In vielen Lebensgeschichten ist der Tod ein Leitmotiv. Manchmal wird er zur Lebensaufgabe.von Michael Kraft, erschienen in Ausgabe #23/2013
Jeden Morgen öffne ich vorsichtig die Türe und schaue als Erstes nach dem linken Knie. Meist bewegt es sich ein wenig, und ich weiß: Er lebt noch! Sein Gesicht und die Atembewegungen der Brust kann ich erst erkennen, wenn ich schon einige Schritte ins Zimmer getreten bin.
Seit vier Wochen besuche ich jeden Morgen Holger, einen nach Griechenland ausgewanderten Deutschen, der mit einer Krebserkrankung in seinem Haus auf einer ägäischen Insel liegt. Alleine dort lebend, hat er es vor einigen Monaten abgelehnt, zu medizinischer Versorgung, Pflege und zum Sterben nach Deutschland zurückzukehren. Sein Geld hat er fast aufgebraucht. Seine Gedanken und Wünsche in klare Sätze zu fassen, gelingt auch nicht mehr; manchmal ein nickendes »Ja« oder »Nein«, manchmal wie beiläufig einzelne Worte. »Noch wenige Tage«, hatten die ihn betreuenden Nachbarn gesagt, »vielleicht drei Wochen«. Bei meinem morgendlichen Gang zu ihm – den Meeresstrand entlang – begegne ich meinen eigenen Gedanken. Ich begegne den Fragen »Wie wird es denn sein?« und »Wann wird es sein?«, und mir wird dabei deutlich, dass ich gar nicht nach konkreten Antworten suche. Die Fragen sind wie ein Tor zu meinen Innenräumen. Manche von ihnen füllen lebendige Erfahrungen, andere bergen bildhafte Ahnungen, und wieder andere scheinen aus luftigen Gefühlen zu bestehen, ohne die klaren Begrenzungen eines Wissens vom Tod. Das Spiel der Wellen neben mir ist ohne Anfang und ohne Ende, ist wie das Leben selbst.
Erfahrungen der Innenräume Meine sehr geliebte Großtante Marie ist eine der Ersten, der ich auf meinem Gang durch die Innenräume begegne. Sie war auch die erste gewesen, der ich bei ihrem Sterben nahe sein durfte. Mit ihren 89 Jahren lag sie im Altenheim auf ihrem Bett, war nicht mehr ansprechbar, aß nichts mehr, aber vollführte mit den Armen und den Händen wunderbare Bewegungen durch die Luft: Kreise, Linien, geschwungene und gerade, schnelle und fast still stehende Gesten. Sie war Balletttänzerin und -lehrerin gewesen, eine Künstlerin durch und durch. Das war ihr Leben, und dieses Leben malte sie nun in ihren letzten Stunden in die Luft. Ich war 19 Jahre alt, gänzlich unerfahren und fragte meine Mutter: »Woran erkenne ich es denn, wenn sie stirbt?« »Ach, sei unbesorgt«, sagte sie, »das merkst du dann schon, wenn er da ist.« Wenn »Er« da ist? Wer? – Ich war dann nicht im Raum, als Tante Marie starb. Aber sie war die erste, deren verlassenen Körper ich am selben Abend im Leichenhaus unseres Dorfs ansehen durfte. In derselben Nacht lag ich hellwach in meinem dunklen Zimmer, und Tante Marie kam durch die Wand in der Zimmerecke auf mich zu, sah mich ernst und gütig an, und dann ging sie wieder. In meiner Erinnerung ist dies ein sehr reales Erlebnis, ganz anders als ein »Traum«. Ich hatte keine Angst dabei verspürt, mehr ein großes Erstaunen, ein Nicht-begreifen-Können. Als meine älteste Schwester mit 37 Jahren starb, durfte ich im Raum sein. Ich stand mit Tränen am Fußende ihres Betts, wiederum war es ein Nicht-begreifen-Können. Eine Seite in mir wehrte sich heftig, eine andere erlebte eine gewaltige Kraft der Verwandlung – etwas, was sich nur jetzt von mir erkennen lassen und sogleich wieder entschwinden würde. Ich habe wirklich keinen »Begriff« davon. Von meiner Schwester fielen in den letzten Lebensminuten die Schatten der Krankheit ab. Helles Licht ging von ihr aus, Freiheit und strahlende Schönheit und Wahrhaftigkeit zeigten sich für einen zeitlosen Moment. Einige Jahre später begleitete ich den kleinen Martin. Die modernen Diagnosemethoden des Ultraschalls hatten seiner Mutter eröffnet, dass das Körperchen des kleinen Kindes in ihrem Bauch einige starke Veränderungen zeige, die ihm, wenn überhaupt, nur ein sehr kurzes Leben ermöglichen würden. Die Mutter entschied sich, das Kind weiter auszutragen. Es wurde zu Hause im Kreis seiner Familie geboren und lebte zwei Stunden in den Armen seiner Liebsten, bevor seine Seele still wieder ihren