Viele Menschen machen starke Erfahrungen in Todesnähe. Doch wie lassen sich diese integrieren?von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #23/2013
Wie die Berserker haben wir im Frühling 2010 an der Fertigstellung der letzten Wohnung im Mehrgenerationenhaus in unserem Dorf gearbeitet. Meine Großeltern väterlicherseits sollten dort endlich einziehen: sie 93, er 98 Jahre alt. In ihrer kleinen Hamburger Wohnung waren sie nicht mehr gut aufgehoben. Mein Großvater erlebte noch den Sommer bei uns, saß mit schiefem Hut im Garten und deklamierte seine Lieblingsgedichte. Gegen Ende des Sommers gewann der Schlaf in seinen Tagen noch stärker die Oberhand als in den Monaten zuvor. »Sanft entschlafen«, so steht es manchmal in den Todesanzeigen. Würde es ihm so ergehen? In der letzten Woche begleitete ihn der jüngere seiner beiden Söhne, mein Vater, fast rund um die Uhr, unterstützt von anderen Familienmitgliedern. Manchmal war es friedlich in der Wohnung, dann wieder träumte mein Großvater schwer, zitterte, stand verwirrt auf und wusste nicht mehr, in welchem Jahrzehnt er war. »Komm, es geht ihm gar nicht gut!«, rief mich die Großmutter besorgt, als ich ihr einmal abends die Küche aufräumte. Mein Großvater lag in großer Anspannung auf dem Bett, äußerte mit geschlossenen Augen unverständliche Laute, wand sich und zitterte. Ich nahm seine Hand, er griff danach, nicht klammernd, aber voller Entschiedenheit. »Komm jetzt!«, schien der Griff zu sagen. Mich erfasste ein Schwindel. Was bedeutete diese Aufforderung? Wohin und wie? Der Kurzschluss in meinem Kopf kannte nur einen Ausweg – ich begann zu singen. Es waren nur die ältesten mir bekannten Melodien, die jetzt unweigerlich gesungen werden wollten: »Ave nobilis venerabilis Maria« aus den Carmina Burana und »Nach der senenden klage«, ein Minnelied von Wizlaw von Rügen. Ein würdevolles Schreiten liegt in diesen Liedern. Mein Großvater keuchte, grummelte und murmelte, sein fast schon federleicht gewordener Körper schüttelte sich. Ich sang und fand mich plötzlich in einem Traumbild wieder. Jäh erinnerte ich mich, eben dieses Bild in einem Traum in einer Nacht im Krankenhaus vor einer heiklen Operation kurz vor meinem 19. Geburtstag durchwandert zu haben: Auen und Seen, ein Steilhang, ein Fluss, der übergeht in galaktische Malströme. Irgendwo auf diesen Wassern war mir damals im Traum ein Fährmann begegnet. Er hatte mir seinen Namen verraten, was mich nach dem Aufwachen an jenem Morgen vor der Operation so glücklich und zuversichtlich gemacht hatte. Am Bett meines Großvaters ergossen sich diese Traumflüsse durch mein jetzt waches Bewusstsein. Mir war, als würden sie mich und den Sterbenden gleichermaßen ergreifen, als könnten wir weit auf ihnen treiben. Der Atem meines Großvaters war nach einiger Zeit wieder ruhig geworden, aber das Schlafzimmer begann zu dröhnen, als sei ein großer Motor angelaufen. Kein »sanftes Entschlafen« erlebte ich hier, sondern etwas extrem Kraftvolles. Wenige Tage später starb mein Großvater in den frühen Morgenstunden einer Septembernacht. Sie war sternenklar, ein kalter Wind wehte aus Nordost, und Kranichschwärme flogen über das Haus. Alle im Dorf, die in diesen Tagen mit ihm gelebt hatten, wussten: In dieser Nacht würde er gehen. Wir waren stolz auf ihn. Jetzt würde er es schaffen.
