Zu Besuch bei Menschen, die sich auf der Suche nach verbundenem guten Leben neu und wieder beheimaten.von Maria König, erschienen in Ausgabe #57/2020
Meine Freundin Isabel wohnt seit vier Jahren in Bockholmwik, einem Ort mit einer Handvoll Höfen an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. Beim Nachdenken über diese Ausgabe musste ich gleich an Isabel und die lieblich-herbe Landschaft Nordangelns denken: Ich wollte herausfinden, wie sie und die Menschen in ihrem Umfeld sich dort eine Wahlheimat schaffen, sich beheimaten. Welche Rolle spielt dabei dieser besondere Landstrich im äußersten Norden Deutschlands? Wie können wir zu einem Teil der Landschaft, die wir bewohnen, werden? Oder ist es genau andersherum – werden Landschaften zu einem Teil von uns? »Ich habe hier eine wunderschöne Kindheit erlebt und mir gewünscht, dass meine vier Kinder auch am Strand aufwachsen«, erzählte mir Isabel bei meinem Besuch Anfang des Jahres. Im Umzugswagen überkamen sie dann doch Zweifel, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, an ihren Geburtsort zurückzukehren. »Aber als ich die ersten krummen Bäume sah, den Wind spürte und die Salzluft schmeckte, dachte ich ›Meine Erde!‹ und hatte zum ersten Mal seit meiner Kindheit wieder das Gefühl, zu Hause zu sein«. Bockholmwik ist ein Ortsteil der Gemeinde Munkbrarup. Der Hof, auf dem Isabel nun lebt, ist umgeben von üppigen grünen Wiesen und an einem kleinen Strand gelegen. Am Horizont ist die dänische Küste zu sehen. Der Hof besteht aus vier weißgekalkten Häusern, die U-förmig um eine große Rasenfläche angeordnet sind. Große Fensterfronten geben den Blick aufs Meer frei. Die Häuser wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten ausgebaut, so dass heute dort 17 Erwachsene und elf Kinder in mehreren Wohnungen leben können. Es ist kein Hofprojekt und auch keine Lebensgemeinschaft, sondern eine »verbindliche Nachbarschaft«, mit einem Vermieter, dem der ganze Hof gehört. Während einige gern für sich bleiben, begrüßen die meisten ein verbindungsreiches Zusammenleben. Beim Abendessen komme ich mit einigen von Isabels Nachbarinnen und Nachbarn ins Gespräch.
Mystische Knicklandschaft Zum veganen Abendessen mit Pilzpfanne und Reis hat Caro eingeladen, die mit ihren beiden Kindern und ihrer guten Freundin Mia ein halbes Jahr nach Isabel hierher gezogen ist. Mia, 26, ist ebenfalls bei Flensburg als Angehörige der dänischen Minderheit aufgewachsen und kennt den Hof bereits seit zehn Jahren; der Freund ihrer Mutter ist hier Besitzer und Vermieter. »Schon damals gefiel mir der Hof sehr und ich war traurig, dass alle in ihren Wohnungen für sich leben«, erzählt Mia. Caro, 31, zog erst als Jugendliche in den äußersten Norden, fühlte sich jedoch gleich heimisch. Die Hochbrücke bei Rendsburg, auf halber Höhe zwischen Hamburg und Flensburg, nennen fast alle als spürbaren Übergang zu dem, was sich heimatlich anfühlt. Die Brücke verbindet die durch den Nord-Ostsee-Kanal abgetrennte Jütische Halbinsel mit dem Norddeutschen Tiefland. So scheint ein von Menschen vor gut 100 Jahren erdachter Monumentalbau zur gefühlt natürlichen Eintrittspforte in jene Region geworden zu sein. Die Landschaft wird weit, aber nicht flach. Wenige Kilometer dahinter beginnt die Halbinsel Angeln mit ihren typischen hügeligen Knicklandschaften mit verwinkelten Landstraßen, kleinen Äckern und Dörfern. Für Mia strahlt das Land etwas Uriges, Mystisches, »Hexiges« aus. Zwischen der zaubrischen Landschaft und der Eigenart ihrer Menschen sieht Caro einen Zusammenhang: »Die Kontakte mögen anfangs rauher sein, ist aber erst mal eine Verbindung entstanden, empfinde ich die Menschen hier als sehr tief und freundlich. Viele hier sind künstlerisch oder heilkundlich aktiv«. In den vergangenen Jahren folgten Mia und Caro weitere Menschen, die nicht aus der Gegend stammen, auf den Hof. Auch sie berichten mir von ihren Erfahrungen. Der 28-Jährige Beau aus Berlin, der vor allem wegen Caro vor