Bildung

Das Unerwartbare einladen

Beim Reisen kann sich findendes Lernen ereignen.
von Dorothée Krämer, erschienen in Ausgabe #54/2019
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© Mathijes Poppe

»Ich suche nicht, ich finde.« Diese Worte leiten wohl eine der bekanntesten Aussagen des Malers Pablo Picasso ein und beschreiben eine Einstellung zum Leben, deren Tiefe und Anziehungskraft mich immer wieder bewegt. Picasso versteht das Suchen als »das Ausgehen von alten Beständen und das Findenwollen von bereits Bekanntem«. Finden dagegen sei »ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer«. »Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt.« Während eine Suchende also das vorfindet, was sie sich bereits vorgestellt und erwartet hat, gibt sich eine Findende einer absoluten Offenheit hin und »ent-deckt« das Unerwartete – ja das Unerwartbare. Das kann verstörend sein oder erfüllend, inspirierend oder alles in Frage stellend – aber immer wird es die findende Person verändern.
Vielleicht lässt sich die Unterscheidung Picassos auch auf verschiedene Erfahrungen von freier Bildung übertragen. Manchmal haben Menschen sehr klare Vorstellungen davon, was sie lernen möchten, um ein selbstgesetztes Ziel zu erreichen. Im Sinn Picas­sos könnte man hier vielleicht von einem suchenden Lernen sprechen. Im Artikel »Orte für biographische Seufzer – Wo junge Menschen Freiräume finden« hat Alexander Capistran in Oya 50 über verschiedene Räume und Orte, die dazu Möglichkeiten bieten und zugleich frei sind von den Leistungsansprüchen der Konsumgesellschaft, berichtet.
Aber es gibt auch eine andere Art des Lernens, ein Lernen als Aufbruch in das völlig Neue, das Unerwartete, das Unbekannte – ein findendes Lernen. Wer sich darauf einlässt, kann Erfahrungen machen, die jenseits dessen sind, was er oder sie sich hätte vorstellen oder erwarten können. Dafür sind Offenheit und Empfänglichkeit unabdingbar. Lernen bedeutet dann, sich mit dem, was gefunden wird, auseinanderzusetzen und sich davon verändern zu lassen. Es lässt sich als eine Reise verstehen, von der die Lernende als eine andere Person zurückkehrt – und wann ist man offener und aufnahmebereiter für Neues als auf einer tatsächlichen Reise?
Ich habe mich auf die Suche nach Projekten begeben und mit Menschen gesprochen, die Reisen als Bildungserfahrung verstehen, als »Finden des Unerwartbaren«. Damit möchte ich allen Mut machen, die sich an einem Punkt in ihrem Leben fühlen, an denen etwas Neues gefunden werden will. Sicherlich scheinen viele gute Gründe dagegenzusprechen – aber vielleicht ist es doch möglich, noch heute oder jedenfalls ganz bald den Rucksack zu packen, die Schuhe zu schnüren und auf eine Lernreise ins Ungewisse aufzubrechen.

