Titelthema

Freundinnen im Niemandsland

Die aufregende Begegnung verschiedener Lebensstilevon Tatjana Bach, Ingrid Weber, erschienen in Ausgabe #2/2010

Tatjana Bach  Kürzlich hast du mir erzählt, wie du als Lidlmarkt-Einkäuferin deinen ersten Besuch in einem Ökoladen erlebt hast. Du wagst neue Wege, ohne dich selbst zu verraten, du wendest dich – sehr ungewöhnlich für eine Christin –, der Schoßraum-Frauenarbeit zu. Auf meine Frage hin, ob du mir dazu ein Interview geben magst, hast du eher abgewunken. Warum meinst du, sei das das nicht möglich?
Ingrid Weber  Schwierig! Man spricht ja ­eigentlich nur über ein Gebiet, in dem man sich sicher ist, sich als Expertin ­bezeichnet, oder nicht? Ich befinde mich aber gerade irgendwo mittendrin. Es fühlt sich ein bisschen so an, als machte ich Schritte im Niemandsland. Wer geht schon gerne mit seinen Prozessen und damit seiner Verletzlichkeit an die Öffentlichkeit? Solche Findungsphasen sind ja eher etwas Geheimnisvolles, Verborgenes. Man teilt sie, wenn überhaupt, mit wenigen Menschen. Aber vielleicht habe ich auch einfach nur Angst, irgendeiner Sache nicht gerecht zu werden. Wenn du weiterfragen willst, frage. Vielleicht kann ich dir antworten.
TB Magst du beschreiben, wie du noch vor zwei Jahren gelebt hast?
IW Eigentlich ziemlich normal und zufrieden. Ich war glücklich verheiratet, hatte einen tollen Beruf. Um uns herum waren liebe Freunde, Bekannte und unsere Familie. Seit langer Zeit schon pflege ich eine tiefe Beziehung zu Gott, fühlte mich auch damals im Leben getragen und hatte eine Vision für mein Leben.
Es war aber kein wirklich gutes ­Leben, ich litt ständig unter starken Rücken­schmerzen. Mein ganzer Körper war eine einzige Anspannung und Abwehr. Ich musste Tabletten nehmen, um arbeiten und leben zu können. Vor zwei Jahren hatte bei uns auch eine Umbruchphase begonnen. Mein Mann und ich hatten eine christliche Gemeinde verlassen, um unserer Idee von Glaubensgemeinschaft im kleineren Kreis nachzugehen. Für uns als aktive Gemeindemitglieder in Leitungspositionen war das ein großer Schritt.
TB Mich beeindruckt, dass du dich in unserer Frauenarbeit sozusagen in »Feindesland« begibst. Die klassische Christin hat doch – zumindest in meiner Vorstellung – ein Verhaltensregelwerk, Normen, Moral, nach denen sie sich ausrichtet, und dazu gehört nicht unbedingt das unbefangene Erforschen weiblicher Energie. Mich beeindruckt, dass du dir trotzdem sicher bist, in all diesen Prozessen von Gott geführt zu sein.
IW Gegenfrage: Woher kommt es, dass du meinst, im Feindesland zu wohnen bzw. dem Gegenbild des klassischen Christentums zu entsprechen?
TB Na ja, ich biete Frauengruppen an, in denen wir Göttinnen anrufen oder uns mit dem Schoßraum beschäftigen. In meiner Vorstellung ist das für Christen tabu. Und deine christlichen Brüder und Schwestern fehlen dort in der Gruppe …
IW Geschwister sind schon hilfreich, aber sie nehmen mir nicht die Verantwortung vor Gott ab. Dort muss jeder letzten Endes alleine stehen. Normen und Moral empfinde ich übrigens als menschengemacht. Es ist wohl tatsächlich so, dass ich mich weiter hinauswage als andere Christen. Der Weg für mich bleibt schmal, ich kenne auch Zweifel – gegenüber Gott, aber auch in Hinblick auf meine Freunde oder sogar meinen Mann. Wie werden sie reagieren? Wem kann ich von meinen Erfahrungen in der Frauengruppe erzählen und wem nicht? Was, wenn es existenziell wird? Aber irgendetwas zieht mich. Einige Dinge in den Gruppen lasse ich aber auch bewusst aus. Für Meeresgöttinnen kann ich zum Beispiel keine Lieder singen. Da respektiere ich das »Gott-Alleinstellungsmerkmal« meines christlichen Glaubens. Mein Herz gehört nun mal ihm.
TB Gibt es Zeichen für dich, die du in deinem Leben so deuten kannst, dass du dich auf einem lauteren Weg fühlst?
