Wie kann mensch Liebe lernen?
E inmal im Jahr geht es mit der Liebesschule Potsdam hinaus in die Natur. Jungen und Mädchen zwischen elf und dreizehn Jahren machen eine Entdeckungsreise – zu sich selbst und zum anderen Geschlecht.
Weltweit ist der Hebammenberuf bedroht. In den meisten Ländern wächst die Zahl der Kaiserschnitte rapide und übersteigt die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation bei weitem. Mit steigenden Kaiserschnittraten erhöhen sich auch Müttersterblichkeit und die Gefahr schwerer Geburtsverletzungen. Dies schürt wiederum Geburtsängste. Ich habe Privatkliniken in Brasilien besucht, in denen 95 Prozent der Neugeborenen per Kaiserschnitt zur Welt kommen, weil Frauen wie Ärzte Angst vor dem natürlichen Geburtsvorgang haben.
Wenn chirurgische und technologische Eingriffe bei der Geburt nicht Ausnahme, sondern Regel sind, verliert die Hebammenkunst ihre Existenzgrundlage. Gleichzeitig verlieren wir altes Wissen und traditionelle Kenntnisse, die vonnöten sind, um vaginale Steißgeburten oder Zwillingsgeburten durchzuführen, um das Gewicht eines Fötus manuell zu bestimmen, um zwischen normalen Geburtsschmerzen und solchen, die vor Komplikationen warnen, zu unterscheiden, um die Stellung des Kindes im Bauch zu erspüren und gegebenenfalls zu korrigieren oder um eine Schwangerschaft korrekt zu diagnostizieren: Denn in den USA wurden Scheinschwangerschaften in mehreren Fällen erst als solche erkannt, als der Bauch der Mutter bereits per Kaiserschnitt geöffnet worden war. Vor zwei, drei Jahrzehnten, als Mediziner noch in manuellen Fähigkeiten ausgebildet wurden, wären Fehler dieser Tragweite undenkbar gewesen. In den 90er Jahren wurde das Phänomen Scheinschwangerschaft in den beiden in den USA maßgeblichen Lehrbüchern für Geburtshilfe mit keinem Wort erwähnt, obwohl es seit jeher bei menschlichen und anderen Säugetieren auftritt. Nur ein Land, dessen Technologiehörigkeit abergläubische Züge angenommen hat, kommt auf die Idee, der Einsatz von Ultraschall mache traditionelle manuelle Diagnostik überflüssig und könne alle Komplikationen während der Schwangerschaft beseitigen.
Wider die Rhythmen der Natur
Die Geschichte der Geburt in den USA des 20. Jahrhunderts zeigt, wie wichtig ein starker Hebammenstand ist, damit Frauen nicht Ängsten über angebliche Mängel ihres Körpers erliegen. Die Dezimierung der Hebammen zu Beginn des letzten Jahrhunderts ebnete den Weg für ein industrialisiertes Modell der hospitalisierten Schwangerschaftsbetreuung. Das Ergebnis: In den 50er Jahren wurden zwei Drittel aller Kinder mit Geburtszangen aus dem Mutterbauch gezogen. Ohne Hebammen gab es niemanden in den Krankenhäusern, der Medizinstudenten die Weisheit der Natur lehrte. So gelangten Männer, die kein Verständnis für die Umgebung hatten, in der Frauen auf gute Weise gebären, bald zu der Überzeugung, dass die Geburt zwingend eine brutale und blutige Angelegenheit und das weibliche Exemplar der Spezies Mensch ein Fehler der Natur sei, der nur durch Technologie und Medikation zu beheben sei. Die Geburt wurde von Profitstreben, Angst, Gier und Unwissenheit überlagert, und es begann eine regelrechte Hexenjagd auf Hebammen, die den Rhythmen der Natur folgten. So entstand die Überzeugung, Babys kämen am sichersten zur Welt, wenn dem Körper der Mutter absichtlich Verletzungen zugefügt würden, um das Kind zu befreien und um schlimmeren Verletzungen vorzubeugen. Solche Märchen werden leider durch Hollywoodfilme genährt, die sich aus dramaturgischen Gründen auf Geburtskomplikationen konzentrieren und die physiologische Geburt wegen Tabus bei der Darstellung weiblicher Körperteile nicht zeigen.