Halt und Offenheit Vor hundert Jahren hätten die Menschen in einem so kleinen Dorf wie dem unseren wohl christlich geprägte Bilder in den Köpfen gehabt, wenn jemand auf dem Totenbett lag. Sie waren nicht sonderlich herausgefordert, ihre Wahrnehmungen zu deuten, sondern konnten sie in ein festes Weltbild einordnen. Und was mögen die vor zweitausend Jahren, als die Vandalen, auf deren Kalkbrennofen wir beim Ausschachten der Baugrube für das Mehrgenerationenhaus gestoßen waren, am Rand des jetzigen Dorfs gesiedelt haben – was mögen sie über den Tod gedacht haben? Obwohl alle Begleiterinnen und Begleiter nach dem Tod meines Großvaters einen schönen Frieden spüren konnten, ergriff mich in den Tagen danach ein Gefühl von »Kulturlosigkeit«. Bisher hatte ich geglaubt, dem Tod am besten mit Gegenwärtigkeit, mit völliger Offenheit begegnen zu können, ohne Rückgriff auf ein Kulturerbe. Doch wie überheblich dieser Glaube war, zeigten mir die archaischen Bilder der Flüsse des Totenreichs und die alten Melodien, die am Sterbebett so wichtig gewesen waren – wie nach Halteseilen hatte ich nach ihnen gegriffen. Welch seltsamer Reflex für einen Menschen des 21. Jahrhunderts, dachte ich damals. Mein Geburts-Jahrhundert hat die Forschung zu Nahtoderfahrungen erfunden. Das scheint mir etwas Schönes: aufzuzeichnen, was Menschen aus Todesnähe oder Todeszuständen berichten, offen zu sein für das, was erfahren wird. Seltsamerweise bewirken diese Berichte allzu oft das Gegenteil von Offenheit; sie werden dazu missbraucht, ein bestehendes Weltbild zu zementieren, gelten als »Beweis« für ein Leben nach dem Tod, für die Existenz eines Paradieses oder was auch immer. Das Beweisenwollen ruft die Gegenargumente auf den Plan: Wenn das Gehirn entsprechend stimuliert werde, könne man Nahtodphänomene künstlich erzeugen, sogar außerkörperliche Erlebnisse, sagen Neurowissenschaftler. Sind diese Debatten nicht Ausdruck der Hilflosigkeit einer Gesellschaft gegenüber Erfahrungen in Todesnähe? Wie groß diese Hilflosigkeit ist, zeigte mir in diesem Herbst die Erzählung einer Freundin, die einen schweren Unfall nur knapp überlebte.
Mit gebrochenem Schädel Mina ist in Berlin als Fußgängerin von einem Motorradfahrer angefahren worden, wirbelte mehrere Meter durch die Luft und fiel auf den Hinterkopf: Schädelbasisfraktur und eine stark blutende Platzwunde. Nach kaum zwei Tagen hatte man sie in einem Berliner Krankenhaus »repariert« und entließ sie. Noch unter Schock verbrachte sie einige Tage in der Großstadt, weitgehend auf sich allein gestellt, und versorgte sich mit Medikamenten und dem Lebensnotwendigen, obwohl sie kaum dazu in der Lage war. Irgendwie bewältigte sie den Weg nach Hause und ging sofort am Tag nach der Ankunft wegen unveränderter Symptome in Göttingen ins Krankenhaus. Sie versuchte, die seltsamen Bewusstseinszustände zu begreifen, in die sie nach dem Unfall immer wieder geriet, und bat um ein Gespräch mit einer Krankenhauspsychiaterin. Ich traute meinen Ohren nicht, als sie es für mich nachspielte: Mina: »Immer wieder sehe ich deutlich, wie sich Lichtvögel aus meinem Körper lösen und hier über der Region schweben.« Die Psychologin: »Haben sie Selbstmordgedanken?« Mina, überrascht: »Nein, das ist das Schönste, was ich in meinem Leben je erfahren habe!« Die Psychiaterin: »Möchten sie Psychopharmaka nehmen?« Wie konnte es sein, dass die seelische Dimension von Todesnähe in diesem Krankenhaus offenbar allen derart fremd war, dass keine Resonanz mit dem Zustand einer Patientin mit einer solchen Erfahrung entstand? Anders als »krank« konnte ein extremer Bewusstseinszustand offenbar nicht eingeschätzt werden.
