von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #51/2018
Die im vergangenen Januar mit 88 Jahren verstorbene Ursula K. Le Guin (siehe Oya 48, »Die Kraft der Vision«) war das rare Beispiel einer Autorin, die in sich einen weiten geschichtlichen Horizont, einen ausgeprägten Sinn dafür, dass sich die herrschenden Verhältnisse auch ganz anders gestalten ließen, gesellschaftliches Engagement und tiefe Menschlichkeit vereinte. Buchhandel und Literaturkritik führten sie üblicherweise als Science-Fiction- und Fantasy-Autorin – eine irreführende Kategorisierung, die mehr über die Mechanismen des Literaturbetriebs als über Le Guins Werk aussagt. Sie schrieb keine Technikfantasien, sondern gab anthropologischen, anarchistischen, daoistischen und ureigenen Erkenntnissen eine erzählerische Form. Wie sie oft betonte, habe sie nie über die Zukunft – und, so ließe sich ergänzen, auch nicht über ferne Welten – geschrieben, sondern einzig und allein über die Gegenwart. Zwar heben sich die Erdsee, der Winterplanet oder das vom indigenen Volk der Kesh bewohnte Na Valley deutlich von der uns bekannten Realität ab; diese detailliert ausgearbeiteten Schauplätze dienten ihr jedoch als Bühnen für gesellschaftskritische Ergründungen des Menschseins in der mehr-als-menschlichen Welt des Hier und Jetzt. Dabei war sie den Themen ihrer Zeit stets meilenweit voraus. Als Gender- und Queer-Theorie noch unbekannt waren, ließ sie in »Die linke Hand der Dunkelheit« durchweg androgyne Figuren auftreten. Jahrzehnte später sollten zwei ihrer Bücher die Kassenschlager »Harry Potter« und »Avatar« inspirieren. Anders als ihre mitunter dreisten Nachahmer betrieb Le Guin jedoch nie Effekthascherei, inszenierte nichts um des Spektakels willen und gab sich nicht mit narrativen Klischees zufrieden. Sie war eine meisterhafte Erzählerin, in deren Geschichten nichts einfach so ausgedacht, sondern jedes Detail in tiefe Schichten unserer Mythen- und Menschheitsgeschichte eingebettet war. Nun liegt ihr letztes zu Lebzeiten erschienenes Buch auf Deutsch vor. Der Band mit dem Titel »Keine Zeit verlieren« versammelt rund vierzig ursprünglich als Blog-Beiträge verfasste Essays und Aufzeichnungen zu Themen, die Le Guin auch in ihrem erzählerischen Werk begleiteten: die Kraft fantastischer Literatur, uns über den Tellerrand angeblicher Alternativlosigkeit blicken zu lassen (»Es muss nicht so sein, wie es ist«), technokratische und lebensfördernde Utopien (»Utopiyin, Utopiyang«), Begegnungen mit wilden und mehr oder weniger domestizierten Tieren (»Erstkontakt«, »Der Luchs«, »Die Annalen von Pard«), das Zubereiten und Verspeisen von Frühstückseiern (»Ohne Ei«), die Kunst des Alterns sowie Anmerkungen zu Literatur und Gesellschaft aus feministisch-egalitärer Sicht. Die im Buch versammelten Texte gewähren Einblick in die Werkstatt einer großen, zu Lebzeiten oft nur einseitig gewürdigten Autorin und bergen bei aller Verspieltheit immer wieder subversive Stolpersteine, die den üblichen Denkrahmen erschüttern und erweitern können.
Keine Zeit verlieren Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen. Ursula K. Le Guin Golkonda Verlag, 2018 260 Seiten ISBN 978-3946503507 18,00 Euro