Als Mutter, die wusste, dass an ihrem Körper nichts verkehrt war, suchte ich nach Auswegen für meine folgenden Geburten. Ich wusste, dass die Zangengeburt meines ersten Babys nicht nur unnötig, sondern auch riskant und psychologisch schädlich für mich und mein Kind gewesen war und obendrein keinen Vorteil gebracht hatte. Der einzige Weg, der mir einfiel, war, mir selbst eine Hebammenausbildung zu organisieren. Dank der Unterstützung von vier Ärztinnen, die zur selben Zeit ebenfalls den Bedarf an Hebammen in den USA erkannten, gelang mir dies. Neben wohlmeinenden Ärzten lernte ich von traditionellen Hebammen, die nicht lesen und schreiben konnten, aus alten Büchern und von Tieren.
Von Anfang an stellten wir am Farm Midwifery Center die Bedürfnisse der Frauen ins Zentrum unserer Entscheidungen. Wir erkannten, dass eine solche Geburtsbetreuung ein enormer Gewinn für Kind und Mutter ist und lernten, wie sich durch vorgeburtliche Betreuung Komplikationen, unnötige Kaiserschnitte und künstliche Geburtseinleitungen vermeiden ließen. In anderen Teilen der Welt gab es ganz ähnliche Ansätze: Die Hebammen, die mit dem kürzlich verstorbenen Dr. John Stevenson in Südaustralien oder zwischen den 60er und 80er Jahren mit Dr. Alfred Rockenschaub in Wien gearbeitet hatten oder heute noch mit Dr. Tadashi Yoshimura im japanischen Okazaki arbeiten – sie alle berichteten von Kaiserschnittraten deutlich unter 5 Prozent und ansonsten guten Geburtsverläufen. Erstaunlich, dass wir anfangs nichts voneinander gewusst hatten. Leider wurde die Arbeit dieser Ärzte, die unsere Hochachtung verdienen, in Kollegenkreisen nicht gewürdigt, sondern als ewiggestrig und irrelevant abgetan.
In Industrieländern kommen ein Drittel und mehr aller Kinder per Kaiserschnitt zur Welt, obwohl Hebammen seit jeher anerkannte Begleiterinnen der Geburtsbetreuung sind. Dabei wird oft vergessen, dass die Gefahren des exzessiven Einsatzes von Kaiserschnitten über den Verlust von Hebammerei und geburtshilflichem Wissen hinausgehen: Übersteigt der Anteil von Kaiserschnitten 15 bis 20 Prozent, so steigt auch die Zahl der Mütter, die an Komplikationen wie Lungenembolien, Infektionen, Blutungen und stark erhöhten Plazentaanomalien bei Folgeschwangerschaften sterben. In keinem der Länder mit den höchsten Kaiserschnittraten ist die Müttersterblichkeit niedrig. Insbesondere trifft dies auf die USA zu, wo Gebärende heute mindestens doppelt so gefährdet sind, an Schwangerschaftskomplikationen zu sterben, als noch ihre Mütter. In Kalifornien verdreifachte sich die Müttersterblichkeit zwischen 1996 und 2006, größtenteils aufgrund des übermäßigen Einsatzes von Kaiserschnitten. Mangels einer Infrastruktur für exakte und kontinuierliche Berichterstattung und Analyse spiegelt die offizielle Statistik womöglich nur die Hälfte oder gar nur ein Drittel der tatsächlichen Müttersterblichkeit wider.
