Gilda Bartel porträtiert die Bestatterin Gabriele Steinborn.von Gilda Bartel, erschienen in Ausgabe #23/2013
Gabriele Steinborn sieht sich als »Anwältin der Verstorbenen«. Die Keramikerin arbeitet heute als Bestatterin. In ihrer »Trauerwerkstatt« können Menschen, die den Tod eines Angehörigen begleiten, den Sarg oder die Urne selbst bemalen oder auch ein Erinnerungsstück töpfern. Ihre Aufgabe sieht sie vor allem darin, dass die Phase zwischen Tod und Bestattung als kostbare Abschiedszeit erlebbar wird. Gabriele Steinborn gibt ihre Erfahrungen in Lehraufträgen für Palliativpflege und in Ausbildungen in Hospizarbeit weiter.
Mit Gabriele Steinborn einen Termin zu vereinbaren, ist nicht so einfach. Der Tod kommt nicht auf Bestellung. Als ich mich mit ihr treffe, kommt die Bestatterin gerade aus dem Kinderkrankenhaus Jena, wo sie mit den Schwestern über den Umgang mit verstorbenen Kindern und deren Angehörigen gearbeitet hat. Anschließend wird sie sich mit Hinterbliebenen zusammensetzen, um über die Trauerrede zu sprechen.
Gabriele Steinborn, 1959 in Zeitz geboren, ist gelernte Töpfermeisterin. »Die Meisterausbildung musste ich damals selbst bezahlen«, erinnert sie sich. »Es gehörte nicht zu den politischen Zielsetzungen der DDR, eine private Handwerksausbildung absolvieren zu können.« Die junge Frau wollte eigene Wege gehen. »Ich wollte unbedingt eine Werkstatt eröffnen und meine eigenen Keramiken und Formen herstellen.« So kam es, dass sie Anfang der 80er Jahre die jüngste selbständige Töpfermeisterin der DDR wurde. 13 Jahre lang hat sie ihre Werkstatt in Erfurt geführt. In jener Zeit, 1983, wurde ihr Sohn Philipp geboren. Gabrieles Räume waren mehr als nur Werkstatt. Hier trafen sich Künstlerfreunde zu Diskussionen über Kunst und Politik. Mit der Zeit häuften sich in der Gruppe die Ausreiseanträge nach Westdeutschland. Gabriele ist geblieben – mit dem Schmerz des Zurückgelassenwerdens. Die Kunst war ihr Weg, damit umzugehen. In der Erfurter Dada-Gruppe inszenierte und führte sie Theaterstücke auf. Sie machte eine Weiterbildung an der Hochschule für industrielle Formgestaltung in Halle. In der Wendezeit war sie an vielen Demonstrationen beteiligt, auch auf dem Flughafen, wo verhindert werden sollte, dass sich Funktionäre mit Stasipapieren ins Ausland absetzten. Auch nach der Wende blieb sie freie Künstlerin, war noch bis 2009 an Ausstellungen als Keramikerin und Malerin beteiligt. Dem Töpferhandwerk ist sie treu geblieben, doch heute steht es in einem anderen Kontext.
Eine Prüfung in Menschlichkeit Vor vielen Jahren starb eine gute Freundin von ihr, eine Schauspielerin. Damit begann Gabrieles Weg mit dem Tod. »Als ich in Erfurt für diese Freundin die erste Urne anfertigte, war ich voller Wünsche, den Abschied so liebevoll und so passend wie möglich zu machen. Seitdem wollte ich alles lernen, was es zum letzten Abschiednehmen, zum Beerdigen zu wissen gibt.« Im Jahr 2000 veranstaltete sie eine Ausstellung eigener Urnen, bemalter Särge und Totenmasken. Sie begann, sich bei Bestattermessen zu zeigen, doch das brachte wenig Erfolg. Nebenbei besuchte sie psychologische Weiterbildungen, auch in der Sterbebegleitung. Ohne es bewusst zu planen, wuchs sie in die Rolle der Bestatterin hinein – durch Praktika in unterschiedlichsten Bestattungskontexten, im Sepulkralmuseum Kassel oder durch die Arbeit in Hospizen. Zwischendurch jobbte sie als Arzthelferin oder Verkäuferin und hörte Vorlesungen im Fach Religionswissenschaft, um sich kulturgeschichtlich mit Begräbniskultur zu befassen. Irgendwann stand sie vor der Entscheidung, eine professionelle Ausbildung zu beginnen. »Die Umschulung umfasste zwei für mich schwer vereinbare Pole«, erzählt Gabriele. »Da ging es einerseits um den würdevollen Umgang mit Verstorbenen und Trauernden, andererseits aber um Ungeheuerlichkeiten, die wir in der Prüfung perfekt ausführen sollten: die ›hygienische Versorgung‹.