Im Rhythmus der Natur
Meine erste eigene Begegnung mit dem Lernreisen fand vor sechs Jahren statt. Für einige Wochen schloss ich mich dem Projekt »Classroom Alive« an, einer internationalen Gruppe junger Menschen, die von Skandinavien nach Griechenland wanderten. Der Startpunkt war Järna in Schweden, Heimatort des »International Youth Initiative Program« (YIP), von dem aus die Idee ihren Anfang nahm. Ein fester Kern von drei »Yippies« (ehemaligen Teilnehmenden) entwickelte das Konzept für Classroom Alive und plante die weite Reise. Auf dem Weg kamen immer wieder Begleiterinnen und Freunde aus verschiedenen Ländern hinzu.
Bei Classroom Alive geht es nicht darum, für eine Weile aus dem Klassenzimmer auszubrechen, sondern darum, die ganze Welt als ein lebendiges Klassenzimmer zu verstehen, in dem Lernen selbstbestimmt geschieht, in dem ein achtsamer Umgang in der Gemeinschaft gepflegt wird und in dem die Natur den Ton angibt. Eine Gruppe Gleichgesinnter begibt sich auf eine Wanderung, bei der sich jede und jeder mit einem persönlichen, selbstgewählten Studienthema beschäftigt. Fragen und Aspekte, die sich daraus ergeben, können in die Gruppe getragen werden. Die Wanderer treffen Entscheidungen gemeinschaftlich und achten auf das Wohlbefinden aller im eigenen Körper, in der Gemeinschaft und in der Natur.
Der grobe Tagesplan auf der weiten Reise quer durch Euro­pa sah vor, vier Stunden zu wandern und vier Stunden an den persönlichen Themen zu arbeiten. Als ich mit der Gruppe durch Brandenburg wanderte, nutzte ich die Zeit, um mich intensiv mit der Idee der Gemeinwohlökonomie zu beschäftigen. Andere aus der Gruppe arbeiteten sich in das Wissen über essbare Pflanzen und Heilpflanzen ein oder beschäftigten sich mit der Frage, in welcher Art des Wirtschaftens sie sich gerne verorten würden. Die weitere Zeit verbrachten wir in Gemeinschaft mit Sharing-Runden, Kochen, Spielen und Singen oder in stiller Meditation und Naturbetrachtung. Geld gaben wir nur für Lebensmittel aus. Um hin und wieder etwas Strecke zu gewinnen, wurde getrampt; wir zelteten in der freien Natur, kochten auf offenem Feuer, badeten in Flüssen und Seen. Ich habe mich selten so sehr mit der Natur verbunden gefühlt, habe so sehr unter langen Regentagen gelitten und so sehr die darauffolgenden Sonnenstrahlen genossen wie in jener Zeit. Noch lange nach der Reise fiel es mir leichter, über mein Befinden in einer Gruppe auf Englisch zu sprechen – weil wir dies jeden Tag praktiziert hatten. Bis heute kann ich mich nirgends so konzentriert in aller Tiefe mit einem Thema beschäftigen wie in der freien Natur. Am eindrucksvollsten aber ist mir die Herzlichkeit der Menschen in Erinnerung, denen wir auf der Reise begegneten: die neugierigen Fragen über das Woher und Wohin, die Selbstverständlichkeit, mit der zehn Wasserflaschen nacheinander aufgefüllt wurden oder wir einen Tipp für einen schönen Übernachtungsort bekamen. Wann immer ich Berichte von Reisen in ferne Länder höre, die von großer Gastfreundschaft berichten und mit den Worten schließen, dass so etwas in Deutschland nie passieren würde, wende ich ein: Doch, genau das passiert dir auch in Deutschland, wenn du dich aufmachst, um Menschen fern der Alltagsroutine zu begegnen – wenn du im eigenen Land eine Reisende bist und anderen die Gelegenheit gibst, dir zu helfen.

Begegnung als Lernerfahrung
Für die fünf jungen Menschen des »WanderStudiumGenerale« stand der Wunsch nach Begegnung mit praktizierenden Menschen aus ganz verschiedenen Tätigkeitsfeldern am Beginn ihrer Reise. Um eine selbstbestimmte Entscheidung für ihren weiteren Lebensweg treffen zu können, wollten sie verschiedene Perspektiven auf das Leben nach der Schule kennenlernen. Dafür nahmen sie Kontakt zu Menschen auf, die sie aus unterschiedlichen Gründen inspirierten, fragten sie, was sie gerne an eine Gruppe junger Menschen weitergeben würden, baten sie um ein Treffen, kauften sich ein Auto und fuhren los, quer durch Deutschland und die Niederlande. Sie beschäftigten sich mit der aktuellen Wirtschaftslage, sprachen mit einem Dirigenten über Musik, ­übten sich in Clownerie und vertieften sich in die Philosophie der Moderne. Angeleitet wurden sie dabei stets von Menschen, die ihnen in ihrer Begeisterung für die jeweiligen Themen gegenüber­standen. Nicht nur für die Reisenden ging es also um eine selbstbestimmte Lernerfahrung – sie gaben auch den Menschen, von denen sie etwas lernen wollten, die volle Selbstbestimmung darüber, wie und was sie gerne vermitteln wollten. Auf diese Weise entstand ein gemeinsamer Raum für tiefe Begegnung, in dem alle sich gegenseitig von ihrer Neugier anstecken lassen konnten und sich neue Perspektiven eröffneten. »Auf viele der Themen, mit denen wir uns beschäftigt haben, wäre ich von mir aus gar nicht gekommen«, erzählt Siwan Ristau. »Die Erfahrung, dass jede Person ihre eigene Geschichte zu erzählen hat und dass man sich, wenn man Zeit und Raum dafür hat, von ihrer Begeisterung mitreißen lassen kann, war außerordentlich schön und wertvoll«. In einem Umfeld zu studieren, in dem eine Begegnung mit Dozierenden nur innerhalb einer zweistündigen Sprechstunde bei vorheriger Anmeldung möglich ist, kommt für sie nicht mehr in Frage.
Auch die »Wanderuni« ist aus einer Initiative junger Menschen heraus entstanden, die ihre Bildungswege selbstbestimmt gestalten wollten. Seit 2015 reisen jeweils einzelne Gruppen, genannt »StudienGänge«, in den Sommermonaten von Ort zu Ort, mal zu Fuß, mal auf dem Fahrradbus. Neben der Bearbeitung eines persönlichen Themas stehen hier auch die gemeinsamen Interessen der Gruppe im Zentrum. Statt nur durch das Lesen von Büchern zu lernen, möchten die Teilnehmenden Menschen besuchen, die sich ganz praktisch in verschiedensten Bereichen betätigen und neue Wege im Miteinander, im Umgang mit der Natur und im Wirtschaften gehen.

