Gemeinschaft

Gut für viele Lebensträume

Die Lebens(t)raumgemeinschaft Jahnishausen belebt ein sächsisches Rittergut. Was geschieht, wenn in den Räumen eines alten Gemäuers Träume von einem neuen, ­gemeinschaftlichen Leben reifen?von Lea Garten, Katalin Kuse, erschienen in Ausgabe #20/2013
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Bei Katharinas erstem Besuch in Jahnishausen pfiff es durch die halb zerbröselten Fensterrahmen, und die Kälte der alten Steinwände kroch ihr in die Glieder. Wie ein löchriges Netz lag der Außenputz über den Mauern und gab hier und da den Blick auf ein steiniges Durcheinander frei. »Ach Gott, das sind ja alles nur Ruinen«, dachte Katharina. Nach drei Tagen auf dem Gut veränderte sich ihre Perspektive: »Da war nicht mehr nur das Alte, Heruntergekommene – plötzlich sah ich ganz viele Möglichkeiten.«

Sieben lebenserfahrene Frauen waren es, die Gebäude und Gelände des alten Ritterguts bei Riesa zwischen Leipzig und Dresden ersteigerten. In den historischen Gebäuden gab es viele kaputte Fenster und Gerümpel, aber keine Zentralheizung oder auch nur einen Anschluss an die Kanalisation. Dafür war Platz zum Träumen: zwischen hohen Decken und Flügeltüren, in den ausgedehnten Stallgebäuden, dem kleinen Schloss und im großzügigen Innenhof des Guts.
Heute, elf Jahre später, gibt es einen großzügigen Speisesaal und Gastronomietechnik in der Küche. Ein Teil der Gebäude ist vollständig saniert und wird durch eine ökologische Holzschnitzelanlage beheizt. Außerdem entstanden eine Pflanzenkläranlage, Räume für den Seminarbetrieb und Gästezimmer. Achtundreißig Menschen teilen sich hier die Gemeinschaftsdienste, Mittagessen und selbstangebautes Gemüse. Die meisten von ihnen stehen in der zweiten Lebenshälfte. Wie Katharina genießen sie Lebensqualität, Wachstums- und Entfaltungsmöglichkeiten und haben bei der gemeinschaftseigenen Genossenschaft Zimmer oder Wohnungen gemietet.

Die Offene Werkstatt – ein Neuanfang im Bestehenden
»Schöner Wohnen im Alter« beschreibt Martin das Projekt, wenn er in sarkastischer Laune ist. Lässig stützt sich der Mitt-Vierziger mit den Armen an der Küchenarbeitsplatte ab. Auf seinem Gesicht beginnt sich ein Lächeln auszubreiten, und zwischen den dunklen Brauen bildet sich eine tiefe Furche. Sein blauer Pulli aus Wolle ist am Kragen geöffnet, obwohl es hier im Gutshaus kälter ist als drüben im Haupt- und Torhaus. Ein wuchtiger Kachelofen gibt die Wärme der Scheite gemächlich ab und wärmt den kleinen Raum, der tagsüber kalt bleibt. Fünfzehn Quadratmeter alte Holzbohlen und Wände mit sanften Farben. Martin hat sein Zimmer selbst renoviert, abends und am Wochenende. Tagsüber arbeitet er in einem Ingenieurbüro in Riesa. Im Regal stehen Bücher zu integraler Philosophie, gewaltfreier Kommunikation und Community Building – Themen, die ihm wichtig sind und die ihn mit den Menschen verbinden, die hier rechts und links den Gang entlang leben.
Zweieinhalb Jahre ist es her, dass sich die »Offene Werkstatt« als Gemeinschaft-in-der-Gemeinschaft gründete und ins Gutshaus einzog. Das anfängliche Verliebtheitsgefühl ihrer Mitglieder im Zusammenhang mit dem Gesamtprojekt Jahnishausen war damals verflogen. Endlos lange, sich im Kreis drehende Diskussionen um Technisches und Organisatorisches hätten kaum Raum für persönlichen Austausch gelassen, erzählt Werkstatt-Bewohnerin Susanne, die Umgangsweisen in der großen Gemeinschaft waren ihr zu eingefahren geworden. Immer wieder seien die gleichen Konflikte hochgekocht, ohne dass eine Entwicklung zu erkennen gewesen wäre. Viele Momente des Zweifelns und der nagenden Unsicherheit. Immer wieder habe sie darüber nachgedacht, wegzugehen, doch wollte sie nicht alles loslassen, was bisher verwirklicht wurde. Und siehe: Auch in anderen schlummerte diese Unzufriedenheit und die Sehnsucht nach mehr.

