Titelthema

Mit Dreck und Sonne zaubern lernen

Ein selbstorganisierter Bildungsweg mündet in einem neuen Lernort.von Paul Hofmann, erschienen in Ausgabe #51/2018
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© Joachim Rautenberg

Eigentlich wollte ich nie Bauer werden. Zwar liebte ich es, in der Natur zu spielen und Obst im Garten meiner Eltern zu sammeln, doch das, was ich auf den Feldern vor unserer Haustür sah, erschien mir nie besonders anziehend. Jedes Jahr wurden dieselben Arbeitsgänge mit großen, feindlich wirkenden Maschinen verrichtet. Stattdessen wollte ich als Jugendlicher einen Platz in der Welt ­finden, an dem ich mich den großen Herausforderungen, vor ­denen ich die Menschheit stehen sah, mit meiner Kreati­vität widmen könnte.
Mit dem Abi in der Tasche ging es für ein über die Organisation »Weltwärts« vermitteltes Freiwilligenjahr ins Ökodorf Auro­ville in Südindien. Nach dreizehn Jahren verkopfter Schule und diversen philosophisch-politischen Weltrettungs­gespinsten, über die in den Kreisen junger Aktivistinnen gerne bis tief in die Nacht diskutiert wurde, war die Arbeit auf einer kleinen indischen Obst- und Gemüsefarm mit acht Kühen für mich eine Wohltat. Ich erlebte Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit: Ohne endlose Diskussionen erprobten wir hier im Kleinen mögliche Lösungsansätze für die planetaren Belastungsgrenzen. So mulchten wir Beete, säten Gründüngungen, produzierten Holzkohle-Komposte, vermehrten effektive Mikroorganismen, pflanzten Mischkulturen und Agroforstsysteme. In der frühen Morgensonne mit den Händen in der Erde und in Kontakt mit all dem Lebendigen um mich wurde ich voller Dankbarkeit gewahr, wie eine neue Qualität von »Ankommen« in mir Einzug hielt. Durch die teilweise sehr meditative Arbeit wurde ich manchmal ganz still, Grübeleien verblassten. Es begann etwas innerlich zu pulsieren, das mich ganz erfüllte und von meinem Herzen über meine physischen Körpergrenzen hinaus wie eine sich ausbreitende Wolke mit allem in unmittelbare Beziehung trat.

Zaubern
Besonders stark nehme ich diese Verbundenheit wahr, wenn Bäume in den Landbau integriert sind. Es scheint mir, als entstünde dadurch eine Dynamik, die nicht nur den physischen Raum stärker durchdringt – mit den Wurzeln in tiefere Bodenschichten vorstoßend und sich in den Himmel reckend, um mit Ästen und Blättern noch mehr Licht aufzufangen  –, sondern die auch das Zeitliche dynamisch verlebendigt, und zwar durch die schiere Lebensdauer verholzender Pflanzen.
Nach und nach erkannte ich, dass gute Bauern nicht nur Nahrung produzieren. Sie können tatsächlich zaubern, denn sie transformieren mit Hilfe von Tieren, Pflanzen und vielfältigen Techniken Landschaften in einer Weise, dass diese Sonnenlicht in maximal viel Nahrhaftes verwandeln. Aus »Dreck« entstehen die erstaunlichsten Gestalten – die Kohlenstoffgerüste im lebendigen Boden erscheinen mir als Aufbau einer Matrix, die diese Verwandlung möglich macht. Ich bin dankbar dafür, einige dieser Zauberinnen getroffen zu haben, die mir durch ihre Fähigkeit, zu beobachten und mit dem Herzen zu lauschen, ein tieferes Verständnis für die der Natur zugrundeliegenden Prinzipien vermittelten.

