Alexander Capistran sprach mit Pferdekennerin Myriam Zahrte.von Alex Capistran, Myriam Zahrte, erschienen in Ausgabe #53/2019
Alexander Capistran:Myriam, haben dich Pferde auf deinem Weg schon immer begleitet? Myriam Zahrte: Ja, ich war schon als Kind mit Pferden unterwegs. Damals habe ich sehr unter der Schule gelitten, habe die Lehrer und die Art des Lernens nicht verstanden, so dass ich regelrecht blockiert war. Zum Glück hatte ich mein Pony: Der Wald, das Pferd und sportliche Aktivitäten haben mich gerettet – die Lebendigkeit, die ich darin fand, tat mir gut. Ich bin dann Waldorf-Kindergärtnerin und staatlich anerkannte Erzieherin geworden; später kam die Heilpädagogik dazu, wo ich vermehrt auch mit Jugendlichen gearbeitet habe. Besonders der Einsatz von Pferden in der Begleitung von Menschen, die nicht in das System gepasst haben – beispielsweise von ADHS-Jugendlichen –, hat mich sehr interessiert. Ich habe mich auch selbst in ihnen wiedergefunden und war dadurch umso mehr motiviert. Diese sogenannten schwer erziehbaren Jugendlichen oder »verhaltensoriginellen Jugendlichen«, wie wir sie genannt haben, sind durch die Tiere spürbar entspannter geworden. Wir haben immer Pferde in der Umgebung gehabt, was ich in der Arbeit mit jungen Menschen unbedingt empfehlen kann: Die Jugendlichen können sich immer wieder an den Tieren ausrichten. Sie spielen mit ihnen, umsorgen sie, legen sich selbst einmal ins Stroh. Die Pferde haben eine sehr friedliche Ausstrahlung, man fühlt sich nicht bewertet, sondern immer angenommen. Ein ganz wichtiger Aspekt ist außerdem, dass das soziale Interesse an Anderen durch das Zusammensein mit den Tieren wieder möglich und die Neugierde zum Lernen bei vielen wieder wach wird.
Was können einem Pferde zeigen, das menschliche Lehrer nicht zeigen oder sagen können? Die Pferde können dir sehr schnell vermitteln, ob deine Mundsprache, das, was du aussprichst, mit der wirklichen Bedeutung, also dem, was du meinst, zusammengeht. Anders ausgedrückt: Pferde »spiegeln«, ob sich der Inhalt deiner Worte auch in deinem Körper und deiner Körperenergie abbildet. Pferde nehmen das wahr. Ganz konkret zeigt sich das daran, dass sie nicht das tun, was du ihnen sagst – ein Signal, das auf Widerstände und blinde Flecken hinweist.
Sind also Pferde die besseren Menschen? Nein, das nicht. Wir haben die Gabe der Pferde, Authentizität zu widerspiegeln, auch in unserer Natur, nur haben wir diese Fähigkeit als Menschen häufig verloren. Wenn Kinder mit Pferden groß werden, können sie über ihren Körper mit den Pferden kommunizieren und brauchen keinen Reitlehrer, sie können einfach natürlich reiten – und haben später nicht selten die gleiche subtile Feinfühligkeit im Umgang mit Menschen. Erwachsene, die diese Gaben nicht entwickelt haben, können im Feld der Pferde lernen, wieder in einen authentischen Ausdruck zu kommen. Unsere Lern- und Schulsysteme haben einiges aus dem Gleichgewicht gebracht. Im Umgang mit Pferden haben wir die Chance, wieder zu einer natürlichen Balance zu finden, so dass unsere Stimme und unser Körper wieder eins werden.
Zu wem bist du durch die Arbeit mit Pferden geworden? Wie hat die Arbeit deine Persönlichkeit transformiert? Ich vermute, ich hätte ohne die Pferde größeren inneren Druck verspürt, mehr sein zu wollen als ich war, und hätte mich mehr an die Gesellschaft angepasst. Die Pferde haben mich hingegen immer aufgefordert: Lass los, mach auf, guck über den Tellerrand hinaus. Sie haben mir beigebracht, auf mein Herz und die innere Stimme zu hören.
Und was hat die Sensibilisierung durch Pferde mit Bildung zu tun? Perspektiven zu weiten, Körperblockaden und emotionale Schatten aufzulösen – das sind für mich Schlüssel einer bewussten Selbsttransformation. Selbstentfaltung und Bildung hängen zusammen: Erstere ist der Boden für tiefe Lernerfahrungen. Im Grund ist sogar die Verwandlung des Selbsts, das Auflösen von Blockaden und die Fähigkeit, sich vertrauensvoll auf Begegnungen einzulassen, so etwas wie die Essenz der Bildung – denn Bildung in einem umfassenden Sinn bedeutet ja die Veränderung und Verfeinerung der Persönlichkeit über Lerninhalte hinaus.