Zeit für innere Baustellen
So begann die Idee der »Offenen Werkstatt« Gestalt anzunehmen, ein Neuanfang in bestehenden Strukturen. Noch authentischer, tiefer und näher wollten Birthe, Peter, Martin, Susanne, Brigitte und Doreen miteinander leben. »Raus aus der Komfortzone der gut sanierten Räumlichkeiten, innere statt äußere Baustellen – wir wollen zusammenrücken, mit allen Reibungen.« Das ist ein Satz von vielen, die sie verfassten, um ihre gemeinsamen Träume zu dokumentieren. Sechs Menschen zwischen 38 und 63 begaben sich miteinander in ein Experiment, das unkonventionell und ungewöhnlich erscheinen mag und das dennoch auf einer ganz einfachen Sehnsucht beruht: nach einer zwischenmenschlichen Tiefe, die da entsteht, wo Menschen sich verbindlich aufeinander einlassen. Und das, ohne den individuellen Freiraum unangenehm zu beschränken. Die Gruppe teilt sich eine Wohnung und versucht sich in gemeinsamer Ökonomie. Donnerstagabends ist Gemeinschaftszeit, ein Raum für vieles: die gemeinsame Aufarbeitung individueller Probleme, die Lösung zwischenmenschlicher Fragen innerhalb der Gruppe, das Teilen schöner Erlebnisse. Aber auch: Schweigen, Unsicherheit, Nicht-weiter-Wissen. »Die Ratlosigkeit gehört dazu«, meint Susanne. »Dass man sich auch gemeinsam in die Leere begibt und wartet, ob etwas Neues entstehen mag.«
Den Flur im Gutshaus entlang befinden sich drei schlicht, aber geschmackvoll eingerichtete Gästezimmer. Die Räume sind Teil der Vision einer offenen Gemeinschaft, einer Einladung an alle Menschen, mitzuleben, mitzulernen, mit der Gruppe zu sein. In den Räumen wird auch geträumt und geschlafen, wenn »Community Building«-Seminare stattfinden. Es klingt seltsam, dieses Wort »Seminar«, wenn eigentlich bewusst auf Struktur und Lehrinhalte verzichtet und stattdessen dem Vertrauen Raum gegeben wird, miteinander und voneinander zu lernen.
Aber auch das gemeinsame Werken und Wirken verbindet, wie Birthe erzählt. Über der Cordhose trägt sie einen Strickrock, selbstgenäht aus einem alten Pulli. Im ehemaligen Pferdestall stehen Geräte, Baustoffe und alte Fenster und Türen. Dazwischen ein Haufen Kartons mit alten Sachen. Seit einem Monat entrümpelt die 61-Jährige hier freiwillig jeden Vormittag. Mit dem Renovieren der historischen Türen und Fenster im Gutshaus ist sie inzwischen fertig. Das Schleifen, Ölen und Lackieren hat sich die ehemalige Krankenschwester selbst angeeignet.
Die Bewohner des Gutshauses renovierten zwei von einem Wasserschaden zerstörte Zimmer, schliffen und ölten Holzbohlen – auch einen Teil der Wasserrohre und Elektrizität verlegten sie in Eigenarbeit – alles Tätigkeiten, die sie einander näherbrachten. Denn »offene Werkstatt« bedeutet nicht nur emotionales Prozessieren. Werkstatt heißt auch gemeinsames, im Lebensalltag verankertes Tun. Das Gutshaus ist ein Ort, an dem die gemeinsame Vision materiell Gestalt annimmt. Birthes zarten Händen sieht man weder die Arbeit noch ihre sechs Jahrzehnte an. Sachte streichen sie über die geschliffene, frisch lackierte Badezimmertür, auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck von Stolz und Bestimmtheit.