Studieren
Erfüllt von einem großen inneren »Ja« zu einer derart regenerativen und berühr­baren Landbaukultur, suchte ich nach Ausbildungsmöglichkeiten. Auch die Reak­tion meiner Eltern konnte mich nicht davon abhalten: »Was, du willst dein Potenzial verschwenden und Bauer werden?« Ich entschied mich für das Studium »Ökolandbau und Vermarktung« in Eberswalde. Hier konnte ich, soweit das mein Curriculum zuließ, auch Module in Naturschutz, Forstwirtschaft und Nachhaltiger Wirtschaft belegen, alles untrennbar mit holis­tischer Agrikultur verbunden. Ich merkte jedoch schmerzlich, dass Hochschulen nur selten Vorreiter bei der Weiterentwicklung regenerativer Landwirtschaft sind. Wenn überhaupt, ging es nur am Rand darum, wie wir die Steigerung von Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität mit einer nachhaltigen ökonomischen Produktivität, getragen von resilienten, sozialen Netzwerken, verbinden können: Der Pflanzenbau-Professor entpuppte sich als Verfechter des Pflugs und nicht gerade als Freund der Bäume; im Pflanzenschutz zeigte man uns verschiedene bio-zugelassene Spritzmittel; und in Betriebswirtschaftslehre lernten wir, dass in erster Linie jenes landwirtschaftliche Verfahren ausgewählt werden sollte, welches den höchsten Deckungsbeitrag erwarten lässt. Die praxisorientierten Gruppenarbeiten waren bei vielen Studierenden eher unbeliebt, da sie nicht selten in desaströsen Konflikten endeten…
Ich studierte dennoch weiter, um ein tieferes Verständnis der ökologischen Zusammenhänge zu gewinnen: Ökologie, Pflanzenphysiologie und -genetik, Botanik – insbesondere Zeigerpflanzen –, Gehölz­kunde, Bodenbiologie, Tierethologie, sowie Boden- und Standortkunde. Dabei fiel mir immer wieder auf, dass die Fachbereiche viel zu isoliert betrachtet werden. Die aktuellen landwirtschaftlichen Probleme wie Verlust der Biodiversität oder zunehmende Bodendegradation erfordern neue Antworten – und Neues entsteht, indem wir bereits Existierendes anders als bisher miteinander in Beziehung setzen. So kommt es zu komplexen Wechselwirkungen und Systemen mit neuen Eigenschaften, die aus der Logik der getrennten Teile meist nicht zu erklären sind.

Selbermachen
Nach einiger Zeit begann ich, zusammen mit Studierenden aus den Fachbereichen Naturschutz und Forstwirtschaft mit der Entwicklung interdisziplinärer Module zu Inhalten, die uns bisher im Studium fehlten. Die Hochschule finanzierte uns erfreulicherweise »Projektwerkstätten« sowie »innovative Lehr- und Lernformen« zu den Themen »Gemeinsam anders wirtschaften« und »Agroforst in Brandenburg«. Währenddessen wurde mir immer bewusster, wie viele für mich zentrale Lernfelder in konventionellen Ausbildungskontexten zu kurz kommen: Mir erscheint beispielsweise der klassische Familienbetrieb, auf dem in der heißen Phase des Jahres über 90 Wochenstunden pro Person und drei Tage Urlaub im Jahr selbstverständlich sind, ein Auslaufmodell zu sein. In der Ausbildung wird allerdings kaum vermittelt, wie Menschen einen Hof gemeinschaftlich führen können – so enden viele Hofkollektive nach einigen Jahren in Zerwürfnissen. Daher investierten wir in unseren Modulen viel Zeit in Gemeinschaftsbildung und beschäftigten uns mit diversen Methoden kollektiver Führung und Entscheidungsfindung, zum Beispiel mit Soziokratie. Oft mussten wir gegenüber den betreuenden Dozentinnen und Dozenten mühsam rechtfertigen, wie wichtig uns dieses eher implizite Lernen ist. Vieles passte nicht in das enge Korsett von Hochschulmodulen, und so gründete sich eine Gemeinschaftsinitiative, die eine »Freie Landuni« aufbauen und mit befreundeten »Verrückten« Bildungsreisen in andere Länder unternehmen wollte. Wir besuchten viele Höfe, Konferenzen und Workshops und tauschten uns über Fachbücher aus. Dabei entstanden Praktika-Listen mit Pionierhöfen, die wir nach und nach abklapperten.