Unter der Erde liegen Während Mina mir berichtete, musste ich an Initiationsriten in Naturvölkern denken, die ich zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber aus der Literatur kenne. Ein Klassiker darunter ist es, tagelang an einem engen, dunklen Ort zu verharren, um mit Haut und Haaren soweit irgend möglich einen Sterbeprozess nachzuvollziehen. Diese Tradition scheint sehr alt zu sein, sie verliert sich in der Morgendämmerung der Frühgeschichte. In einem geschützten Rahmen Todesnähe zu erfahren, scheint ein starkes Menschheitsbedürfnis zu sein, das nur in sogenannten Hochkulturen von der Tagesordnung gestrichen wird. Aus der Visionssuche-Bewegung weiß ich von Versuchen, solche Erfahrung auf eine angemessene Weise in die Gegenwart zu holen. Diesen Sommer erzählte mir ein nachbarlicher Freund, wie er im »Atelier für Wandlungskunst« bei Reinhard Winkler mehrere Nächte unter der Erde verbracht hatte. Er hat bei Sonnenuntergang das Grab geschaufelt, eine Abschiedsrede wurde gehalten, sein Grab wurde symbolisch verschlossen. Reinhard begleitet solche Erfahrungen im Bewusstsein der Tradition, die dieses Ritual weltweit in verschiedensten Kulturen hat, doch ohne einen spezifischen ideologischen Hintergrund. Es geht ihm um eine Form, sich draußen in der Natur mit dem eigenen Tod in Beziehung zu setzen. Der Schritt in das Grab koste für manche viel Überwindung, erklärte er mir, aber dann – im dichten Kontakt mit der Erde – entstehe fast immer ein Gefühl von Geborgenheit, ein tiefes Vertrauen in die Dunkelheit, die Nachtwelt, die Innenwelt. Manchmal verbrächten Menschen noch die folgenden Nächte in einer kleinen Höhle. Wenn die Aufregung der ersten Grabesnacht überstanden sei, berichteten sie oft von wunderschönen Erfahrungen. Wäre so ein Gang ins eigene Grab nicht etwas für die Göttinger Klinikpsychiaterin? Müssten sich nicht alle Menschen, die in Krankenhäusern arbeiten, in solche Erfahrungen begeben, damit sie Patientinnen wie Mina verstehen lernen?
Todesdimensionen in der Alltagswirklichkeit Mina war im Krankenhaus bewusst geworden, dass sie achtgeben müsse, nicht in der Maschinerie der Psychiatrie zu landen, wenn sie offen von ihrem seltsamen Zustand erzähle. Es gelang ihr zwar, die Psychiaterin davon zu überzeugen, dass sie schon zurechtkäme und keine stationäre Behandlung bräuchte. Das Zurechtkommen zu Hause erwies sich jedoch als nicht so einfach. Wieder war sie auf sich allein gestellt, denn für alternative Heilbehandlungen fehlte das Geld. Über einen langen Zeitraum schwankte sie zwischen ekstatischen Einheitserlebnissen und dem Gefühl von Todesnähe oder Panikattacken hin und her. Mitunter sah sie sich in extrem hellem Licht und wähnte sich bereits in einer anderen Welt. Immer wieder legte sich vor die Dinge, auf die sich Minas Blick gerade richtete, eine Ebene von Informationen über den inneren Aufbau der Welt – wie eine in allen Details erkennbare DNS-Spirale. Sich in so einem Zustand weder für verrückt noch überheblicherweise für allwissend zu erklären, muss harte Arbeit sein! Mina wusste zum Glück intuitiv, wie sie für sich sorgen konnte, und vertraute ihrer Wahrnehmung. Sie fand heilsame Musik, die sie immer wieder hörte. Sie folgte dem Bedürfnis, eine Zeitlang nur weiße und goldene Kleidungsstücke zu tragen. Alle anderen Farben waren ihr unerträglich. Im Second-Hand-Laden – auf der Suche nach Weiß und Gold – kam sie mit der Verkäuferin ins Gespräch, spürte ihre Offenheit und erzählte von ihrer Situation. Es war heilsam, in ganz alltäglichen Begegnungen Resonanz zu erleben, jedoch umso schmerzhafter, an Grenzen zu stoßen. »Manchmal will ich auf die Straße laufen und alle, die mir entgegenkommen, umarmen«, hatte Mina zum Ende unseres Austauschs erzählt. »Aber die Leute haben ihren Job, ihren Stress, sie sind nicht offener, nur weil ich einen Verkehrsunfall hatte. Ich möchte auf der Straße rufen: ›Was machen wir hier eigentlich?!‹ Aber das hält nichts auf, alle rennen weiter ihren Notwendigkeiten und Projekten nach. Wo ist mein Wirkungskreis, in dem ich gestalten kann, in dem ich mich so einbringen kann, wie ich heute bin?« Dass dies eine Frau sagt, die in einem kulturkreativen Umfeld lebt, gibt mir sehr zu denken. Ihre Frage erinnerte mich spontan an mein Gefühl der »Kulturlosigkeit« nach dem Tod meines Großvaters. Da war ein Vakuum, obwohl ich keineswegs alleingelassen war, sondern in meiner Familie dieses Erlebnis mit allen teilen konnte. Doch das Lebenswissen über das, was Menschen in Todesnähe erfahren, wünscht sich offenbar ein viel breiteres kulturelles Fundament als ein paar Fragmente persönlicher Erfahrung. Ich habe nur eine vage Idee davon, wie es wachsen kann: vielleicht mit viel Zeit und Behutsamkeit – und mit vielen Geschichten über die je eigenen Erfahrungen, die Menschen miteinander teilen. •