In deiner Arbeit führst du Menschen und Pferde durch eine therapeutische Bildungserfahrung – eine Methode, die du »Horse Dialogue« nennst. Ja, Horse Dialogue basiert auf dem Ansatz von »Voice Dialogue«, in dem es um die Arbeit mit den verschiedenen seelischen Teilen des Selbst geht. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass unser einzigartiges Menschsein aus vielen inneren Anteilen besteht. Im Horse Dialogue dürfen sich diese verschiedenen Stimmen zeigen. Das Pferd fordert uns auf oder lädt uns ein, diese einzelnen »Teilselbste« zu fühlen. Des Öfteren gehören dazu auch Schattenaspekte, die tief vergraben sind. Diese wieder ins Leben zu integrieren, setzt bei den Menschen oft eine große Kraft frei. Ein Pferd, das sich permanent abwendet, kann zum Beispiel darauf hindeuten, dass ein Klient eine unterschwellige Wut in sich trägt. Wenn dem Menschen das bewusst wird und sich seine innere Haltung ändert, nähert das Pferd sich auch. Manchmal bedarf es aber auch eines verbalen oder körperlichen Impulses von meiner Seite, um die innere Bewegung der Klienten anzuregen.
Ein Pferd allein kann also spiegeln, aber wird ein Mensch dafür gebraucht, um seine Botschaften zu reflektieren? Es kommt darauf an, die Botschaft der Pferde gut zu übersetzen, ihre Zeichen zu einer verständlichen Erkenntnis werden zu lassen. Ich schaue vor allem auf die körperlichen Signale beim Tier und bei den Menschen. Wenn ein Pferd zum Beispiel abkaut, das heißt kauend den Kiefer entspannt, ist das ein biologisch eindeutiges Verhaltenszeichen der Entspannung. Genauso schaue ich auf den Menschen in der Situation: Was zeigt sich in seiner Körpersprache? Das gibt mir einen Hinweis, welche Blockaden in diesem Moment beim Klienten vielleicht aktiv sind.
Ich habe bei dir auch eine Horse-Dialogue-Stunde gehabt, die mir einiges klar gespiegelt hat. Wie hast du das körperlich bei mir wahrgenommen? Mir sind vor allem deine hängenden Schultern aufgefallen und der Übergang vom Brust- zum Schulterbereich. Ich hatte auch den Eindruck, dass du viel im Kopf bist – ich habe den Philosophen in dir gesehen.
Das Pferd wirkt also wie ein Verstärker oder Spiegel solcher Dynamiken? Wenn ich jemanden sehe, kann ich auf den ersten Blick meist nur wenige seiner Themen erkennen – aber sobald das Pferd dazukommt, nehme ich schnell wahr, was nicht in Balance ist. Das hat mit der evolutionären Herkunft der Pferde zu tun: Sie waren als Herdentiere in der Steppe existenziell davon abhängig, Atmosphären und die innere Haltung ihrer bisweilen bedrohlichen Gegenüber zu erspüren und entsprechend darauf zu reagieren.
Wenn Menschen nach längerer Zeit von ihrer Horse-Dialogue-Session sprechen – was heben sie dann hervor? Meist ist es ein bestimmter Moment. Diesen haben sie sich bildhaft sehr tief eingeprägt: Welches Pferd und an welchem Ort es war und wie genau der Eindruck sich angefühlt hat. Viele sagen dann: »Ich habe so lange gesucht, und jetzt ist die Erkenntnis da.« Ich arbeite viel an der Schnittstelle von körperlichen und seelischen Kräften, und das macht sich auch an den Reaktionen der Klienten bemerkbar. Sie kommen oft mehr in ihre Willenskraft und erfahren Heilung bei geschlechterspezifischen Problemen. Vielen Frauen drücke ich während eines Horse Dialogue einen Stock vom Stockkampf in die Hand, so dass sie in ihre Wutkraft kommen. Später berichten sie nicht selten davon, dass sie zum Beispiel ihrem grenzüberschreitenden Chef gekündigt haben und mehr in ihrer Kraft, mehr in ihrer Weiblichkeit stehen.
Welche Themen kommen in der Arbeit mit Menschen und Pferden sonst noch hoch? Neben der psychosexuellen Ebene ist es vor allem der Herzbereich, wo es um Selbstliebe und Selbstvertrauen geht. Oft ist es so, dass die Menschen, die zu mir kommen, sich in einem Hamsterrad befinden, aus dem sie sich befreien wollen. Wenn sie sich im Kontakt mit den Pferden an ihre Kindheit erinnern, ist da oft viel Traurigkeit. Die Menschen weinen sehr schnell und sehr oft – und dann kommt meistens die Wut, die Wut gegen die Eltern, gegen den Partner oder gegen sich selbst. Wenn sie die Kraft hinter der Wut erkennen und realisieren, dass sie diese Kraft jetzt zurückholen und verzeihen können, ist das meist der Moment, wo die Herzöffnung geschieht und wo die Pferde freudig im Kreis galoppieren. Am Anfang steht das weinende Herz, und schließlich zeigt sich das lachende Herz: die Begeisterung, die Ekstase.