Alleine ins große Abenteuer
In ein ganz persönliches Abenteuer aufbrechen, angetrieben von der eigenen Neugier und angewiesen auf die Begegnung und Unterstützung von Menschen vor Ort – das möchte die Organisation »zis Stiftung für Studienreisen« jungen Menschen zwischen 16 und 21 Jahren ermöglichen. Die Stiftung, deren Ziele und Werte von der Erlebnis- und Reformpädagogik Kurt Hahns inspiriert sind, vergibt seit über 60 Jahren Reisestipendien. Die Reisenden, die jeweils alleine im Ausland unterwegs sind, erforschen und bearbeiten unterwegs ein selbstgewähltes Thema und erstatten anschließend darüber Bericht. Das Spektrum ist sehr vielfältig, und den Interessen sind keine Grenzen gesetzt: vom Ecovillage in Bulgarien über die aktuellen Friedensperspektiven im Nordirlandkonflikt bis hin zur speziellen Keramikverarbeitung im Südwesten Spaniens oder zum Schutz einer gefährdeten Bienenart in Skandinavien.
Um den Schritt ins wirklich Unerwartbare zu garantieren, gibt es ein paar Regeln: Das Reiseziel soll ohne Flugzeug erreicht werden, weil der Weg selbst als wesentlicher Teil der Reise verstanden wird und die Entfernung zwischen Heimatort und Gastland erlebbar sein soll. Mindestens vier Wochen sind die jungen Menschen unterwegs; dabei soll das Budget von 600 Euro, das die Organisation als Stipendium vergibt, nicht überschritten werden. Eine weitere Herausforderung besteht darin, alleine und auf sich selbst gestellt zu reisen – und so die eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu erfahren.
Nele Feuchter war 2012 als 17-Jährige mit zis-Stipendium in Tunesien unterwegs. Sie wollte der Frage nachgehen, welche Rolle die Frauen in der tunesischen Revolution innehatten und was sich für sie seitdem verändert hat. Heute ist Nele Mentorin bei der Stiftung und unterstützt andere zis-Reisende bei der Vor- und Nachbereitung. Auch sieben Jahre nach ihrer eigenen Reise hat sie viel zu erzählen – es ist offensichtlich, wie verändernd und bereichernd dieses Erlebnis für sie war.
Voller Neugierde, Tatendrang und – wie sie heute sagt – Naivität war sie damals losgefahren. Erst als sie sich per Fähre der tunesischen Hauptstadt Tunis näherte, wurde sie nervös. Sie hatte nichts als die Handynummer und eine über das Internet getroffene Absprache mit einer jungen Frau, die sie abholen wollte und bei der sie wohnen könnte. Was, wenn sie nicht käme? In diesem Moment wurde ihr die eigene Abenteuerlust etwas unheimlich. Doch Rahma war da, und in den folgenden Wochen wurde sie für Nele zur Freundin und zur großen Unterstützung in der Durchführung ihrer Recherche. Nele erlebte ein Land in politischer und ökonomischer Unsicherheit – eine Erfahrung, die ihr bis dahin völlig unbekannt war. Sie musste lernen, mit Klischees gegenüber westlichen Frauen umzugehen, und bemerkte, wie sehr ihre eigene Wahrnehmung von falschen Erwartungen und Vorurteilen geprägt war. Zugleich erlebte sie ein Gefühl weiblicher Solidarität, das sie überraschte und ihr Kraft gab. Sie sprach mit Vertreterinnen von NGOs, Journalistinnen, Politikern sowie mit Frauen, die sie auf der Straße traf und dort um ein Gespräch bat. Heute spricht Nele Arabisch, beschäftigt sich mit globaler Ungleichheit und politischen Konflikten. Sie habe auf der Reise vor allem gelernt, dass sie auf sich selbst vertrauen und auch in schwierigen Situationen gute Entscheidungen treffen könne, erzählt sie. Mit ihrer Gastgeberin aus Tunis ist sie bis heute befreundet. Und wenn sie von ihrer damaligen Naivität spricht, dann schwingt ein Stolz mit, der erkennbar macht, dass Naivität oft nur ein anderes Wort für Mut ist.