Ausbildung und die gute fachliche Praxis
Während meines Studiums schnupperte ich auch in die klassische sowie in die »freie Demeter«-Ausbildung für Landwirtschaft hinein. Da es dort ja darum geht, gängige Praktiken einzuüben, wird nicht selten anhand vermeintlicher »ökonomischer Sachzwänge« eine Haltung der Alternativlosigkeit vermittelt. Doch die bodenständige Kenntnis des Ist­zustands erscheint mir ebenso wichtig wie Visionen und Träume. Vieles, was ich aus der »guten fachlichen Praxis« der Landwirtschaft lernte, war so weit von dem entfernt, wonach ich mich sehnte, dass es mich zuerst traurig, dann wütend und schließlich ängstlich machte. Excel-Tabellen, Steuerungscomputer und große, laute Maschinen ließen die erfüllende Verbundenheit zu einer Erinnerung an meine Zeit in Indien verblassen. Ich begann, mehr zu meditieren, in Wäldern zu wandeln und Kontaktimprovisation zu tanzen. Mein Studium verfolgte ich nur auf Sparflamme weiter. Irgendwann war es schließlich nur noch die Abschluss­arbeit, die mich von der Freiheit trennte. Unverhofft ergab es sich, dass ich dafür mit einer Forststudentin ein Design für ein 15-Hektar-Agroforstmodellprojekt auf einem Hof nahe der Hochschule entwerfen konnte. Da ich dessen Umsetzung und wissenschaftliche Untersuchung weiter begleiten wollte, begann ich doch noch ein Masterstudium.
Für den zweiten Teil dieser Ausbildung wechselte ich an die Universität Witzenhausen. Weil ich mir wieder eine selbstorganisierte Lerngruppe wünschte, sprach ich ein paar Menschen an, und so gründete sich im Nu eine Gruppe, die sich regelmäßig über regenerative Landwirtschaft austauschen, sowie eine weitere, die eine Ausbildung in Agroforst-Beratung ins ­Leben rufen wollte. Bei beiden bildete sich ein fester Kern von etwas mehr als zehn Personen, 30 weitere sind gelegentlich dabei. Zu Beginn schrieben wir in beiden Gruppen einen gemeinsamen Lernplan. Seitdem tauschen wir während thematischer Treffen Erfahrungen und Wissen aus, unternehmen kleinere Arbeitseinsätze, laden Referentinnen ein, besichtigen Höfe und integrieren Methoden der Gemeinschaftsbildung. Daraus ergaben sich bereits erste öffentliche Vorträge, Workshops und auch Beratungsaufträge.
Es gibt deutschlandweit inzwischen einen kleinen, langsam wachsenden Kreis von rund 30 Engagierten, die, international vernetzt, auf dem aktuellen Stand in Bezug auf die besten Praxisansätze sind und daran arbeiten, eine konsequent regenerative Landbaukultur zu verwirklichen. Immer mehr Menschen wollen daran mitwirken. Elemente regenerativer Landwirtschaft sind auf einzelnen Höfen lange Zeit weitestgehend unbeachtet angewandt worden – das scheint sich nun zu ändern. Die großen Medienthemen »Arten­sterben« und »Sommertrockenheit« befeuern dies. Spannend wird es, wenn Erfahrungsweisheit mit holistisch-regenerativen Ansätzen zusammentrifft und das Ganze sich mit der wachsenden Szene der solidarischen Landwirtschaft verbindet. Das geschieht gerade parallel in vielen Ländern Europas. Auch eine junge, europaweite Initiative für Agrarökologie und Agroforst ist im Entstehen begriffen. Es könnte der Anfang einer starken Bewegung sein.

Los geht’s!
Doch alles fängt lokal an. So ist die Vision einer Landuni, die ich vor drei Jahren mit ein paar Menschen zu teilen begann, mittlerweile konkret geworden. Mit der »Akademie für angewandtes gutes Leben« stecke ich gerade mitten im Übernahmeprozess eines 80-Hektar-Landwirtschaftsbetriebs im Nordschwarzwald. Mittelfristig werden wir dort in den fünf Domänen Ökologie, Mensch, Technik, Kultur und Systeme Betriebe aufbauen, um mehrjährige Ausbildungen anzubieten. Ab September 2019 beginnen wir mit einer einjährigen »Wandelreise«, bei der wir Menschen dabei unterstützen, ihren individuellen Lernweg zu gehen. Kern­bereiche sind dabei jene, die an klassischen Ausbildungsstätten fehlen: Potenzialentfaltung, Gemeinschaftsbildung und Systemverständnis. Ganz praktisch heißt das für mich erst einmal viel mehr Arbeit vor dem Rechner, als mir lieb ist – wir müssen ein schrecklich konventionelles Wirtschaftlichkeits-Konzept fürs Landwirtschaftsamt schreiben, damit wir das Land überhaupt erwerben dürfen, und uns obendrein den Kopf über Stallumbauten und Gewächshäuser zu zerbrechen. Zugleich spüre ich die Vorfreude, dort bald zusammen mit vielen meiner Lernreisen-Begleiterinnen – und vielleicht auch mit meinen Eltern – die ersten Baumstreifen auf den Acker zu pflanzen.


Paul Hofmann (26) lebt im Wolfshaus bei Marburg. Bald zieht er mit dem Rudel der Akademie für angewandtes gutes Leben in den Schwarzwald. paul.hofmann–Ät–posteo.de

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