Die Stadt aller Menschen
Städte dominieren die Kulturen weltweit. Wer aber entscheidet, wie sich eine Stadt entwickelt und wie sich das Leben in ihr gestaltet?
An einem warmen Sommermorgen treffe ich Katrin Faensen in ihrem Lieblingscafé in Berlin Pankow, ihrem zweiten Wohnzimmer, wie sie sagt. Heute scheint es eher ihr Büro zu sein. Mit dem Laptop vor sich und einem Milchkaffee in der Hand erwartet sie mich fröhlich lächelnd. Wir sind die einzigen Gäste. Alles wirkt noch sehr verschlafen an diesem Morgen. Ich kann verstehen, warum es sich hier gut arbeiten lässt. Norik, ihren jüngsten Sohn, weiß Katrin wohlbehütet in der Obhut einer Freundin. So findet die dreifache Mutter Zeit, ihre Projekte voranzutreiben. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht derzeit die »Bundeswerkstatt«. Wenn sie darüber spricht, springt ihre Begeisterung auf mich über – offenbar geht es hier um das Erproben eines ganz neuen demokratischen Werkzeugs. Doch wie kamen politische Themen überhaupt in ihr Leben?
1974 wird Katrin in eine Familie hineingeboren, in der sie große Offenheit erfährt. »Für meine Eltern war immer klar, dass wir Kinder jede Frage stellen konnten. Wenn sie keine Antworten hatten, haben wir sie gemeinsam gesucht. Regeln standen nicht fest, sondern mussten gefunden werden. Das fühlte sich richtig an«, erzählt sie. Auch an die Grundschulzeit erinnert sie sich gerne. Hier blüht sie auf, kann zeigen, wer sie ist und was sie weiß. Sogar eine Klasse zu überspringen, wird dem hochbegabten Mädchen angeboten. Die Gymnasialzeit wird jedoch für sie zur Zerreißprobe. »Frag nicht! Mach! Sitz still!«, heißt es hier. Schnell nimmt sie es wahr, wenn es in der Klasse ungerecht zugeht, und stellt sich auf die Seite der Ungewollten, der nicht Gesehenen, möchte auch die Leisen und nicht Gehörten hörbar machen. Oft erkennt sie Lösungen für Konflikte, mögliche Brücken zwischen den Menschen, aber das hat keinen Platz an diesem direktiven Ort. So gehört auch Katrin bald zu den Ausgestoßenen. »In der Oberschule bin ich mit meinem Wesen dermaßen gegen die Wand gefahren, dass ich Jahrzehnte gebraucht habe, um mich wieder zu berappeln«, stellt sie heute fest. »Es hat lange gedauert, bis ich wieder Resonanz zu Situationen mit vielen beteiligten Menschen zulassen konnte.«
In ihrer Jugend liegen aber auch starke Kraftquellen. Ihr Vater, selbst immer in Jugendbewegungen aktiv, nimmt sie schon früh mit zu den Pfadfindern. »Ich bin mit den Liedern am Feuer großgeworden. Ich bin im Kreis aufgewachsen«, erzählt sie. »Mir ist erst später klar geworden, dass Entscheidungen gemeinsam im Kreis zu treffen, auch politische Betätigung ist.«
»Ich bin eine Grenzgängerin«
Wird sie heute danach gefragt, warum ihr all die Frontalveranstaltungen, mit denen wir selbstverständlich leben, seien es Schule, Universität oder Bundestag, so fremd sind, weiß sie, woran das liegt: am Aufwachsen in Kreisen. »Wir hatten einen runden Tisch zu Hause«, wird Katrin beim Erzählen bewusst. In ihrer Familie hält sie es genauso: »So gehört sich das!« Sie lacht. »Wirkliches Wissen ist immer geteiltes Wissen, nicht meines, nicht deines. Es kommt von uns allen gemeinsam.«
Neben dem Studium beschäftigt sich Katrin intensiv mit Mythologie und Religion. »Es gab eine Zeit, in der habe ich mich viel mit weiblicher Spiritualität und mit dem Frausein auseinandergesetzt. Da bin ich auf das Bild gestoßen, mit dem die Hexe vielfach interpretiert wird: als Zaunreiterin, die ein Bein auf der einen und eines auf der anderen Seite des Zauns hat. Damit konnte ich mich identifizieren, und dieses Bild von mir habe ich noch immer.«