IW Ja, meine Schmerzen sind tatsächlich viel weniger geworden. Nachdem das erreicht war, hätte ich auch sagen können: »Danke und auf Wiedersehen«. Doch wunderbarerweise war ich inzwischen dabei, eine völlig neue Ebene für mich zu entdecken, und diesen Prozess wollte ich keines­falls abbrechen. Nun stecke ich schon mittendrin in einer meiner heilsamsten, verrücktesten und lehrreichsten Zeiten, obwohl ich eigentlich gar nicht danach gesucht habe.
TB Was war denn so verrückt?
IW Verrückt sind für mich die dramatischen, ungeplanten Veränderungen. Es hat sich so viel verändert, dass ich selbst einen kleinen Schreck bekomme, wenn ich mal nur ein Jahr zurückblicke. Allein die Tatsache, dass ich mittlerweile schon eine Frauengruppe mitgemacht habe, ist schon verrückt. Früher habe ich mir darunter einen Treffpunkt schräger Emanzen, die unbedingt ohne Männer auskommen wollen, vorgestellt. Inzwischen bin ich durch die Begegnung mit meinem Körper in den Massagen zum Thema »Weiblichkeit« gelangt. Ein großer Schritt, denn Weiblichkeit war früher bei mir eine abgesperrte Baustelle. Anstelle der Scham von früher ist heute schon mehr Gelassenheit getreten. Es tat sich ein Weg der Heilung für mich auf, den ich übrigens auch gottgeführt und in seinem Sinn erachte – dass jede Frau auch Frau sein kann, nicht weil sie es muss, sondern weil sie will!
TB Ist mein Eindruck richtig, dass in den herkömmlichen christlichen Gruppen die Sinnlichkeit, das »Fühlen, Schmecken, Riechen«, dieses »die Materie des Menschseins feiern«, keinen großen Stellenwert hat?
IW Sicher, der Fokus ist zunächst Gott, man feiert ihn. Das ist sehr schön und kann allein schon viel Heilung erwirken. Den ­Aspekt der Sinnlichkeit fand ich dort aber tatsächlich etwas »außen vor«. Vielleicht hat man Angst, in etwas »Sündiges« abzurutschen, wenn Sinnlichkeit ins Spiel kommt? Im christlichen Kontext wird in der Regel einer Person, die frontal zur Gruppe spricht, zugehört. Begegnung, Wahrnehmung oder Berührung finden nur ganz minimal statt. So kommt das Ganze dann eher theoretisch daher. Du lernst über das Thema Weiblichkeit vielleicht die »zehn wichtigsten Eigenschaften einer Frau« – aber was dann?
TB Ja, da endet dann normalerweise die Unterrichtung, da fehlt wohl die sinnliche Praxis und der sogenannte freie Umgang mit Sexualität.
Durch meine biografische Prägung komme ich aus der genau entgegengesetzten Richtung, was nicht bedeutet, dass der Weg dann einfacher wäre. Meine Eltern waren Teil der wilden 68er-Bewegung. In meiner Kindheit bin ich daher in einem »freien« Umgang mit Sinnlichkeit und ­Sexualität aufgewachsen. Nackt baden zu gehen, gehörte bei mir zum Beispiel auch noch als Erwachsene zum guten Ton. Meine Schamgefühle und mein Schutzbedürfnis nahm ich lange nicht wahr, dabei war es unter diesem »freien« Deckmantel sogar zu Übergriffen und Missbrauch gekommen. So gesehen, bewegen wir uns beide gerade aufeinander zu: Du öffnest dich behutsam für sinnliche Erfahrungen, und ich lerne mehr und mehr, mich abzugrenzen, meine ursprünglichen Bedürfnisse wahrzunehmen. Genau wie bei dir ist das wie eine Mutprobe. In der Gemeinschaft, in der ich seit ein paar Jahren lebe, gab es für mich mehrere Sommer lang richtig mutige Momente zwischen all den nackt badenden »freien Menschen«. Ich musste Mut dafür fassen, bedeckt zu bleiben und mich dabei nicht schlecht zu fühlen.
Wie gehst du denn vor in deinem nahen Umfeld? Wie schaffst du es, Inspiratio­nen aus »meiner« Welt in »deiner« Welt zu installieren?
IW In meiner Ehe sind die Veränderungen, die ich erlebe, tief, aber eher unspektakulär. Inspirationen setzen sich, wenn, ganz von alleine um. Es ergibt sich dann auf natür­liche Art und Weise aus dem Zusammen­leben.
TB Und dein Mann hat dir zu Weihnachten Massage-Utensilien geschenkt, nicht?
IW Ja! Und ein Frauenbuch: »Die jüdische Mutter«.