Grenzen verschwimmen
Seit der Gründung der Offenen Werkstatt sind weitere Untergruppen in Jahnishausen entstanden. Die Torhausgruppe zum Beispiel. Sie trifft sich wöchentlich, um eigenen, persönlichen Themen Raum zu geben. Doch unabhängig davon, ob Torhaus, Gutshaus oder Falknerei – mittags um eins fällt diese Art von Identität ab. Dann mischen sich alle in der Essensschlange und warten darauf, dass das Küchenteam die Deckel hebt, um sein Tageswerk vorzustellen. Kürbisstücke glänzen in Öl auf schwarzem Blech, dazu Kartoffeln – beides aus dem eigenen Garten.
Einige Rittergutbewohner sehnen sich nach der Zeit, als es nur die eine Großgruppe gab. Doch auch jetzt finden sich immer wieder Gelegenheiten, wo alle gemeinsam zusammenkommen. Nicht nur zum Essen. Am Nachmittag ist Aufräumen im alten Pferdestall angesagt.
Irgendwo zwischen Salat und Nachspeise bedauernde Stimmen: »Wenn ihr im Sommer hier wäret …« Ja, der Sommer: Die Zeit der Kunstakademie und des Festivals mit dem Schwerpunkt gewaltfreie Kommunikation, so wird nun geschwärmt. Wenn sich die Wagenremise mit dem verwitterten Ziegeldach in eine Sommerküche verwandelt und Kuchenduft durch den Innenhof zieht. Dort, wo sich jetzt noch ein karger Erdhügel erhebt, vermischen sich dann orangegelbe Ringelblumen mit den violetten Tönen der Phazelien, und die Gartenstühle am Rand der Beete bleiben nie lange unbesetzt … Wenn die Luft erfüllt sei von Kindergeschrei, Vögeln und den leisen Vibrationen der Insekten, würde Jahnishausen zum Ort lebendiger Begegnung.
Noch aber ist kein Grün zu sehen und der Boden ist von Schnee bedeckt. Kahle Sträucher und Büsche ragen aus dem Weiß. An der bröckelnden Mauer des Schlosses windet sich ein Pfad entlang. »Platz der Stille« steht auf einem Holzschild. Zwei Sommer ist es her, da nahm die Gemeinschaft hier Abschied von Cäcilia. Die Krebskranke hatte sich gegen eine Chemotherapie entschieden und der Gemeinschaft erklärt: »Ich gehe jetzt sterben.« Als sie nicht mehr aufstehen konnte, trugen sie sie in ihrem Bett hinaus. Ihre Kinder legten das neugeborene Enkelkind an ihre Wange. So standen alle da und umringten das junge und das vergehende Leben. Hier, wo deutlich mehr Lebensabend als Kindheit wohnt, wird es nicht der letzte Abschied bleiben.
Die vielen lebenserfahrenen Menschen prägen Jahnishausen wie die historischen Steinmauern. Und doch sollen die Schaukeln im Innenhof nicht leer bleiben – junge Menschen und Familien sind ausdrücklich erwünscht. Für sie fehlen noch Einkommensmöglichkeiten, denn es soll ja eben um mehr gehen als um »Schöner Wohnen im Alter«: nämlich um die Vereinigung individueller Lebensträume zu einem lebendigen, zukunftsfähigen Ganzen.•


Lea Garten (22) gestaltet Lernräume, in denen Verbindung durch Spüren, Fühlen und Vertrauen entsteht. Sie gibt von Tiefenökologie inspirierte Workshops.

Katalin Kuse (22) hat zwei Jahre bis zur Räumung in einem Wohnprojekt in Lüneburg gelebt und setzt sich seitdem für mehr Mitgestaltungsrechte in Städten ein (www.rechtaufstadt.de). Immer mit dabei: ihre analoge Kamera.

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