Die Angst, loszulassen, und die Gnade des Gehaltenseins
Eine Reise in dem hier vorgestellten Sinn hat einen Wert, den die Menschheit seit jeher kennt und schätzt. In vielen Kulturen gehen junge Menschen alleine auf eine Reise ins Ungewisse, um bei ihrer Rückkehr als Mitglieder im Kreis der Erwachsenen empfangen zu werden. Menschen begeben sich auf Pilgerreisen, um sich mit ihrer eigenen Spiritualität auseinanderzusetzen. Wer Meister eines handwerklichen Berufs werden wollte, ging auf Wanderjahre, um den Blick zu weiten und mehr zu erfahren als die Arbeitsweise des eigenen Meisters (siehe Seite 15). Und Odysseus musste allerhand Unerwartbarem begegnen und sich dadurch verändern lassen, bis er den Weg nach Hause fand.
Reisen in diesem Sinn heißt nicht, jene fernen, exotisierten Orte zu besuchen, »die man unbedingt mal gesehen haben muss«. Eine Lernreise kann vor der eigenen Haustür beginnen, denn wesentlich ist letztlich die Haltung größtmöglichen Offenseins. Wer sich so auf den Weg macht, weiß nicht, was ihn oder sie morgen erwarten wird, und lässt sich in radikaler Weise auf die Freiheit ein. Wo werde ich übernachten? Wessen Hilfe werde ich bedürfen, und wem werde ich helfen können? Welche ungeahnten Perspektiven werden sich mir eröffnen? Auf welche Fragen werde ich stoßen? Vor welchen Herausforderungen werde ich stehen, und was werde ich lernen müssen, um sie zu bewältigen?
»Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen«, sagt Picasso, sei »das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt«.


Classroom Alive
Die Initiative organisiert im August in Barcelona ein Camp, bei dem alles Wissen zum Gestalten einer eigenen Classroom-Alive-Reise vermittelt wird. Dazu bietet die Internetseite auch ein Handbuch sowie Informationen zu aktuellen und vergangenen Reisen. Die lebhafte Classroom-Alive-Gemeinschaft tauscht sich intensiv in sozialen Netzwerken aus.
www.classroomalive.com

WanderStudiumGenerale
Um ihre Erfahrungen auch für andere zugänglich zu machen, haben Marlene Feger, Marlene Schmeel und Paul Benesch ein Buch über ihr WanderStudiumGenerale geschrieben. Es erschien in diesem Frühjahr unter dem Titel »WanderStudiumGenerale. Lernen in Begegnung – Studieren aus innerer Initiative« im Verlag Urachhaus.
www.wanderstudiumgenerale.de

Wanderuni
Auf der Webseite der Wanderuni werden vielfältige Erfahrungen geteilt, zum Beispiel zum Finden von Übernachtungsorten, dem Gestalten der Gruppenkultur und zu Übungen der Wanderpädagogik. www.wanderuni.de
Die Wanderuni ist Teil des Verbands freier Bildungsalternativen.
www.freiebildungsalternativen.de

zis Stiftung für Studienreisen
Die Frist für die nächste Bewerbungsrunde ist der 15. Februar 2020.
www.zis-reisen.de

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