Fragmente einer Sprache des Gemeinschaffens.von Peter Linebaugh, erschienen in Ausgabe #47/2018
Wir verlieren unsere Subsistenz – und damit den Boden unter unseren Füßen – an die Privilegierten und Mächtigen. Menschen in aller Welt werden um Renten, Häuser, Universitäten und Ackerflächen betrogen; sie rufen: »Haltet den Dieb!«, machen sich Gedanken über die »Commons« und werden gemeinschaffend aktiv. Was aber sind die Commons? Aus dem Dunkel vergangener Jahrhunderte beginnt die moderne Bedeutung des Begriffs »Allmende« gerade wieder heraufzudämmern. Im folgenden kleinen Glossar beleuchte ich – inhaltlich, nicht alphabetisch geordnet – einige Aspekte der Commons und des Commoning (gemeinschaffendes Pflegnutzen).
Essen Potlatch, Büffet aus Mitgebrachtem, solidarische Landwirtschaft (CSA), die Küche – der tiefste Ausdruck gemeinschaffenden Pflegnutzens hat mit Essen zu tun. Der freie Platz am Tisch und das Prinzip Gastfreundschaft sind untrennbar mit menschlicher Gemeinschaft verbunden. Das gemeinsame Mahl ist ein zentraler Aspekt jeder Religion: unser täglich Brot. Auf freudlosen Schiffen war Essen bloße »Ration«, auf freudvollen das »Commons« der Seefahrer.
Gesundheit Öffentliche Gesunderhaltung und freier Zugang zu Sportanlagen, Unfall- und Krankheitsvorsorge sowie medizinischer Versorgung sind bitter nötig. Ein »Hospital« war einst eine Herberge, in der Gäste, Fremde und Reisende willkommen geheißen wurden. In der Praktik des Hospitals verkörperte sich die Hospitalität, die Gastfreundschaft. Salus publica populi Romani Quiritium – kurz: Salus – war die Göttin des Wohlergehens der römischen Bürger und ihres Staats. Inzwischen wurde diese einst hochverehrte Göttin von Klinik-, Pharma- und Versicherungsunternehmen in Knebelhaft genommen. In früheren Zeiten stand Arznei nicht im Privateigentum von Pharmariesen, sondern in Allmendewäldern.
Wohnraum Besetzte Häuser, Hausgemeinschaften, Lebensgemeinschaften, Wohnheime, Slums oder Obdachlosensiedlungen entsprechen beileibe nicht utopischen Vorstellungen, aber sie erfüllen echte Bedürfnisse, entspringen direkter Aktion, sind authentische Beispiele symbiotischen Miteinanders, beleben unbelebte Zonen und sind Ausdruck von Kooperation.
Geschlechter Gebären, nähren, Nachbarschaft und Liebe sind die Anfänge allen gesellschaftlichen Lebens. Die historischen Commons waren nicht von Männern dominiert, sondern stellten oft die Bedürfnisse von Frauen und Kindern an die erste Stelle. Dabei ging es nicht nur um »Bedürfnisse«; auch Entscheidungsfindung und andere Verantwortlichkeiten lagen in den Händen der Frauen – von den Elendsvierteln der Industrialisierung über die matriarchalen Stammesgesellschaften der Irokesen bis hin zu afrikanischen Dorfgemeinschaften.
Wissensschatz Commons wachsen ohne Urheberrecht: »Wer eine Idee von mir empfängt, mehrt dadurch sein Wissen, ohne meines zu mindern, ebenso wie derjenige, der seine Kerze an meiner entzündet, dadurch Licht empfängt, ohne mich der Dunkelheit auszusetzen« (Thomas Jefferson). Miteinander reden, quatschen, singen, rappen war einst das Internet der Leute. Gesunder Menschenverstand erwächst aus dem Netz familiärer und nachbarschaftlicher Beziehungen. Wir brauchen aber doch einen Versammlungsort! Wie wär’s mit der örtlichen Schule? Auf die Barrikaden gegen das Verlöschen des Lichts!