Grenzerfahrungen ziehen Katrin magisch an. Sie gründet einen Verein zum Erhalt historischen Brauchtums und bespielt Mittelaltermärkte mit einer Laien-Theatergruppe. Auch Feuer- und Fakirshows gehören zu ihrem Repertoire. Ich bin erstaunt: Diese Frau ist durch heiße Glut gegangen, hat auf Scherben getanzt und sich aufs Nagelbrett gelegt? Sie lacht: »Ich bin eine Grenzgängerin, und es ist mir wichtig, diese Grenzen bewusstzumachen – zwischen dem, wo es gut ist und wo es nicht mehr gut ist.« Selbstverständlich barg das die Gefahr, sich zu verletzen. Scherben sind Scherben, Glut ist Glut, und Nägel sind Nägel. »Es ist die innere Haltung, die einen heil bleiben lässt. Mein Weg war, diese Shows interaktiv zu gestalten. Ich habe mit meinem Publikum zum Thema Leid und Schmerz gearbeitet. Mein Wunsch war, dass die Zuschauer begreifen, dass es um sie selbst geht, um uns alle. Wir sind keine Zuschauer, wir sind immer Gestalter unserer Realität.«
Auch große Kreise begleiten
In Katrins Leben gibt es viele gegensätzliche Szenerien. Einige Jahre ist ihr Arbeitsplatz in einer Computerfirma. »Am Anfang habe ich Rechner zusammengeschraubt, später Softwareinstallationen gemacht und dann als Systemadministratorin gearbeitet. Ich habe viel über Prozess- und Systemarchitektur gelernt, auch im übertragenen Sinn. Aber Gegenstände können nicht reden, sie wachsen nicht mit.« Deshalb will sie lieber mit Menschen arbeiten. Sie macht eine Ausbildung als Sozialtherapeutin und engagiert sich viele Jahre als Führungskraft in sozialen Einrichtungen. Es folgen Ausbildungen in Supervision, Coaching, Organisationsentwicklung und Prozessdesign. Seitdem begleitet sie individuelle und kollektive Veränderungsprozesse. Als Expertin für Kreativprozesse auf Großgruppenveranstaltungen hat sie unter anderem in diesem Frühjahr für die Piratenpartei eine zweitägige Konferenz, die »PiratinnenKon«, konzipiert und begleitet. Alle unterschiedlichen Haltungen und Erfahrungen zum Thema »Gender« sollten dabei in einem bewusst gestalteten partizipativen Prozess auf den Tisch kommen. »Lebendige Prozesse, die etwas Neues hervorbringen, suchen sich ihre Teilnehmer, zeigen ihr spezielles Muster und bringen das zutage, worum es wirklich geht.« Diese Erfahrung wiederholt sich in Katrins Arbeit als Prozessbegleiterin. So trat während der Konferenz das Thema Gender immer wieder in den Hintergrund, wogegen sich die Frage nach der Kommunikationskultur innerhalb der Partei als eigentliches Anliegen zeigte. »Kollaborative Prozesse geben den individuellen Erfahrungen, dem Wissen und den wirklichen Fragen der Beteiligten Raum und schaffen damit ein starkes Feld gegenseitigen Interesses und Vertrauens, in dem auch mit Dissens konstruktiv gearbeitet werden kann. Sie liefern dann Ergebnisse, die von der Gesamtheit der Teilnehmenden getragen werden und sind gleichzeitig ein Ort, an dem wir erproben und lernen können, wie Zusammenarbeit in Zukunft funktionieren kann.«
Mittlerweile lebt Katrin Faensen mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen wieder in Berlin. Ihren Umzug empfand sie wie ein Auftauchen aus tiefem Wasser. »Ich brauche Veränderung, den Puls der Zeit. Ich muss dort sein, wo Leute etwas bewegen. Also musste ich nach Berlin«, stellt sie fest.
Im Dezember 2011 trifft sie auf einer Veranstaltung im Berliner Haus der Demokratie auf Jascha Rohr, der das Modell der kollaborativen Demokratie vorstellt. »Eigentlich«, gesteht Katrin, »weiß ich gar nicht, warum ich dahin gegangen bin. Politik fand ich damals langweilig.« Doch wird ihr hier erneut bewusst, was Politik eigentlich sein kann: gemeinschaftliches Gestalten.