kleinen, sehr besonderen Körper und damit unsere sichtbare Welt verließ. Leben und Sterben, Geburt und Tod waren so dicht bei-, ja ineinander gewoben, wie ich es vorher niemals erlebt hatte. Alle Regungen waren anwesend, das Geschehen um dieses Kind herum veränderte die Menschen, die im Raum waren. Wir bildeten, wie aus der vergehenden Zeit herausgetreten, eine kraftvolle Gemeinschaft im Torbogen zwischen den zwei Seinsweisen, für die ich am liebsten neue Worte erfinden würde. Die Begriffe »lebend«, »sterbend«, »gestorben«, »tot«, »ewig« verwende ich täglich, aber wovon spreche ich wirklich? Wie kann ich die Einheit ausdrücken, den inneren Zusammenhang, die grenzenlose Verbundenheit, die große Weite und Freiheit, die keinen Schmerz auslässt, nicht vermeidet, sondern ein Ganzes wahrnimmt und zugleich schöpferisch tätig ist? An dieser Stelle komme ich im Rundgang durch meine Innenräume an der Bibliothek vorüber. Ja, es gibt da auch eine Bibliothek, in der die Bücher, Schriften, Erzählungen anderer Zeugen in mir aufbewahrt sind. Wie viele da stehen, in den Regalen, ungeordnet, manche nur flüchtig angesehen, andere wieder und wieder studiert – historische, wissenschaftliche, philosophische, spirituelle, religiöse »Bücher« (womit ich nicht nur die auf Papier gedruckten meine). Mir wird bewusst, dass ich im wirklichen Leben im Angesicht von sterbenden und toten Menschen mit einem essenziellen Bereich meines Daseins in Berührung komme, wo das Wissen keine große Bedeutung hat. Vorher und nachher, ja. Da kann die Beschäftigung mit den Gedanken, Erkenntnissen und den großen Offenbarungen der letzten Jahrtausende mir dabei helfen, aus vielen Teilen ein Bild zusammenzulegen, es zu betrachten, meine Beziehung zu diesem Bild zu klären – um es dann auch wieder in seine Einzelteile zerfliegen zu sehen, im ersten kräftigen Windstoß einer realen Begegnung mit dem »Gevatter Tod«. Ein Gevatter? Ein Pate, ein Zeuge eines wichtigen Geschehens, ein Helfer?
Jeder Tod ist einzigartig »Du, Boandl, mit dia hob i fei no nix am Huat!« (Der »Boandlkramer« – Knochenhändler – ist ein bayerischer Ausdruck für den Tod.) So werde ich hier in meiner bayerischen Heimat direkt angesprochen, und mein Gesprächspartner rückt einige Zentimeter ab von mir. Wir sitzen voreinander in einer Abschiedsfeier für einen Architekten in Bernried am Starnberger See. Gerade habe ich ihm erzählt, dass ich der Bestatter für seinen verstorbenen Freund sei. Vor uns steht die blumengeschmückte Urne, die Familie singt und musiziert, der Bürgermeister findet kernig-herzliche Worte für seinen ehemaligen kommunalpolitischen Kontrahenten. Ein sehr zweifelnder Blick streift mich, das Gespräch stockt. Wieder einmal bin ich ein Vorbote des »Gevatters«, dem man nicht so gerne begegnen möchte. Als ich mein Handwerk 2004 durch meine Frau Susanne von innen kennenlernen durfte, da hatte sie mir schon davon berichtet, wie man als Bestatter schnell in die Nähe des Todes (ab)gerückt und damit manchmal etwas einsam werden kann. Sie hatte zusammen mit ihrer Freundin Marly Joosten bereits sechs Jahre zuvor ein eigenes, sehr persönlich arbeitendes Bestattungsunternehmen begonnen: »Die Barke« in Herdecke an der Ruhr. Susanne zog nach Bayern, die »Barke« blieb in Herdecke – und plötzlich war mir klar, dass ich den Impuls des »individuellen Bestattens« aufgreifen und mit ihr gemeinsam fortsetzen wollte. Seitdem bin ich dem Sterben und dem Tod vielfältig begegnet. »Im Tod sind alle Menschen gleich«, höre ich sagen, aber das ist nur eine der Stimmen aus der Bibliothek. »O Herr, gib jedem seinen eignen Tod« – diese Worte von Rilke höre ich auch noch, sehnsüchtig, fast beschwörend. »Sie dürfen als professioneller Bestatter den Tod nicht an sich heranlassen«, hatte Susanne auf einer Fortbildung sagen hören. Wir beide tun es dennoch, aber wir können das nur, weil wir lediglich wenige Lebensabschiede begleiten, einen oder zwei im Monat. In ihrer Einzigartigkeit sind sie mir fast alle sehr gegenwärtig. Etliche der Verstorbenen waren uns zu Lebzeiten bekannt gewesen, oder sie wurden es, weil sie uns auf dem Weg einer bewussten Vorbereitung auf den eigenen Tod kennenlernen wollten, vielleicht auch nur ein einziges Mal. »Wirklich schade!