« Nach vielen Diskussionen in ihrem Ausbildungsjahrgang war Gabriele klar: Diese Aufgabe würde sie nicht erfüllen. »Es ist nicht nötig, alle Körperöffnungen zu verschließen, den Penis abzubinden oder die Augen mit kleinen Widerhaken zu schließen«, erklärt sie. »Die Branche verwendet dafür Euphemismen, Beschönigungen, die die Angehörigen nicht verstehen. ›Tamponierung‹ heißt es zum Beispiel, was bedeutet, dass ein großes, hartes Stück Watte in den After eingeführt wird. ›Wir machen eine Ligatur‹ klingt fast poetisch, heißt aber, dass man den Mund mit einer speziellen Technik zunäht.« Das alles diene dem Zweck, die Toten ästhetisch aufbahren zu können. »Ein solcher Umgang mit Verstorbenen ist mir zutiefst zuwider. Ich kann eine kleine Handtuchrolle unter das Kinn legen, wenn der Mund offensteht. Ich kann die manchmal noch geöffneten Augen mit einer Handbewegung schließen.« Als diese Diskussion in ihrer Ausbildungsklasse im Jahr 2006 aufbrandete, kamen von Seiten der Leitung zwei Drohungen: Wer das nicht ausführt, wird durch die Prüfung fallen und möglicherweise keine Anstellung finden, da viele vom Berufsverband der Bestatter zertifizierte Bestattungsbetriebe diese Art der »Versorgung« standardmäßig durchführen. Das Häuflein der Aufrechten, die auch in der Prüfung ihren Idealen treubleiben wollten, schmolz zusammen. Zuletzt blieben nur ihre Freundin und sie selbst. Die beiden Prüflinge haben die kleine, alte, hutzelige Dame, deren toter Körper zu Prüfungszwecken bereitgestellt wurde, gründlich und liebevoll mit einer Rosenseife gewaschen, das zerzauste Haar gekämmt, ihr eine Pflegeölmassage geschenkt, den Leichnam in ein weißes Totenhemd gekleidet, im Sarg eingebettet und mit Rosenblüten bestreut. Und sie haben der Frau eine Inkontinenzwindel angelegt. Damit war alles geschehen, was zur Vermeidung von Flüssigkeitsaustritt und Geruchsbildung notwendig ist. Währenddessen haben sie das Prüfungswissen vorgetragen, exakt nach Lehrbuch erzählt, was die hygienische Versorgung beinhaltet und erklärt, dass sie die Prozedur aus ethischen Gründen ablehnen. »Diese kleine Frau sah am Ende aus wie ein Engel. Ihre Haare, die wir vorher gar nicht so gesehen haben , waren ganz lang und schlohweiß und lagen so schön um ihr Gesicht herum«, erinnert sich Gabriele. Einer der Prüfer sei mit Tränen in den Augen hinausgegangen. Die anderen hätten keinen Ton gesagt. Totenstille! Schreckliche Tage des Wartens folgten. »Ich konnte nicht schlafen. Ich hatte so viel Zeit und Geld in diese Ausbildung investiert und so viel Frust ertragen, nur um diesen Abschluss zu bekommen.« Sie hat die Prüfung bestanden, wenn auch mit einer Note Abzug. Eine Prüfung der Menschlichkeit, könnte man meinen. »Es gibt keine rechtliche Grundlage in Deutschland, die diese Handhabung der hygienischen Versorgung vorschreiben würde«, klärt Gabriele auf. »Es liegt auch in der Verantwortung der Angehörigen, sich zu informieren und abzulehnen, was aus Konvention durchgeführt wird.« Inzwischen haben sich Netzwerke im ganzen Land gebildet, die sich eigene ethische Leitlinien gegeben haben. Heute lassen die vor einigen Jahren erneuerten Bestattungsgesetze Gabriele mehr Spielraum in ihrer Arbeit als früher. In Thüringen darf man Verstorbene 48 Stunden nach Todeseintritt zu Hause aufbahren. Gabriele rät den Angehörigen immer, dieses Zeitfenster auszuschöpfen. Freilich sind die alten Vorstellungen – sofort abholen, desinfizieren, Anblick vermeiden – noch in den Köpfen, aber wenn Menschen ermutigt werden, nicht die Konventionen in den Vordergrund zu stellen, sondern die Beziehung, entwickeln sich eigene, jeweils stimmige Formen des Abschieds.