Torhüterinnen der Schwangerschaftshilfe
Um solche Probleme zu vermeiden, sollten Länder mit steigenden und überdurchschnittlichen Kaiserschnittraten versuchen, diesen Trend durch positive Maßnahmen umzukehren. Hebammen sollten Torhüterinnen der Schwangerschaftshilfe sein, anstatt erst im späteren Schwangerschaftsverlauf oder gar nicht zu den Müttern vorgelassen zu werden. Ein solches Betreuungsmodell weiß darum, dass sich das Vertrauen von Frauen und ihre Fähigkeit, zu gebären und zu stillen sowie die Fähigkeit der Neugeborenen, an der Mutterbrust zu saugen, je nach Schwangerschaftsbetreuerin und Geburtsumgebung verstärkt oder verringert. Deshalb sollte die Schwangerschaftsfürsorge den Bedürfnissen des Mutter-Baby-Paars stets Vorrang vor den Bedürfnissen von Betreuern, Institutionen oder Medizin- und Versicherungswirtschaft geben.
Hebammen müssen einen wesentlichen Anteil an der Entscheidungsfindung in der Schwangerschaftsfürsorge haben. Die Betreuung sollte individuell bedacht und respektvoll an die Bedürfnisse einer jeden Frau angepasst werden. Ohne die Bedrohung durch eine dominante Medizinwirtschaft, die selbst wiederum von einer mächtigen Versicherungs- und Krankenhauswirtschaft beherrscht wird, können Hebammen eine Betreuung anbieten, die sich an dem Grundsatz orientiert, dass Frauenrechte und Kinderrechte Menschenrechte sind. Ein grundlegendes Menschenrecht ist der Zugang zu humaner und effektiver Gesundheitsversorgung. Unabhängige Hebammen müssen von ihrer Arbeit leben können – deshalb sollten ihnen Versicherungsunternehmen nicht übermäßig hohe Beiträge berechnen dürfen.
Vor allem in Ländern, in denen Hebammen im Gegensatz zu Ärzten und Konzernen wenig oder keinen Einfluss auf Entscheidungen haben, werden unter Frauen Ängste vor ihrem Körper geschürt. Dazu braucht es nicht viel, denn Ungleichgewicht, Angst, Unwissenheit und Gier verstärken sich gegenseitig, und so steigt die Zahl unnötiger Eingriffe bei der Geburt stetig. Unter den Folgen haben die Frauen und Säuglinge zu leiden. Die Geburtsvorsorge darf also nicht einfach durch Profit motiviert sein. Ansonsten werden Anreize zur Erzeugung, nicht zur Vermeidung von Problemen geschaffen.
Mütter und Kinder zuerst
Würden alle Länder das Wohlergehen von Mutter und Kind ins Zentrum der Schwangerschaftsbetreuung stellen, würde die Hebammenkunst eine Renaissance erleben. In manchen Ländern, so auch in meinem Heimatland, muss die Anzahl an Hebammen deutlich gesteigert werden, damit Komplikationen vermieden und die Zahl medizinischer Interventionen bei der Geburt gesenkt werden können. Für diesen Übergang benötigen wir viele Geburtsbegleiterinnen, die in die wichtigsten Entscheidungen um den Geburtsprozess eingebunden sind. In Ländern, die derzeit von der klinischen Geburtshilfe dominiert werden, gilt es, wieder ein ausgewogenes Verhältnis herzustellen. Hebammen dürfen nicht zulassen, dass sie von Geburtshelfern schikaniert werden, sonst sind die Gebärenden die nächsten, die schikaniert werden.
Versuche, Hausgeburten in einem Land zu verbieten, lenken nur von den wirklichen Problemen ab und verschärfen diese. Geplante Hausgeburten dienen gesunden Frauen, die sich nicht mit dem Angebot des örtlichen Krankenhauses zufrieden geben, als notwendige Ausweichmöglichkeit und bieten Hebammen, die ihre Kenntnisse an natürlich gebärenden Frauen erproben möchten, eine Lernmöglichkeit. Hebammen für Hausgeburten werden fast überall in die Illegalität getrieben, selbst in den Niederlanden, wo betreute Hausgeburten eine lange Tradition haben. Die Entwicklung eines Landes lässt sich daran messen, inwieweit es das Recht Gebärender auf ein Geburtserlebnis, bei dem die Frau im Mittelpunkt steht, respektiert – ob die Geburt nun zu Hause oder im Krankenhaus stattfindet.