«, sagte Rudolf aus Moosham, als er mit mir wenige Monate vor seinem Tod über »die letzten Dinge« sprach. »Jetzt haben wir uns so gut unterhalten, und wenn Sie das nächste Mal, kommen, werde ich nicht mehr antworten können.« Er war Regisseur gewesen, und mein Eindruck ist, dass die, die gerade durch das Tor gehen, bei ihrem Abschied in einem sehr freien Sinn auch die Regie übernehmen, wenn wir als Angehörige, Freunde oder Helfer uns eher behutsam und zurückhaltend einbringen, wenn wir Zeit und Raum so freilassend gestalten, dass sich der Übergang wirklich vollziehen darf. Die Bestattung bekommt dann Zug um Zug die Handschrift des Verstorbenen selbst. Da erscheint es plötzlich stimmig, wer welche Aufgabe übernimmt, wer in der Zeit einer Aufbahrung anwesend sein kann und wer nicht, wer den Sarg oder später die Urne bemalt und mit welchen Motiven. Wir fragen als Begleiter dieser Gestaltung dabei zunächst nicht: »Was war denn in seinem vergangenen Leben von Bedeutung?«, sondern: »Wie ist sie jetzt gerade, deine Beziehung zum Verstorbenen? Was möchtest du ihm jetzt mit auf den Weg geben?« Es geht ja nicht darum, ein »Kunstwerk« für eine stimmungsvolle Trauerfeier zu schaffen, sondern Verbundenheit auszudrücken. Die Hände führen schon, das ordnende Denken folgt ihnen später nach. Gerade die Kinder gehen nach einer ersten kleinen Scheu recht unbefangen an die Aufgabe heran. Sie klettern auch mal in den leeren Sarg oder schreiben Briefe von innen an den Deckel, sie wählen leuchtende Farben, Worte, Bilder, Symbole, Landschaften …
Zeichen der Verbundenheit Oftmals gibt es auch Zeichen oder Gesten aus der Natur, die unser menschliches Tun wie in einen größeren Zusammenhang einbetten. Sie mögen hier für sich selbst sprechen: Abschiedsgottesdienst in einer modernen Kirche, alles ist dunkel, draußen zieht ein Gewitter mit schweren, blauschwarzen Wolken auf. Als die Pfarrerin über das Leben der Verstorbenen spricht, fällt plötzlich ein einzelner Sonnenstrahl durch die Fenster der Rückwand auf den bemalten Sarg, den wir vorne in den Chorraum getragen hatten. Er allein leuchtet für einen zeitlosen Moment auf, die restliche Kirche mit allen versammelten Menschen bleibt im Dunkel. Während der Hausaufbahrung eines Mannes brannte eine große Wachskerze Tag und Nacht in einem gläsernen Zylinder vor der Haustüre. Nach drei Tagen kam ich, den Verstorbenen abzuholen. Vorsichtig fahren wir den kleinen Wagen mit dem Sarg über die Terrasse am brennenden Windlicht vorbei durchs Gartentor und zu unserem alten Bestattungsanhänger »Charon«. Wir schieben den Sarg hinein, die Helfer schauen ihn noch einmal an, dann schließe ich die Türen und drehe mich zufällig zum Haus. Die Kerze ist erloschen. Beim Begräbnis einer Heilpraktikerin und Schamanin schaue ich, auch eher beiläufig, in den Himmel, während ihr Sohn gerade die Urne in die Erde versenkt. Hoch über dem Klosterfriedhof drehen zwei Raubvögel ihre Kreise, vollführen wunderbare Flugfiguren. Wir schaufeln die Erde, und sie verschwinden in der Ferne. Viele solcher Beispiele gäbe es zu erzählen. In mir bewirken sie jedes Mal einen besonderen inneren Frieden. Mein Weg durch eine Bestattung führt mich, wenn sie mit einem aufgeschütteten Erdhügel beendet ist, in meine eigene innere Kapelle. Hier halte ich inne. – Nach vier Wochen täglicher Besuche lebt Holger noch immer. Das linke Knie wippt bei meinem Eintreten. Ich bin innerlich sehr bewegt, weil ich am nächsten Morgen nach Deutschland zurückkehre. Wir verabschieden uns voneinander mit kurzen Worten und einem langen Blick, der weite Räume zu durchdringen scheint. •
Michael Kraft (53) arbeitete als Pionier im Naturkosthandel. Heute gibt er gemeinsam mit seiner Frau Susanne Workshops in gewaltfreier Kommunikation und bestattet Menschen.
Vertiefung gewünscht? Über das Leben und Sterben des kleinen Martin ist ein bewegender Dokumentarfilm erschienen: www.meinkleineskind.de. Zur Arbeit von Michael und Susanne Kraft: www.ambula.de