Sind alle Pferde gleichermaßen Lehrer? Da gibt es ebenso wie bei uns Menschen sehr verschiedene Typen: leichtfüßige Pferde, Energetiker, Pegasusse, Luftikusse – oder auch solche, die sehr schwer sind, oft unter Stoffwechselproblemen leiden, oder die erdig und feurig wirken. Außerdem gibt es Pferde, die beides in sich tragen, die leicht mitgehen, aber auch ihren eigenen Kopf durchsetzen wollen. Mit solchen Tieren kann ich oft am besten arbeiten, da sie Menschen noch umfassender widerspiegeln können.
Eine ganz besondere Beziehung hast du zu deinem Pferd Primo. Was ist eure gemeinsame Geschichte? Primo ist mittlerweile schon 24 Jahre alt. Ich habe ihn von meinem verstorbenen guten Freund und Hengstzüchter Bernd übernommen. Primo war in der Herde schon immer ein Leithengst, dem die anderen blind folgten; er ist so weise und dabei nicht wirklich zu greifen – ein mit dem Kosmos sehr verbundener Energetiker. Ich erlebe Primo wie ein Lichtwesen; die anderen Pferde sind eher irdischer, mehr in der physischen Erinnerung. Was ich an ihm als Lehrer schätze, ist, dass er mich wirklich komplett aus dem Kopf herausholt und mir gefühlt Flügel verleiht.
Was können Pferde von den Menschen lernen? Wenn Pferde unter sich bleiben, entwickeln sie sich auf ihre ganz eigene Weise, prägen ihren Charakter aus, bleiben in ihrer Hierarchieposition innerhalb der Herde. Wenn ein pferdegerechter Mensch mit ihnen eine Verbindung eingeht, entsteht etwas Anderes und Neues: Der Mensch kann die Pferde so individuell ansprechen, dass sie ihre Verhaltensweisen verändern, ihren Charakter stärker in die eine oder andere Richtung entwickeln, in der Herde auf- oder absteigen. Durch ihn kommt eine besondere Entwicklungsbeziehung in Bewegung. Diese Transformation geschieht meiner Erfahrung nach in wechselseitiger Verbindung und Verschränkung von Pferden und menschlichen Begleitern.
Du sprichst von »pferdegerechten« Menschen. Es sind wohl nicht alle offen und kollegial den Tieren gegenüber? Genau das ist der Impuls für unser Online-Symposium »Mensch und Pferd im Wandel«, das im Juni veröffentlicht wird: Viele Reiter und Trainer denken in Konkurrenz zueinander und treten auch den Pferden nicht offen gegenüber – im Leistungssport mit Pferden geht das auch gar nicht anders. Mir ist es aber wichtig, dass wir Menschen von den Pferden in ihrer großen Weite lernen können. Im Symposium geht es daher um die Frage: Wie arbeiten andere aus dem Kreis der Kollegen, welche Stärken finden sich in ihren Ansätzen, und wo liegen die Begrenzungen? Mein Ansatz ist, das Freiheitsgefühl meines Pferds zu achten, offen für das zu bleiben, was es anbietet, lange in der Beobachtung zu sein und nicht mit Dominanz und Druck zu arbeiten.
Welche Rolle spielt in deinen Augen das Verhältnis zwischen Mensch und Tier für die Welt? Wenn wir den Lebewesen Achtsamkeit und Respekt schenken, wird unser Leben schöner, lebendiger, reicher und friedlicher werden. Wenn die Menschen die Tiere als Freunde verehren würden – nicht als Nutztiere, sondern als Entwicklungshelfer, als Kraft- und Friedensbringer, dann wäre die Erde doch ein ganzes Stück liebevoller und freundlicher. Das kann man ruhig richtig weit denken. Wir auf Hof Zahrte haben den innigen Wunsch, eine Akademie zu gründen: die »Visionsweg-Akademie« für Menschen, die den Tanz des Lebens und der Gemeinschaft mit der Arbeit im Feld der Pferde verbinden wollen.
Ich danke dir für deine feinfühlige, geerdete Arbeit und freue mich auf den kommenden Wandel von Mensch und Pferd!
Myriam Zahrte (53) wuchs mit Pferden auf und absolvierte Ausbildungen in Sozial-, Waldorf- und Heilpädagogik. Seit 14 Jahren lebt sie auf einem Pferdehof im Schwarzwald. www.hof-zahrte.de