Permakultur

Kuh und Kalb gehören zusammen!

Seit einem Jahr experimentiert der Hof »EmsAuen« mit der muttergebundenen Kälberaufzucht.von Maria König, erschienen in Ausgabe #53/2019
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© Nele Hybsier

»… und jetzt probieren wir, die Kälber bei ihren Müttern zu lassen …« Zu Besuch bei Freunden, schnappe ich diese Worte auf und werde hellhörig. Schon lange beschäftigt mich, dass für die Milch, die ich trinke, Kälber und ihre Mütter voneinander getrennt werden – auch in der Bio-Landwirtschaft. Dass die Kälbchen gesäugt werden, sei für einen Hof, der Milch vermarktet, wirtschaftlich nicht tragbar, versicherte mir bereits vor Jahren ein Freund, der selbst einen achtsamen Umgang mit seinen Rindern pflegt. Vor diesem Hintergrund bin ich neugierig auf die Geschichte von Kristian Lampen und Katharina Heimrath, die im Emsland ­einen eigenen Milchviehbetrieb führen und von denen die zitierte Bemerkung stammt.
Als Kristian 2005 den elterlichen »Hof EmsAuen« zwischen Rhede und Aschendorf übernahm, war er von seinem Demeter-Ausbildungshof in Schleswig-Holstein inspiriert. »Ich hatte den Buschberghof eher zufällig ausgewählt, bin die Liste der Ausbildungsbetriebe in alphabetischer Reihenfolge durchgegangen«, erzählt der heute 40-jährige Bauer. »Dass ich auf diesen Hof kam, war ein großes Glück. So vieles hat mich begeistert. Seit den 1950er Jahren wird dort biologisch-dynamisch mit verschiedenen Tierarten und in Kreislaufwirtschaft gearbeitet. Er gehört zu den ersten solidarischen Landwirtschaften in Deutschland«, schwärmt Kristian – »›in eine solche Richtung soll sich unser Hof auch entwickeln‹, dachte ich damals«. Seine Eltern Thea und Klaus Lampen, die den Betrieb bis dahin konventionell geführt hatten, waren zunächst skeptisch, ließen sich aber auf die neuen Ideen ihres Sohns ein. In dieser Zeit lernte er auch seine zukünftige Lebensgefährtin Katharina kennen – als angehende Gärtnerin im Rahmen der vom Demeter e. V. organisierten »Freien Ausbildung«.
Katharina besuchte Kristian in seinem Zuhause zum ersten Mal im Jahr 2006 und erlebte einen klassischen, auf Milchviehhaltung spezialisierten Betrieb. Hof EmsAuen liegt in Alleinlage zwischen Wiesen, die bis zum Deich der nahen Ems reichen – plattes Land, unterbrochen von ein paar Hecken und Wäldchen; es regnet viel. Katharina war ein paar Jahre lang unsicher, ob dies ihre neue Heimat werden könnte. Kristian versicherte ihr in dieser Zeit, dass er noch viel Potenzial für Veränderungen sehe. Die Umstellung vom konventionellen Milchviehbetrieb zum Biohof betrachte er als einen langen Transformationsprozess, in dem alles möglich sei. Beide ließen sich auf diesen langen Weg ein. Viel Spielraum gab es nicht, schließlich herrschte die »Kuhdiktur«, wie Katharina die zwingend notwendigen, täglichen Arbeitsabläufe auf einem solchen Hof nennt, und die Finanzen waren meist knapp. Die größte Veränderung brachten die Kinder auf den Hof: Im Jahr 2008 wurde Katharinas und Kristians ältester Sohn geboren, bald gefolgt von zwei weiteren Bauernjungs. Hof EmsAuen wurde wieder zum Mittelpunkt einer großen Familie.
Die Bewirtschaftung des Kuhstalls und der 100 Hektar Land bewältigen Kristian und Katharina gemeinsam mit seinem Bruder und den Eltern, Auszubildenden, Praktikantinnen und Praktikanten. Neben etwa 90 Milchkühen und ihren Kälbern – Holstein-Friesen und Schwarzbuntes Niederungsvieh – gehören zum Hof auch einige Schafe, um die sich Vater Klaus kümmert, sowie Hühner, Bienen, Pferde und Obstbäume.

