Wie das Haus, in dem er lebt, ihn wohl wahrnimmt, fragt sich Matthias Fellner.von Matthias Fellner, erschienen in Ausgabe #53/2019
Sanfte, rötlich-braune Blätter tasten sich an deinen Hauswänden entlang. Aus dem Winterschlaf aufgewacht, scheint die Rose die Wärme zu genießen, die du ausstrahlst. Ihre Wurzeln erkunden die vom Regen getränkte Erdmasse zu deinen Füßen, und sie nimmt das Wasser aus den tieferen, feuchten Bodenschichten auf. Es stärkt die elegante Pflanze, lässt sie sich in die Höhe strecken. Langsam, sehr langsam streicheln ihre zierlichen, kleinen Blättchen deine warmen, weiß gestrichenen Backsteine, was du mit einem genüsslichen, schnurrenden Brummen erwiderst.
Möglicherweise spüre ich innerlich deine Vibrationen und drehe mich noch einmal im Bett herum. Fünf meiner Zehen sind aber schon neugierig unter der Bettdecke hervorgekrochen und können es nicht erwarten, deine Flure zu erkunden. Zusammen mit ihren fünf Schwestern hüpfen sie auf den Boden und machen sich wie Kinder vergnügt auf den Weg ins Bad. Stapf, stapf, stapf kitzeln sie deinen Fußboden, hüpfen auf den Teppich und sind schnell auf dem Fliesenboden des nächsten Zimmers angekommen. Meine Augen dagegen sind noch keineswegs wach, und meine Kopfperspektive auf das morgendliche Geschehen ist noch recht schwammig. Verschlafen stelle ich die Dusche an und warte, bis etwas wärmeres Wasser aus deinen Wasseradern strömt. Für meine Zehen ist es ein großes Vergnügen, in hohem Bogen über den Badewannenrand in die lauwarme Pfütze zu springen und dabei ordentlich zu spritzen.
Bevor der Winter begonnen hat, sind meine Freundin und ich in dich eingezogen. Du stehst auf einem Hügel und bist – gemessen an den anderen Häusern – nicht besonders groß. Ein Zimmer nach dem anderen haben wir gestrichen und wurden so schrittweise mit deinen Eigenheiten vertraut. Besonders gerne verbringen wir seitdem die Zeit im Wohnzimmer, das wir als deinen Bauch wähnen. Dort ist es besonders warm und kuschelig. Durch das Fenster beobachten wir die draußen aufblühende rote Rose an der Hauswand, die schon seit vielen Jahren hier wohnt. Seit ich ihr vor kurzem dabei geholfen habe, ein paar ihrer alten, vertrockneten Äste abzulegen, strahlt sie mich jeden Morgen an.
Wir sind nicht deine einzigen neuen Bewohner – uns sind eine ganze Reihe anderer Wesen gefolgt und haben in dir ihre eigenen Räume und Winkel besiedelt. In deiner Küche blubbert ein Fruchtkefir vor sich hin. Vor dem Frühstück beobachte ich ihn gerne auf seinem Küchentisch und bewundere, wie seine durchsichtige, leicht getrübte Flüssigkeit kleine Blasen hervorbringt, die zischend an der schaumigen Oberfläche auftauchen. Wenn ich Durst habe, lasse ich ein paar Schlucke des limonadenähnlichen Getränks meine Speiseröhre hinunterlaufen, wo sich das Kefirwasser dann zu den Magensäften gesellt. Sie blubbern dort gemeinsam wie alte Bekannte gesprächig weiter. Oder ich gebe dem Kompost einen Schluck der sprudelnden Flüssigkeit; ich glaube, dass er das Kribbeln auch gerne mag.
Den Kompost habe ich besonders liebgewonnen. Er hat es sich unter der Spüle bequem gemacht und ist ein sehr genügsamer Lebensgefährte. Da er für das Empfinden meiner Nase nicht besonders gut riecht, habe ich ihm einen schönen Behälter mit Deckel besorgt. Ich achte sorgsam darauf, dass er zu jedem Essen Reste verschiedener Gemüsesorten abbekommt, die er dann schmatzend in sich aufnimmt. Was er in seinem Inneren damit macht, möchte ich gar nicht so genau wissen; es wird schnell zu einem säuerlichen Brei umgewandelt, der manchmal schleimige Fäden zieht. Ich liebe aber die Lebendigkeit der vielen Hunderttausend Mikroorganismen, die in ihm leben. Ich bilde mir ein, dass jede neue Gemüsesorte, mit der ich ihn füttere, eine zusätzliche Art von Kleinstlebewesen entstehen lässt. Und so achte ich penibel darauf, dass er mit frischen Kräutern, Knoblauchscheiben oder auch Suppenresten zu jeweils neuer Vielfalt anwächst. Jede Woche wandert er dann hinaus aus deinen Mauern und hinein ins Gemüsebeet im Garten, wo seine vor Leben strotzende Masse sich mit der Erde vermischt und zu einem erdigen, feuchten Boden wird. Neugierig streckt dann auch die Rose an deiner Hauswand ihre Wurzeln in diese Richtung aus und erfreut sich an den neuen Mitbewohnerinnen des Erdreichs. Was du dir wohl zu all dem denkst?