Geburten sollten nicht als lukrative Ware betrachtet werden oder als Krankheit, bei der große Institutionen oder Regierungen Frauen vorschreiben, wie sie gebären sollen, ohne auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Mütter einzugehen. Andernfalls werden Frauenkörper allzuoft Männern anvertraut, die sie herumkommandieren – etwas, das keine andere Säugetierart erlaubt. In manchen Ländern unterstehen die Hebammen der totalen Kontrolle der Mediziner. Gerade dort sind Verordnungen für die Betreuung von Schwangeren von besonderer Grobheit. Es ist Zeit, diesem Verhalten ein Ende zu setzen – einem Verhalten, das traditionelle, indigene Völker nicht zulassen würden. Von ihnen müssen wir lernen.
Dankesrede zur Verleihung des Right Livelihood Awards 2011, übersetzt und leicht gekürzt von Matthias Fersterer.
Ina May Gaskin (72) gilt als berühmteste Hebamme der Welt. Seit über vier Jahrzehnten studiert sie die Hebammenkunst und setzt sich für das Recht von Mutter und Kind auf eine natürliche, humane Geburt in selbstbestimmter Umgebung ein. In ihrer Arbeit ermutigt sie Mütter, durch Ängste überlagertes Vertrauen in ihren Körper zurückzugewinnen, warnt vor blinder Technologie- und Medizingläubigkeit und verleiht Hebammen in aller Welt eine Stimme. Gemeinsam mit Kolleginnen gründete sie »The Farm Midwifery Center«, eines der ersten außerklinischen Geburtshilfezentren in den USA, wo sie über 1200 von insgesamt gut 3000 Geburten persönlich begleitete. Ihr 1975 erschienenes Buch »Spiritual Midwifery« war bei Erscheinen ein Bestseller, der die Hebammerei ins öffentliche Bewusstsein rückte und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Das »Manöver nach Gaskin«, eine auch als »Vierfüßlerstand« bezeichnete Gebärposition, die sie in den 70er Jahren von einer guatemaltekischen Hebamme erlernte, wurde fester Bestandteil der Geburtshilfe. 2011 wurde Ina May Gaskin mit dem Right Livelihood Award für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Sie ist mit Stephen Gaskin verheiratet. Das Ehepaar lebt in Tennessee in der von ihm maßgeblich mitbegründeten intentionalen Gemeinschaft »The Farm«.
www.inamay.com
E inmal im Jahr geht es mit der Liebesschule Potsdam hinaus in die Natur. Jungen und Mädchen zwischen elf und dreizehn Jahren machen eine Entdeckungsreise – zu sich selbst und zum anderen Geschlecht.
Wo kann man das noch, lauter leben? Wo haben Kinder jede Menge Platz und dürfen nach Herzenslust abenteuern und toben? Wo lebt man auf Tuchfühlung mit der Natur und nimmt sich Zeit füreinander? Im Dorf Kanin bei Beelitz, Landkreis Potsdam. Das Wohnprojekt »Lauter Leben« versucht, zu leben, wovon viele träumen. Einen Tag lang nahm Lea Gathen am Leben der Gemeinschaft teil.
Mit wachen Sinnen lag ich in einem Gästezimmer des modernen Geburtshauses, das die Hebamme Dorothee Heidorn 1985 eröffnet hatte. Es muss wohl gegen vier Uhr gewesen sein, als in den Nebenräumen Schritte zu vernehmen waren. Bald darauf setzte ein Gesang ein, die Laute A-O-U-M klangen