Semantik Im »Oxford English Dictionary« finden sich vier bis fünf Seiten voller Definitionen des Worts common (»gemein«, »gemeinsam«); die erste lautet: »mehreren gleichermaßen gehörend«. Einige unserer wichtigsten Wörter mit ihren jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und spirituellen Anklängen und geschichtlichen Zusammenhängen entstammen den »Commons« bzw. dem »Gemeinen«, so etwa »Allgemeinheit«, »Gemeinde«, »Gemeinschaft«, »kommunal«, »Kommunität«, »Kommunion«. Etymologisch sind die Commons Abkömmlinge der lateinischen Eltern com, »zusammen«, und munis, »Verpflichtung«. Das Konzept der Allmende existiert in vielen Sprachen in aller Welt: In der andinischen Kultur heißt das Schlüsselwort allyus, in der mexikanischen ejido. Mitunter ist das Wort »Commons« jedoch trügerisch, wird mit gespaltener Zunge gebraucht und ins glatte Gegenteil verkehrt, wenn etwa von einer privatisierten Wohnanlage (Gated Community) oder einem privatisierten Markt (Shopping Mall) die Rede ist, die sich gemeinschaftlich gerieren, tatsächlich jedoch alle ausgrenzen, die nicht die nötige Knete haben!
Arbeiterklasse Manche sagen, das Prekariat habe das Proletariat ersetzt. Das bedeutet schlichtweg, dass das Leben für uns – das gemeine, gemeinschaffende Volk – unsicherer, ungewisser, prekärer geworden ist. Gleich, ob wir alt oder jung sind, ob wir arme Schlucker sind oder gerade so über die Runden kommen, die Institutionen, die uns früher einmal den Rücken gestärkt haben, verschwinden zunehmend, und ihre Namen verkommen zu Schimpfwörtern wie »Wohlfahrt« oder »Sozialhilfe«. Wie Hurrikan Katrina oder die Immobilien- und Bankenkrisen gezeigt haben, sind weder Regierungen noch Unternehmen in der Lage, solche Notlagen zu lindern. Während Desaster auf Desaster folgt, sind wir zunehmend auf unsere eigenen Ressourcen zurückgeworfen und müssen tiefer schürfen. In Zeiten der Not brauchen wir die einstigen Commons – falls wir uns noch an sie erinnern – ebenso wie die durch spontanes Gemeinschaffen neu entstehenden. Wir sollten nicht vergessen, dass die Arbeiter die eigentlichen »Arbeit-Geber« sind.
Beziehung Die Commons bezeichnen weder nur Ressourcen noch nur Menschen, sondern immer ein Zusammenwirken beider. Die Commons sind nicht bloß »Gemeingutressourcen« (common pool resources) und auch nicht bloß »das Volk«. Sie sind keine Sachen, sondern Beziehungen. Im mittelalterlichen Europa waren die Wälder, Hügel, Küsten und Mündungsgebiete jene Orte, an denen gemeinschaffende Förster, Hirten, Fischer und Schilfschnitter pflegnutzten. Diese wurde »Commoners« oder »Gemeine« genannt, und waren über die Gemeindegrenzen hinaus mit anderen Gemeinschaffenden gemeinschaffend verbunden, während die selbstsüchtigen Riesen – die herrschenden Lords und Ladies – das gemeine Volk tyrannisierten und die Einhegung der Allmende vorantrieben. In diesem Spannungsverhältnis wurde unsere Natur geformt und gestaltet – die uns umgebenden Landschaften ebenso wie unsere menschliche Natur.
Sichtbarkeit Oftmals werden die Commons erst durch ihre Abwesenheit sichtbar: Das Stadtviertel ohne Gehsteige, der versiegte Brunnen, der Allmendeacker, die frische und saubere Luft – verschwunden! Jemand hat sich das, was wir als gegeben hingenommen hatten, unter den Nagel gerissen. Stopp! Haltet den Dieb!
Politik Die Commons liegen außerhalb des Staatsapparats. Commons erzeugen eine eigene Form von Sicherheit. Beziehungen regeln sich hier weniger durch Polizeigewalt als durch Gebrauch, Gewohnheit und Sozialisation – wer schon mal eine Runde Straßenfußball in der Nachbarschaft organisiert hat, kennt das Prinzip. In der englischen Geschichte begann die Politik als Aushandlungsprozess zwischen Lords und Commoners. Deshalb gibt es in England bis heute ein »House of Lords« und ein »House of Commons«.
Recht und Gesetz In der Regel werden Commons nicht durch Gesetze, sondern durch Traditionen und Gebräuche benannt und bewahrt. Gebräuche sind lokal, sie werden im Gedächtnis bewahrt, und die Ältesten sind die Hüter des kollektiven Gedächtnisses. Manche Beispiele aus Afrika und Lateinamerika zeigen, dass Traditionen auch ein Deckmantel für patriarchale Privilegien sein können. Deshalb respektiere ich Gebräuche, romantisiere sie aber nicht.