Ein gemeinsamer Weg
»Am Anfang meiner Zeit als eigenverantwortlicher Biobauer wollte ich mit großer Ernsthaftigkeit wirtschaftlich tragfähige Strukturen etablieren, so wie ich es in der Ausbildung gelernt hatte«, erinnert sich Kristian. »Ich bin das eher verkopft angegangen. Erst mit der Zeit habe ich begriffen, dass Landwirtschaft kein ›Zahlenspiel‹ ist. Ich begann, viel über gesellschaftlichen Wandel zu lesen, fragte mich immer wieder, welche Rolle die Landwirtschaft dabei spielt, und so fand ich auch einige englischsprachige Essays des Landwirts und Schriftstellers Wendell Berry. Der beklagt in seinen Texten, wie seelenlos die moderne Agrarindustrie geworden ist. Landwirtschaft habe mit der Beziehung zu einem Ort zu tun, schreibt er, sie sei eben kein number game, kein Zahlenspiel. Diese Erkenntnis verankerte sich über die Jahre hinweg immer tiefer in mir – aber sie blieb doch Theorie, denn die offenen Rechnungen mussten trotzdem bezahlt werden.«
Im Jahr 2015 fassten Katharina und Kristian den Entschluss, eine solidarische Landwirtschaft zu gründen. Sie wollten nicht mehr nur an die Molkerei liefern, sondern Menschen unmittelbar Anteil am Hofleben nehmen lassen.
»Das war eine Bauchentscheidung«, erzählt Katharina. »Beim ersten Treffen mit Interessierten aus der Gegend hatten wir überhaupt keinen fertigen Plan. Damals, das war im Herbst 2016, wussten wir noch nicht einmal, dass wir Gemüse anbauen würden«, erinnert sie sich schmunzelnd, »aber die Leute auf diesem ersten Treffen waren begeistert und machten uns Mut.« Gemeinsam mit einer Kerngruppe entstand in der kalten Jahreszeit ein Konzept, und im folgenden Frühjahr ging es an die Verwirklichung. Neben der Entscheidung, künftig auch Gemüse anzubauen, bescherte eine günstige Fügung der Gruppe, dass eines der neuen SoLaWi-Mitglieder ein pensionierter Käser war. Er erklärte sich bereit, die Milch des Hofs zu Joghurt, Quark und Frischkäse zu verarbeiten.
»Die Vorstellung, Gemeinschaft und Verbundenheit mit den Menschen zu leben, die unsere Nahrungsmittel bekommen, war für die Entscheidung, diesen Weg einzuschlagen, viel ausschlaggebender als der Wunsch, über eine SoLaWi unsere Existenz zu sichern«, ergänzt Katharina. Es ging nicht um ein Zahlenspiel, sondern um das Entstehen einer SoLaWi-Gemeinschaft, die sich mehr und mehr auf dem Hof wie zu Hause fühlte. Das gemeinsame Erntedankfest im Herbst 2017 war für alle ein bewegendes Ereignis.

Dem folgen, was sich richtig anfühlt
In Kristian wuchs das Vertrauen, nicht mehr nur die Excel-Tabellen der Buchhaltung, sondern das gesunde Bauchgefühl als Steuerungsinstrument auch für die Betriebsführung einzusetzen. Schon 2012 hatten sie einmal eine Bauchentscheidung gefällt. »Immer schon störte es mich, dass unsere Kühe ohne Hörner auf der Weide stehen«, erzählt Katharina. Diesem Gefühl zu folgen, zog damals hohe Ausgaben nach sich: Sie mussten den Stall so umbauen, dass die Tiere beim Fressen mehr Platz für ihren Kopf haben, und insgesamt ihre Anzahl reduzieren. Aber das war es ihnen wert und zahlte sich aus: Die Kuhherde wurde entspannter, denn die Tiere konnten über ihre Hörner müheloser miteinander kommunizieren. Von diesem gelungenen Umstellungsprozess erzählten sie auch den neuen SoLaWi-Mitgliedern während der ersten Führungen über den Hof. Viele von ihnen hatten in ihrem Leben kaum Kontakt zu landwirtschaftlicher Praxis. Sie freuten sich zwar über die behornten Tiere, aber der Lebensweg eines Kalbs kam ihnen unnatürlich vor. Es wurde damals kurz nach der Geburt von der Mutter getrennt. Kristian und Katharina erklärten, dass es zum Wesen eines Milchviehbetriebs gehöre, dass die Kälber nicht nach Belieben bei den Müttern trinken dürfen. Sie erzählten von dem Zahlenspiel, dem auch sie sich ausgeliefert sahen: In den ersten Monaten nach der Geburt gibt die Mutterkuh die meiste Milch. In dieser Zeit bringt sie dem Betrieb den größten Ertrag. Anschließend geht die Milchmenge stark zurück. Würde das Kälbchen den wesentlichen Teil der Milch bekommen, bedeute das für den Hof eine geringere Ausbeute. Der Preis für einen Liter Milch müsste bei einer muttergebundenen Aufzucht massiv steigen.
Schon 2016 hatten sich Kristian und Katharina für eine Ammenhaltung entschieden. Dabei verbleiben die neugeborenen Kälber zwei bis drei Tage bei ihren leiblichen Müttern. Anschließend gehen die Mutterkühe wieder in den Melkstall und die Kälber bleiben mit fünf bis sechs erwachsenen Kühen, den Ammen, zusammen. Diese Lösung ist ein Kompromiss: Die Kälber müssen nicht allein in einer Box stehen, und dennoch kann die Milch vieler Kühe genutzt werden. Mit diesem Modell fühlte sich die Kälberaufzucht zwar besser an als zuvor – aber noch nicht wirklich gut.

