Elena Rupp porträtiert die Aussteigerin und Weltenbummlerin Ingrid Ullrich.von Elena Rupp, erschienen in Ausgabe #18/2013
»Ich bin etwas im Zwiespalt«, offenbart Ingrid beim ersten Telefonat: »Kann ich ›du‹ sagen?« Das findet sie schon komisch, jemanden mit »Sie« anzusprechen und dabei Persönliches zu erzählen. Also gut. Wann ich denn kommen könne? »Och, ich hab’ ja Zeit. Ich bin ein seltenes Exemplar!« Sie lacht. Meine nächste Frage macht sie stutzig. »Mit dem Zug – hierhier?« Dann lacht sie wieder. Da hätte ich mir ja was vorgenommen. Pampa sei das hier! Absolute Pampa. Und mit dem Schienenersatzverkehr … Nun ja. »Du willst aber nicht am selben Tag zurück, oder?« Na, eigentlich … »Ach, weißt du was, übernachte doch einfach bei mir«, schlägt sie geradeheraus vor.
Die 49-Jährige lebt in dem kleinen Dorf Hohenbüssow in Vorpommern. Am Ende einer der wenigen Straßen liegt ein kleines, verwildertes Grundstück, auf dem ihre beiden Bauwägen stehen. »Macht’s euch erstmal gemütlich«, sagt sie, als wir zu zweit bei Ingrid ankommen. (Mit dem Auto – nicht sehr klimaneutral, aber kaum vermeidbar.) Die zierliche Frau macht sich wendig an einem kleinen, schwarzen Öfchen zu schaffen, bis die Glut gleichmäßig glimmt und sich eine wohlige Wärme im zugigen Gästewagen ausbreitet. Hier draußen legt sich die Dunkelheit schon früh wie eine dichte, weiche Decke über die Landschaft. Ingrid möchte uns über das Gelände führen, solange es noch hell ist. Der Herbstnebel scheint die Bäume und die struppig aufragenden Halme und Sträucher ringsum geradezu steifgefroren zu haben. An einigen bereits kahlen Birken vorbei kommen wir an ein altes Holzgerippe mit von der Witterung vergilbtem Plastikdach: Darunter stand früher Ingrids Bauwagen – mit Blick auf eine wuchtige, stolz ihre Astkrone ausspannende Eiche. Von einem der Balken baumelt noch ein ausgeblichener Korbsessel. Viel Zeit, das Grundstück zu pflegen oder einen Garten anzulegen, bleibt Ingrid offenbar nicht: Sie ist viel unterwegs. Umso mehr Sorgfalt scheint in dem Mandala zu stecken, bei dem sie haltmacht. Mehrere Armlängen groß, spannt es sich auf der Erde unter der morsch-grauen Holzvorrichtung aus, die wohl mal die Terrasse gewesen sein mag: bunte Felder in Kreis-, Tropfen- und Herzform, belegt mit Steinen, Ästen, Tannenzapfen, roten und gelben Mini-Äpfeln. »Hier draußen habe ich die Freiheit, das zu erspüren und auszudrücken, was in mir lebt«, erzählt sie, während sie mit der Hand aus der Luft die Bögen des Mandalas nachzeichnet. Um das Dorf Hohenbüssow liegen industriell bearbeitete Felder. Gerade deshalb lässt Ingrid der Natur auf diesem Gelände freien Lauf. Seit zehn Jahren haust sie hier im Wagen – um den Ballast nicht zu haben, den ein Haus mit sich bringe. Sie lebt ohne fließendes Wasser, Fernseher, Laptop, Internet. Den mit Holz befeuerten Ofen nutzt sie auch zum Kochen. Bescheiden zu sein, lernte sie früh: Als jüngstes von sieben Kindern weiß sie, wie es ist, nicht alles haben zu können. In der DDR, wo sie aufwuchs, führte sie bis zur Wende ein bürgerliches Leben. Sie wurde in Lübtheen geboren und arbeitete dort lange als Näherin. Doch schon immer hatte sie das Gefühl, nicht zu dem zu passen, was ihr vorgelebt wurde. »Meine Tante hat immer gesagt: Mit der stimmt was nicht.« Ingrid grinst.