anderthalb Jahren nach Bockholmwik zog, hat sich bei Spaziergängen mit Mias Hund Fleur mit dem nahegelegenen Buchenhain angefreundet. Auf der Suche nach einem Platz, wo ihre erste Tochter zur Welt kommen kann, sind Phillip aus München und Ciara aus dem irischen Tipperary zufällig in Nordangeln gelandet. Für Ciara ist Angeln die Gegend Deutschlands, die ihrer Heimatregion am ähnlichsten ist. Tatsächlich erinnern hier viele Landstriche an die sanft-schroffen Hügellandschaften Irlands und Südenglands. War es ein Zufall, dass es die Angelsachsen – ein Sammelvolk, gebildet aus den hier ansässigen Angeln und den (Nieder-)Sachsen von südlich der Elbe – auf ihrer Völkerwanderung im 5. Jahrhundert zu einer Gegend von ganz ähnlicher landschaftlicher Qualität zog? Als Gestaltende der Landschaft – durch das Anlegen von Straßen, Feldern oder Dörfern – sind Menschen grundsätzlich nicht zu trennen von den Grund- und Endmoränen der letzten Eiszeit, der steifen Brise und den wilden Tieren, die sich ihre für uns fast unsichtbaren Pfade durch die Felder bahnen. Viele der Menschen, denen ich begegne, bringen sich gestaltend in der Region ein. Mia arbeitet etwa im Flensburger Bioladen »Momo«, den Mia mit zwei Freunden nach dem Tod des Vorbesitzers dank eines Crowdfundings übernehmen konnten. »Es war, als ob die ganze Stadt gemeinsam den Laden aufgebaut hätte. Ein Maler kam und meinte, er könne zwar kein Geld spenden, würde uns aber gern beim Streichen unterstützen. Andere bauten Regale. Manchmal mussten wir sogar Helfer nach Hause schicken, weil wir nicht genug Arbeit hatten!«, erinnert sich Mia.
Zu Besuch im Nachbardorf Am folgenden Vormittag fahre ich mit Isabel in die nur zwei Kilometer entfernte Streusiedlung Siegum. Wir sind zum Brunch auf einem Hof bei Freunden der Bockholmwiker eingeladen. Auch Isabels Schwester, Carolin, ist vor ein paar Monaten mit ihrer Familie aus Berlin hierher und damit zurück in die Gegend ihrer Kindheit gezogen. Bei Kaffee, Tee und Marmeladenbrötchen darf ich meine Fragen in der gemütlichen mit Dielenboden, Lehmputzen und verzierten Fachwerkbalken ausgebauten Wohnküche von Christopher und Jule noch einmal stellen. Die liebevolle, ökologische und künstlerische Gestaltung der alten Reetdachkate und zweier Nebengebäude verrät, dass sich die beiden seit dem Hauskauf 2010 intensiv mit dem Ort verbunden haben. Der 56-jährige Christopher lernte Angeln während seiner achtzehnjährigen Tätigkeit als Schiffskapitän kennen. Schon damals faszinierte ihn die Ausstrahlung des Landstrichs, die er auf geologische, geografische und politische Zusammenhänge zurückführt: »Die letzte Eiszeit brachte viel Material von woanders mit, durchmischte es und lagerte es hier ab. Dadurch sind vielfältige neue Strukturen entstanden, die es so vorher nicht gab. Darin sehe ich eine Analogie für die Dynamik und menschliche Vielfalt der Gegend.« In Küstenregionen und Häfen findet ohnehin viel Austausch statt. Auch der Umstand, dass sich in Flensburg der Ochsenweg – ein alter Handelsweg zwischen Dänemark und Deutschland – und die in Ostwestrichtung verlaufende Küstenlinie kreuzen, trägt zu Dynamik und Austausch bei. Während ein nahegelegenes Großsteingrab aus der Jungsteinzeit von der alten Besiedelungsgeschichte kündet, zeugt die deutsch-dänische Grenze von Kriegen und territorialen Verschiebungen vergleichsweise jungen Datums. Obwohl eine Staatsgrenze eine willkürliche Größe ist, hat sich ihre Bedeutung doch tief in die Gefühlswelt der Menschen eingegraben. Für Carolin, deren Heimatgefühl eng mit dem Küstenstreifen zwischen Glücksburg und Kappeln verknüpft ist, gehört auch die Grenze dazu: »Wenn ich am Horizont Dänemark sehe, dann endet etwas und etwas Neues beginnt«, sagt die 41-jährige Filmemacherin. Ich kann sie verstehen, »da hinten« – »Nordschleswig« diesseits, »Sønderjylland« (Südjütland) jenseits der Grenze genannt – fühlt es sich nach »Dänemark« an. Nach wie vor hat die Grenze handfeste Auswirkungen auf das Leben der Menschen, indem sie das freie Weitergehen behindert und hier wie dort »Minderheiten« schafft. Jessy, 38, in Texas geboren und in Norddeutschland aufgewachsen, sitzt mit uns am Frühstückstisch und erinnert sich an 2015: »Als Dänemark seine Grenze schloss, strandeten viele geflüchtete Menschen in Flensburg. Die Leute in der Stadt haben freiwillig und selbstorganisiert in Windeseile eine Auffangstation aufgebaut. Der ganze Bahnhof war belebt und mit Essen, Schlafplätzen und Kleidung ausgestattet!«