Kollaborative Demokratie
Katrin fängt Feuer, das Thema lässt sie nicht mehr los. Sie steigt federführend in ein von Jascha Rohr initiiertes Projekt ein: der Institutionalisierung einer Bundeswerkstatt. Sie soll als gesellschaftlicher Prozess und konkreter Ort dem Bundestag und Bundesrat zur Seite gestellt werden, als eine dritte Kammer, in der in kollaborativen Prozessen Strategien, Konzepte und Lösungen für die drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit erarbeitet werden. »Unser politisches System evolviert nicht, es ist kein lebendiger Fluss. Repräsentative Demokratie ist nicht inklusiv, und das ist etwas, das ich schwer ertrage.« Kollaborative Demokratie hingegen, erklärt Katrin, gehe über die Teilnahme an Meinungsbildung weit hinaus und definiere den politischen Prozess grundsätzlich neu. Die Zivilgesellschaft würde zusammen mit Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur in transparenten, ergebnisoffenen Prozessen gemeinwohlorientierte Konzepte entwickeln und umsetzen.
Das müsse keine ferne Utopie sein. »Bürgerinnen und Bürger aus all diesen Bereichen werden in aufeinanderfolgenden Workshops mit Methoden wie »World Café«, »Design Thinking« oder »Open Space« intensiv an Konzepten für eine Gesundheits-, Steuer- oder Sozialreform arbeiten. »Die spartenübergreifenden Auseinandersetzungen in diesen Prozessen werden dabei zu mehr als nur zu Kompromisslösungen führen«, ist Katrin überzeugt. Themen wie Gesundheit würden vielmehr neu gedacht und gestaltet. »Dabei ist wichtig, dass solche Prozesse zwar ergebnisoffen, aber ergebnisorientiert sind. Letztlich kann eine neue Politikkultur nur durch konkretes Erleben und gemeinsames Gestalten entstehen«, macht Katrin deutlich.
»Ich bin immer auf der Suche nach dem großen Hebeln für Veränderung gewesen. Die Bundeswerkstatt ist ein Riesenhebel!« Ich kann spüren, wieviel ihr dieses Projekt bedeutet. »Es ist wichtig, dass alle relevanten Stimmen gehört werden und in die Gesellschaftsgestaltung einbezogen werden. Wir müssen an den Erfahrungen der anderen wachsen, statt Überzeugungsarbeit aufgrund von Partikularinteressen zu leisten.«
Doch wie stellen wir sicher, dass die so erarbeiteten Lösungen auch umgesetzt werden, frage ich. »Durch Selbstermächtigung, Transparenz und Kommunikation auf Augenhöhe.« Das klingt für mich noch ein bisschen theoretisch, aber dass es funktioniert, zeigt sich Katrin immer wieder in bewusst gestalteten kollaborativen Prozessen, sei es auf der »Summer Factory« des Instituts Solidarische Moderne oder bei kommunalen Entwicklungsprozessen, die sie als freie Mitarbeiterin des Instituts für Partizipatives Gestalten begleitet.
Als ich sie am Ende unseres Gesprächs frage, wo sie sich in Zukunft sieht, skizziert sie eine Vision: »Ich wünsche mir, dass wir Menschen uns untereinander wieder in die Augen sehen können und dass alles, was wir kollektiv tun, von der Vision getragen ist, wie wir in Zukunft wirklich leben wollen.«
So gut, wie ihr Berlin für ihre Arbeit tut, so sehr zieht es sie privat in die Natur, auf einen alten Hof im Berliner Umland, wo sie mit Freunden und Familie leben möchte. »Ich brauche auch Wildnis, die Stadt atmet nicht«, sagt Katrin und erzählt von den vielen Kindern, die sie schon über den Hof toben sieht. Abends werden sie dann gemeinsam im Kreis um ein Feuer sitzen, zusammen mit anderen Weltbewegerinnen. Ich glaube fest daran, dass dieses Zukunftsbild Wirklichkeit werden wird und ich Teil dieses Kreises sein werde.
Maja Klement (35) ist angehende Prozessbegleiterin für Kinder- und Jugendbeteiligung und macht sich für eine kindgerechte und damit menschengerechte Gesellschaft stark.
Katrins Spuren folgen?
www.selbst-wirksam.de
www.the-virus.org
www.partizipativ-gestalten.de
www.bundeswerkstatt.de
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