narrativ handelt vom Prozess des Geschichtenerzählens selbst. Damit hebt es sich selbst auf. Es eignet sich nicht dazu, auf ein Plakat geschrieben zu werden – »Dies ist das große Narrativ der Zukunft! Folgt ihm!« –, denn es widersetzt sich allen Patentrezepten. Es will nichts erreichen, außer dem Leben in all seiner Vielfalt Raum zu geben. Deshalb ist es so unspektakulär – eben gemein –, und es unterscheidet auch nicht zwischen den »kleinen« persönlichen und den »großen« Geschichten.
Die kleinen Geschichten über das Zuhören und Erzählen, die es in dieser Oya-Ausgabe zu lesen gibt, sind bewusst nicht spektakulär. Sie sind beinahe zufällig aufgelesen und abgelauscht und so gut wiedergegeben, wie es allen Beteiligten möglich war. Oft folgen sie der gesprochenen Sprache. Sie sind eine Einladung, dem mündlichen Erzählen in einer literalisierten Welt wieder eine essenzielle Bedeutung zurückzugeben – eine Einladung, das Zuhören, Verzaubertwerden, Sich-Zueignen und Sich-Ausdrücken zu kultivieren. Das ist nicht etwa nur ein privates Vergnügen, sondern immer aus sich heraus schon Teil einer großen, transformativen Erzählung über das gemeinschaftliche Weben am Teppich des guten Lebens in einer mehr-als-menschlichen Welt. \ \ \

 

Literaturquellen und -empfehlungen
 David Abram, Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt, thinkOya, 2012.
 Bruce Chatwin, Traumpfade, Fischer Verlag, 1990.
 Paul Devereux, Der heilige Ort. Vom Naturtempel zum Sakralbau. Wie die Menschen das Heilige in der Natur entdeckten, AT Verlag, 2006.
 Ivan Illich, Vom Recht auf Gemeinheit, Rowohlt Verlag, 1982
 Ivan Illich, Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit, Rowohlt Verlag, 1983
 Walter Ong J., Oralität und Literalität, Die Technologisierung des Wortes, Springer, 1987.
 Ursula Segghezzi, Im Land der Seele, van Eck, 2015.
 Martin Shaw, Scatterlings, Getting Claimed in the Age of Amnesia, White Cloud Press, 2016.
 Gary Snyder, Lektionen der Wildnis, Matthes & Seitz, 2011.
 Rüdiger Sünner, Geheimeis Europa, Reisen zu einem verborgenen spirituellen Erbe, Europa Verlag, 2017.

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Ausgabe #46
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