Mit Regenwasser duschen? Normal! Sie zieht den fuchsroten Teppich hinter ihrer Tür zurecht, holt ein paar bestickte Kissen – »nicht, dass euch kalt wird« – und gießt Tee in drei Tonbecher. Johanniskraut, Minze und Hirtentäschel, selbst gesammelt. Der Fußboden ist kalt, auf Kopfhöhe bollert die Ofenwärme, in der Luft liegt ein angenehm würziger Duft. Der schmale, acht Meter lange Wagen bietet Platz für Sofaecke, Schlafecke, Essbereich und Küche. Die Wände zieren Postkarten, Perlenketten und bunte Tücher, die Regale verspielte Details wie Teelichthalter, Blumenvasen, eine Buddhafigur. »Für mich ist es immer eine Herausforderung«, sagt Ingrid, »es mir trotzdem gutgehen zu lassen – auch wenn ich wenig habe und der kalte Winter da draußen hart ist.« Die meisten Menschen, fährt sie mit einem Glanz in den hellbraunen Augen fort, könnten sich gar nicht über kleine Dinge freuen. Sie deutet auf eine Kette aus Lampions, die den Wagen mit grünen, roten und rosa Farbakzenten ausleuchtet. Als Näherin arbeitet sie bis kurz nach der Wende. 1988 kommt ihre Tochter Maria zur Welt; von deren Vater trennt sich Ingrid wenige Jahre später. Sie lernt einen neuen Mann kennen, der viel gereist ist und ihr völlig neue Ideale vorlebt. »Er hat mich zum Aussteigen motiviert«, sagt sie. Mit ihm geht sie 1995 in die Slowakei, um einen Pferdehof aufzubauen. Als die Beziehung in die Brüche geht, macht sie sich auf die Suche nach einem neuen, eigenen Leben und landet schließlich im Künstlerdorf Hohenbüssow. Anfangs wohnt sie mit anderen in einem alten Lehmhaus. Dort gibt es zwar zwei Wohnungen, aber eine gemeinsame Haustür, Küche und Waschmaschine. Einmal in der Woche wird für alle im Dorf gekocht, und die Hohenbüssower stellen ein lebendiges dorfeignes Kulturprogramm auf die Beine. Ingrid ist mittendrin, wenn Theater gespielt wird, gute Filme gezeigt oder Veranstaltungen im Umland besucht werden. Gemeinsam mit Tochter Maria und Nachbarn hält sie in ihrer Lehmhaus-Zeit auch Schafe und Ziegen, die mit der Hand gemolken werden, um den eigenen Käse herzustellen. Vieles da draußen, dieser Kapitalismus, das sei alles verlogen. »Du sollst kaufen, kaufen, kaufen! Uns wird ständig vorgegaukelt, was wir angeblich alles bräuchten.« Ingrid ist froh über die Oase, die sie sich geschaffen hat. Allerdings gibt sie zu: »Ich würde mich auch gern mal verleiten lassen.« Sie lächelt verschmitzt. »Ich geh’ ja auch ab und zu ins Kino oder so.« Dogmatisch sei sie nicht. »Na, kuck an, da hab’ ich jetzt ein Handy, das ich noch gar nicht bedienen kann«, kichert sie. »Wie schnell kriegen die mich ran, weil ich sehr offen bin!« »Die« – bei all der Macht, die »die da oben« haben: Wieviel kann ein einzelner überhaupt bewirken? Erstmal sei es für jeden allein die Aufgabe, etwas zu ändern. »Zu entscheiden: Nein, ich will keine Autogarage, ich baue lieber einen Garten. Aber …« Ingrids Blick wandert nachdenklich zur Seite. »All das ist bei mir eher im Unterbewusstsein da. Ich gehe sehr achtsam mit den Dingen um, wasche mich zum Beispiel mit Regenwasser. Aber nicht, weil ich denke, ich muss Wasser sparen, sondern weil’s schön ist!« Sie zuckt die Schultern, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt, reckt kess das Kinn in die Luft. »Ist doch ganz normal!« In der DDR hat Ingrid noch ein anderes System miterlebt. Eines, in dem Überfluss und Konsumstreben nicht derart die Lebenswelt der Menschen bestimmte. »Der Kapitalismus war immer der Feind, und auf einmal waren wir das auch, das war wie ein Schock!« Sie erzählt in ruhigen, langsamen Sätzen, während sie aus ihren schulterlangen, grauen Haaren, die von weitem wie hellblond aussehen, zwei dünne Zöpfe flicht. Und dennoch: »Schon zu DDR-Zeiten dachte ich, ich muss hier raus, und habe das Reisen angefangen.« Zwei, drei Wochen immer in den Ferien per Anhalter nach Rumänien, Ungarn und in andere Länder des ehemaligen Ostblocks – alles, was von der DDR aus möglich war, Hauptsache Ausland. Sie steht von ihrem gemütlichen Platz zwischen Schiebefenster, Ofen und Küchenzeile auf und geht die wenigen Schritte zur Wand, wo ein von ihr gemaltes, in Pastellfarben gehaltenes Bild hängt. Gepunktete Linien ziehen sich, zur Spirale geschwungen, durch die ineinander verschwimmenden Farbfelder und an kleinen Objekten, wie Gesichtern, Bäumen und Häusern, vorbei. Die Reisen, die Freiheit, das sei wie ein roter Faden, der durch ihr Leben gehe.