TB Kürzlich tauchte doch ein Kamasutra-Buch in eurem Umfeld auf. Erzähl nochmal von diesem Erlebnis …
IW Interessant, dass dich diese Geschichte nicht loslässt … Ich war mit meinem Mann bei Bekannten eingeladen und entdeckte ein Buch über Kamasutra im Bücher­regal. Es wurde herausgeholt, und wir blätterten zusammen darin, lasen auch etwas vor. Unter anderem fielen dann die Begriffe Yoni und Lingam. Ich merkte beiläufig an: »Schöne Namen, oder?« Und es sind doch auch viel schönere Bezeichnungen als unsere deutschen Worte, die ich meist unpassend oder gar abstoßend finde. Am Abend hörte ich dann von meinem Mann: »Leguan … was war das mit Leguan?« Und ich sagte nur: »Leguan? Ist doch ein Tier, oder?« Ich fand das so süß und denke, es ist ihm vielleicht Anlass zu eigenen Nachforschungen geworden. Aber aktiv dafür getan habe ich nichts.
TB Mir fällt immer wieder auf, mit welcher Sanftheit du unbeirrbar neue Inspirationen in dein Leben einspeist nach dem Motto »steter Tropfen höhlt den Stein«. Das inspiriert mich, da kann ich viel von dir lernen. Bisher lebe ich Veränderungen vollkommen anders – mit klaren, schnellen Brüchen. Aber diese rigorose Konsequenz ist für mich als Mensch manchmal zu hart. Meine Seele konnte manches Mal nicht mitkommen, und ich habe mich und andere überfordert.
IW Ja, eine Veränderung setzt sich für mich aus vielen, kleinen Erkenntnissen zusammen. Die Schritte, die man dafür tut, empfinde ich als nahezu ­unscheinbar. All die vielen Schritte sind aber ein stetiger Fluss, der weit trägt. Ich mag die Holzhammermethode nicht. Jede noch so sanfte Veränderung zieht doch irgendwann sichtbare Konsequenzen nach sich. In der Auseinandersetzung mit diesen Konsequenzen fängt dann die Arbeit an, und ich frage mich, wie ich praktische Angelegenheiten in meinem alltäglichen Dasein verändern kann, wie beispielsweise anders einzukaufen.
Bis vor kurzem hatte ich wohl das falsche Bild von Ökomärkten. Nachdem wir von Freunden erfahren hatten, dass es so einen Laden auch in unserer Kleinstadt gibt, haben mein Mann und ich dorthin einen Ausflug gemacht und waren überrascht, welch große Auswahl dort vorrätig ist. Aber regelmäßig kaufe ich dort nicht, noch siegt der Komfort über die Konsequenz. Aufgrund der weiten Entfernung halten wir zunächst bei unserem Discounter nach Bioprodukten Ausschau. Wir haben jetzt endlich auch zu einem grünen Stromanbieter gewechselt. Neue Ideen, wie das Grundeinkommen, werden Diskussionsstoff – das sind alles kleine Schritte.
TB Bei mir gehört zu den kleinen Schritten vor allem mein achtsamer Umgang mit mir selber. Ich übe mich täglich darin, die Dinge langsamer zu tun, mich wahrzunehmen, mich nicht zu übergehen. Das bringt eine neue Ruhe in mein Leben, erfordert aber auch viel Mut und Konsequenz, wenn ich zum Beispiel rechtzeitig »Stop« sage, bevor meine innere Lawine losgeht.
IW Ich erlebe gerade, dass achtsame Berührung alte, mit Schmerzen behaftete körperliche und seelische Strukturen mit neuen, positiven Informationen versehen kann. Das hat für mich ein weites Forschungsgebiet eröffnet, das vor allem Schönheit zutage treten lässt, bei mir wie bei anderen. Ich möchte die alten Brunnen wieder ausgraben. Schon jetzt erkenne ich, wie sehr Gott uns Frauen schätzt und innig liebt. Jesus hat die »unreine«, blutflüßige Frau berührt und sogar geheilt, was gegen Gesetz und gute Sitte verstieß. Ich denke, ich kann spüren, dass Gott die Frauen in ihrer und damit zugleich in seiner Kraft wissen will.
Schon viele Jahren bete ich mit und für erkrankte Menschen um Heilung und Wiederherstellung. Manchmal singe ich die Gedanken und Worte Gottes über ihnen, lege Hände auf. Aber nun eröffnen sich mir dazu viele neue Möglichkeiten: Berühren, den Körper bewegen, im Arm halten oder auch mal eine zweistündige Massage. Was in diesen Stunden, in denen ich Menschen begleite, passiert, ist wie ein großer Fluss, und wunderschön ist es, zu erleben, wie Gott selbst damit Menschen durch mich berühren kann. Es ist mir ein großes Bedürfnis, das weiterzugeben und praktisch erfahrbar zu machen. Vielen christlichen Frauen kann solche Berührung echte Befreiung und Heilung sein. Also schauen wir, ob es eines Tages so etwas wie eine »christlich-sinnliche« Frauengruppe geben wird. Vielleicht ja dann auch mit dir zusammen ...  

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