Lebensfäden verweben Christopher betrachtet den ganzen Planeten als sein Zuhause, verbindet sich aber dennoch – oder gerade deshalb – intensiv mit dem Ort, an dem er gerade Wurzeln schlägt. Eine alte Kirchspielchronik, die den Ort seit 1600 dokumentiert, hat er fasziniert gelesen und dabei herausgefunden, dass Kinderlosigkeit lange ein Thema auf dem Hof war. Um so mehr freut er sich, dass inzwischen zehn Erwachsene und elf Kinder auf dem Hof leben. Zufällig lernten Jule und er vor einiger Zeit die Nichte eines ehemaligen Hofbesitzers kennen. Sie hatte den Großteil ihrer Kindheit in Siegum verbracht und besaß ein Fotoalbum aus den 1920er Jahren. »Die Bilder zeigen, dass die Menschen diesen Hof auch früher schon geliebt haben«, meint Christopher. »Es gibt hier aber auch einige Müllkuhlen, in denen die Leute ihre ersten Fernseher und Batterien entsorgt haben. Ganz langsam bringen wir hier jetzt andere Impulse ein – es ist schön, dem Ort auch etwas geben zu können.« In dem gemeinschaftlichen Hofprojekt mit Biogarten und ökologischer Bauweise sind Jule und Christopher Besitzer und Vermieter – die anderen sind offiziell Mieter und eingeladen, sich gestaltend einzubringen. Jessy kehrte vor zwei Jahren mit ihren drei Kindern an die Förde zurück und lebt seither in Siegum. »Wir haben kein Konzept, nach dem wir alle leben«, sagt sie. »Vielmehr verweben wir uns alle so miteinander, dass jede und jeder individuell und frei leben kann.« Das gute Zusammenleben wird durch gewisse Hofregeln gewahrt – etwa dass die Kinder nicht auf den Steinhaufen klettern sollen –, die bei Treffen oder auch mal zwischen Tür und Angel getroffen werden. »Wir sind keine Gemeinschaft, sondern eher eine Art Tribe, ein ›Stamm‹, dem auch Menschen angehören, die nur zeitweise hier sind, etwa bei einem Circleway-Camp, das Isabel organisiert«, erklärt Jessy. Über gemeinsame Mahlzeiten, Kennenlerntreffen, informelle Flohmärkte oder gemeinsame Silvesterfeiern pflegen die Menschen aus Bockholmwik und Siegum regen Kontakt nach Flensburg und in die umliegenden Dörfer. »Doch hier ist auch Platz für Menschen, die nur wenig Begegnung suchen, sondern lieber für sich bleiben – auch praktische gemeinsame Projekte oder die Verbundenheit mit dem Ort schaffen Verbindungen zwischen den Leuten«, ergänzt Carolin.
Vom Reisen und Sesshaftwerden Neben dem Verwurzeln tauchen auch das Verreisen und Fortziehen immer wieder als Motiv in den Gesprächen auf. Fast alle sind für einige Jahre in südlicheren Ländern unterwegs oder sogar für kurze Zeit heimisch gewesen. Diejenigen, die in und um Flensburg großgeworden sind, sprechen von der Ambivalenz zwischen Heimeligkeit und Landflucht. Jessy sieht in ihren Reisen eine von Entwurzelung angetriebene Suche. »Da war dieses Gefühl, nirgendwo richtig ankommen zu können. Auf meiner letzten Reise erkannte ich, dass ich auch Illusionen hinterhergereist war. Ich musste erst bei mir selbst ankommen, um mich voll und ganz auf diesen Ort einlassen zu können«. Auch Mia war viele Jahre gereist, bevor sie in die Gegend zurückkommen konnte. »Die Entscheidung, mit Caro und ihren Kindern zusammenzuziehen, war für mich ein herausfordernder Schritt in Richtung Verbindlichkeit«, erzählt sie. Als ich am Tag darauf wieder die Rendsburger Hochbrücke passiere, bin ich noch erfüllt von den offenen Erzählungen übers Ankommen und Heimischwerden in diesem Grenzland zwischen den Zeiten und Elementen. Und ich weiß, ich werde wiederkommen.