Urvertrauen, wenn es nichts zu verlieren gibt In den letzten Jahren reiste sie oft mehrere Monate auf die Kanaren, nach Spanien, Portugal, Frankreich, Marokko und Indien. Manchmal per Anhalter, in anderen Fällen hatte sie zunächst nur Geld für den Hinflug. Kein Grund zur Sorge für Ingrid: »Ich kuck’ nie, wo ich meine Pension habe oder wie ich von A nach B komme. Ich habe Vertrauen, dass das schon irgendwie funktioniert.« Einmal, als sie auszog, um zu wandern, überraschte sie in der ersten Nacht ein Gewitter, das von drei Seiten auf sie zukam. Sie zögerte, ob sie nicht doch an eine Haustür klopfen sollte. »Aber dann habe ich mir gesagt, da muss ich jetzt durch, habe mich in meine Plane eingewickelt und bin tatsächlich nicht nass geworden! Am nächsten Tag ging es weiter.« Auch auf Festivals und Mittelaltermärkten war sie unterwegs. Im Rucksack eine Art Flaschenzug: Damit bringt sie Menschen in eine Kopfüber-Position. Die Idee dabei ist, dass sich Körper, Geist und Seele neu ausrichten können. »Häng dich ab statt auf« – sagt Ingrid dazu. Die Technik hat sie von einem befreundeten Heiler erlernt. Sich neu auszutarieren, das scheint derzeit auch für sie an der Reihe zu sein. »Ich weiß noch nicht, was es ist, aber ich begebe mich woanders hin.« Das Reisen soll eine andere Form finden. Im Moment verdient sie kein eigenes Geld und denkt darüber nach, sich selbständig zu machen, das zu leben, was ihre »Berufung« ist. Eilig hat sie es nicht mit der Entscheidung. Sie genießt den Freiraum. »Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn ich weiß, was ich will, kann ich es auch umsetzen.« Sie sieht es als Herausforderung, aus der Not eine Tugend zu machen und ihre Zeit für Selbstfindung zu nutzen. Ingrid setzt einen Topf mit frischem Wasser auf den Ofen. Die Tropfen, die am Topfboden hängengeblieben sind, zischen auf der heißen Ofenplatte. Fehlt ihr denn nicht auch die materielle Unabhängigkeit? »Na ja …« Etwas Zögerndes mischt sich zuweilen in den assoziativen Redefluss. Jedenfalls – da ist dieses Urvertrauen, das sie aus den vielen Erfahrungen zieht, ihr Leben auf das Notwendigste zu reduzieren. »Es gab schon so viele Situationen, die ich allein meistern musste. Aber ich habe daraus so eine Urkraft entwickelt und plötzlich erkannt, was alles geht«, sie zeigt auf ihren Kopf, »was da alles geht.« Welche Krisen gab es denn, aus denen sie gestärkt hervorging? Ingrid räuspert sich. »Ich muss noch mal nach eurem Ofen sehen …«, verkündet sie eilig und verschwindet kurz. Als sie mit ihrer kleinen Tochter nach Hohenbüssow zog, war sie auf der Suche nach Gemeinschaft. Die fand sie dort anfangs auch. Wie eine Familie sei das Dorf gewesen. Doch viele der anderen Zugezogenen mussten wieder wegziehen, um Arbeit zu finden, erzählt sie, als sie wiederkommt. Das war vor acht Jahren, die 16-jährige Tochter war gerade nach Portugal in die Tamera-Gemeinschaft gezogen. »Und ich kam von einer Reise zurück, deren Erlebnisse ich erstmal verarbeiten musste, meine Mutter war in der Zeit verstorben, und dann brach auch noch die Dorfgemeinschaft auseinander. Die ganze Verbindung untereinander war nicht mehr da, und das ist für mich heute noch spürbar. Damals wieder auf die Beine zu kommen – das war der größte Schritt in meinem Leben.« Im Lauf ihres Lebens, erzählt Ingrid, sei es für sie leichter geworden, in schwierigen Zeiten zuversichtlich zu bleiben: »Du tust einen Schritt, und den nächsten macht das Leben auf dich zu.« Da ist dieses Urvertrauen. Für sich selbst. Und für die Welt. »Wir alle sind in einer Zeit des Wandels, mit dem der Mensch ein völlig neues Denksystem bekommt, um ausgetretene Wege zu verlassen und die Welt neu und das Leben kostbarer zu gestalten. Mit mehr Liebe und Frieden. Das ist möglich, wenn wir unseren Fokus stärker auf unser Inneres verlagern und somit achtsam werden gegenüber uns selbst und allem anderen.«
Elena Rupp (30) ist Kulturwissenschaftlerin und Journalistin. Als Musikerin gibt sie Unterricht in Querflöte.
Kontakt zum Bauwagen ganz weit draußen Ingrid Ullrich freut sich über Besucher und Mitgestalterinnen: ing-rid{ÄT-ZEICHEN)gmx.net. Die Antwort dauert ein bisschen länger …