Ökonomie Die Commons liegen oft außerhalb der Logiken des Kaufens, Verkaufens und der Warenwirtschaft; sie sind dort, wo sich das Leben von Angesicht zu Angesicht abspielt. Die Commons sind nicht dasselbe wie eine Ökonomie der Gabe oder ein Potlatch. Nein, nicht alles ist umsonst – aber, ja, alles kann geteilt werden. Die Commons sind Ausdruck von Reziprozität, Wechselseitigkeit. Die Commons-Ökonomie gründet nicht auf der von Martin Luther King jr. erkannten Triade der Übel: Militarismus, Rassismus und Konsumismus. Die sogenannte industrielle Revolution trägt ihren Namen übrigens nicht zu recht; ganz im Gegenteil: In England war die Mechanisierung eine konterrevolutionäre Bewegung, und was sie – neben Dreck und Ruß – hervorbrachte, war das genaue Gegenteil von Fleiß und Industrie: Elend für die Arbeiter und Müßiggang für die Herrschenden. Welch ein Etikettenschwindel!
Religion Der gute Samariter. »Göttlichem Recht nach sind alle Dinge allen gemeinsam«, sagen die Franziskaner. Das christliche Neue Testament berichtet von urchristlicher Gütergemeinschaft: »Alle Dinge waren ihnen gemeinsam.« Die haitianische Romanautorin und Voodoo-Kennerin Marie Chauvet schrieb: »Jemand berührte den Kalebassenbaum, mein Gott! … Jemand berührte den Kalebassenbaum … Jemand berührte den Kalebassenbaum. Ihr schlagt alle Bäume um, und lasst die Erde schutzlos zurück. Schaut, wie sie dahingeht und rachdurstig ihre Zähne fletscht.«
Geschichte Die Commons sind alt, und es gibt sie überall: vom Irak bis Indiana, von Afghanistan bis Arizona sind sie in den Traditionen indigener Kulturen und in vielfältigen modernen Abwandlungen zu finden. Die Geschichte ist kein linearer oder stufenförmiger Fortschrittsprozess. Oftmals haben sich Entwicklungen überlappt, umgekehrt, sprunghaft vollzogen, ohne je ganz abzureißen. Unterhalb des Radars der offiziellen Geschichtsschreibung gibt es seit jeher viele gemeinschaffende Gemeinschaften. Und überhaupt: Fortschritt wovon und für wen?
Oya im Ohr Diesen Beitrag gibt es auch als Hörstück.
Peter Linebaugh (76) forscht, lehrt und publiziert als radikaler Historiker auf den Feldern britischer und irischer Geschichte, Geschichte der Arbeiterbewegung, Geschichte der Commons sowie des Kolonialismus. Als »Kind des Empires«, wie er sich selbstkritisch nennt, besuchte er Schulen und Universitäten in den US-Bundesstaaten New York und Pennsylvania, in Washington D.C., London, Warwick, Bonn und Karatschi. Linebaugh ist Autor zahlreicher historischer Werke. In deutscher Übersetzung liegt vor: »Die vielköpfige Hydra« (2001/2008) über Meuterei, Piraterie und Sklaverei in der transatlantischen Kolonialgeschichte. Die bislang stärkste Resonanz erhielt sein Buch »The Magna Carta Manifesto« (2008), eine historische Studie mit starkem Gegenwartsbezug über die in der »Magna Carta« (1215) und der »Charter of the Forest« (1217) verbrieften Allmenderechte. Robin D. G. Kelley, Professor für Postkolonialismusforschung, bezeichnete Linebaugh daraufhin als »bedeutendsten zeitgenössischen Historiker«, die US-Wochenzeitschrift »The Nation« lobte »das wichtigste und poetischste Buch über Freiheitsrechte des Jahres«. Zuletzt erschienen der Essay-Band »Stop, Thief!« (2014) und »The Incomplete, True, Authentic, and Wonderful History of May Day« (2016) über die Geschichte des 1. Mais als Tag der Arbeit. Linebaugh ist regelmäßig Beitragender des Online-Magazins »Counterpunch«. Er lebt mit seiner Frau in Ann Arbor im US-Bundesstaat Michigan. tinyurl.com/Counterpunch-Linebaugh