Verstecken und stromern
Im Mai 2018 ist es dann so weit. Motiviert durch die nun schon ein Jahr bestehende SoLaWi dürfen die ersten Kälbchen bei ihren Müttern bleiben und gehen mit der Herde auf die Weide. Die ersten Tage sind aufregend. Plötzlich sind die Kälber verschwunden. Nachts kehren sie nicht mit den anderen in den Stall zurück – am nächsten Tag sind sie aber wieder da. Es stellt sich heraus, dass sie sich instinktiv in der ersten Zeit Verstecke in den Büschen suchen. Bald darauf stromern sie, da sie noch unter den Zäunen hindurchpassen, als kleine Kälberbande über den Hof, wenn sie nicht bei ihren Müttern trinken.
Inzwischen hat die erste Kuh, die im letzten Jahr ihr Kind bei sich behalten durfte, erneut ein Kalb zur Welt gebracht, und Kristian und Katharina haben ihre Routine mit der neuen Situation gefunden. Fünf bis sechs Tage nach der Geburt bleiben Kuh und Kalb im Stall, um sich aneinander zu gewöhnen, bevor sie mit der Herde auf die Weide gehen. Drei Monate lang können die Kälber dann ungestört von ihren Müttern gesäugt werden. »Die Kälber trinken am Euter mehr Milch, als wenn wir sie aus dem Eimer füttern würden«, erzählt Katharina. »Sie werden größer und kräftiger und sind generell viel gesünder. Außerdem ist uns aufgefallen, dass sie sich im Kontakt mit der Herde viel lebendiger und übermütiger gebärden als zuvor allein in ihrer Kälberbox«. Kristian beschreibt, welche Lösung sie für die Entwöhnung gefunden haben: »Nach drei Monaten wird den Kälbern eine Plastikplatte an der Nase befestigt, die verhindert, dass sie weiterhin an die Zitzen gelangen. Die Milch der Mutterkühe wird ab diesem Zeitpunkt gemolken, die Kälber können aber weiterhin in der Nähe ihrer Mütter sein.« Dass die Kälber nun auch im Boxenlaufstall immer zwischen den erwachsenen Kühen umherlaufen, funktioniere gut.

Wenn es schön ist
Katharina und Kristian sind über das Thema im Austausch mit anderen Höfen, die wie sie selbst zum Verband »Bioland« gehören. In Niedersachsen experimentieren inzwischen einige Betriebe mit der muttergebundenen Kälberaufzucht. Wie lange das Kalb bei der Kuh bleibt, wie lange es gesäugt wird, ob und wann neben dem Säugen gemolken wird – dafür findet jeder Betrieb seine eigenen Lösungen.
Katharina und Kristian züchten als Konsequenz ihrer Erfahrungen zunehmend das Deutsche Schwarzbunte Niederungsrind – eine vom Aussterben bedrohte, alte Haustierrasse. Die Tiere erbringen zwar keine Höchstleistung, aber sie kommen bei guter Milchqualität in zufriedenstellender Menge besser mit den Bedingungen auf dem Hof zurecht als die Holstein-Friesen. Hochleistungsrassen passen eben nicht zu einer natürlichen Aufzucht! Bisher konnte der Hof EmsAuen das »Weniger« an Milchproduktion wirtschaftlich verkraften. Es sei je nach Kuh sehr unterschiedlich, wie viel parallel zum Säugen des Kalbs gemolken werden könne, auch die Milchmenge nach dem Absetzen variiere stark von Tier zu Tier. Die Bauersleute wollen ihr Experiment aber nicht nur von Zahlen abhängig machen.
Die Entscheidung zur muttergebundenen Kälberaufzucht auf Hof EmsAuen ist eine Herzensgeschichte. Kristian ist froh darüber, dass er seinem Gefühl gefolgt ist; für ihn ist der Wert ihrer Entscheidung täglich spürbar: »Mittlerweile hat mehr als die Hälfte unserer Kühe wieder Hörner. Dass die Kälber mit auf der Weide sind, ist für uns ein normaler Anblick geworden. Insgesamt erlebe ich die Herde viel ruhiger und lebendiger. Diese Lebendigkeit färbt auf uns ab. Es ist viel schöner so, und ich bin gespannt, wie es sein wird, wenn die ersten Kälber, die so aufgewachsen sind, selbst kalben.«
Die Mitglieder der Solidarischen Landwirtschaft Hof EmsAuen sind durch diesen Prozess dem Hof noch ein Stück näher gerückt. Ihre Rückendeckung hat den neuen, alten Weg geebnet.


Kontakt oder Höfe in deiner Nähe finden?
www.hof-emsauen.de
www.provieh.de/muttergebundene-kaelberaufzucht

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