Singen und Sprechen Auch Gabriele hat ihre eigenen Formen gefunden. Für jeden, der ihr anvertraut ist, singt sie ein Lied. Das sei für sie eine natürliche Geste, erklärt sie; das sei jedem Menschen zu jeder Zeit möglich. Im Singen können Gefühle fließen. Die Hilflosigkeit und Unsicherheit der Angehörigen vergeht, wenn sie mitsingen. Dann kommen sie in ihre Kraft und spüren sich selbst. Besonders im Osten Deutschlands, wo wenige einen religiösen Hintergrund haben, ist das Singen eine passende Abschiedsgeste, weil sie nicht zu einer bestimmten Kultur gehört. Gabriele spricht auch mit den Verstorbenen, wenn sie sie wäscht, kleidet, in den Sarg bettet. Sie erzählt, wer zum Abschied kommen wird, welche Überlegungen es zur Beerdigung gibt. »Im Leben sprechen die Menschen ja auch miteinander. Bevor jemand bestattet wird, kann man ja wenigstens zu ihm sprechen, auch ohne eine Antwort zu erwarten.« So geschieht der Abschied in kleinen Schritten, weil der große Schritt »Tod« auf einmal zu viel ist. Wenn Hinterbliebene den Verstorbenen zuletzt lebendig gesehen haben und dann in der Trauerfeier vor dem Sarg oder der Urne stehen, fehlen die vielen kleinen Abschieds-schritte. »Vielleicht sind sie auch für den Gestorbenen wichtig«, überlegt Gabriele. »Wissen wir denn, ob eine liebevolle Ansprache oder Behandlung nicht doch bei ihm ankommt?« Es ist spürbar, dass sie diese Schritte ganz natürlich tut, intuitiv aus Vertrauen in den Gesamtzusammenhang des Lebens, zu dem der Tod gehört.
Mut und Leichtigkeit Im Januar 2011 gründete Gabriele Steinborn ihr Unternehmen »Abschied und Bestattung« in Weimar. Zuvor hatte sie als Filialleiterin von Bestattungsunternehmen an verschiedenen Orten in Deutschland gearbeitet. »Während der Gründungsphase musste ich mir meistens den Spruch anhören: ›Gestorben wird immer‹. Dabei war es ein wirtschaftliches Risiko, ganz allein anzufangen. Ich machte einfach alles selber. Mein Bestattungsauto ist über 20 Jahre alt, sieht aber noch ganz gut und vor allem neutral aus. Im Laderaum habe ich alles, was ich für einen Sterbefall benötige. Da ich neu war, wollte mir der Sarggroßhändler erst etwas verkaufen, als ich versprach, immer bar zu bezahlen. Ein ganzes Jahr lang holte ich mir vor jedem Einkauf bei ihm extra große Scheine von der Bank und freute mich über die Verlegenheiten, die das Herausgeben verursachte. ›Kleiner habe ich es leider nicht‹, habe ich immer gesagt.« Sie lacht. Gabrieles Freude und Leichtigkeit, die sich mit Tiefe und Ernst verbinden, macht die Begegnung mit ihr warm und herzlich. Vor ein paar Jahren begleitete sie in einem hessischen Friedwald ein Ehepaar, das sich einen Bestattungsbaum aussuchen wollte. »Die lebenden Eheleute behakelten sich in männlich-weiblicher Manier darüber, welches der richtige Baum sei. Dann mussten wir drei laut lachen«, erzählt Gabriele weiter. Für sie ist das Wichtigste an solchen Begegnungen, dass eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod stattfindet. Diesen Bereich ihrer Arbeit nennt sie Vorsorge. Dazu gehören zum Beispiel auch Führungen für Kinder über Friedhöfe. Wenn Gabriele Steinborn einen Abschied mitgestaltet, dürfen unkonventionelle Dinge passieren. Da wird der Sarg mitunter wieder ins Haus getragen, was die Nachbarn verwirrt. Die Person war im Krankenhaus gestorben, aber die Familie wollte sie noch einmal zu Hause haben. Gabriele hat mit der Tochter die Verstorbene gewaschen, für sie gesungen und die Räume schön gemacht. Dann kamen viele Freunde und Verwandte. Es gab Sekt. Die Stimmung war eine eigentümliche Mischung aus Trauer und Unsicherheit, Mut und Liebe. Die Enkel erzählten der aufgebahrten Oma, wie die lange Autofahrt war. Die Familie übernachtete ganz selbstverständlich in der Wohnung mit der Entschlafenen. Gabrieles Rolle ist in solchen Situationen, die nötige Ruhe herzustellen, zum Beispiel durch Atemübungen oder das Weglassen alles Organisatorischen beim direkten Abschied. Dass der Körper in seinem natürlichen Prozess langsam verwelkt, hilft den Angehörigen, loszulassen. Er sagt ihnen, dass sie sich nun trennen müssen. Manchmal kommt nach zwei Tagen der Aufbahrung der Anruf der Familie von selbst: »Mir scheint, als sei die Mutter gar nicht mehr wirklich da. Sie können sie jetzt abholen.« Zwei Tage – wahrgenommen, ernstgenommen, in Würde genommen. Ein guter Abschied. •
Gilda Bartel (35) studierte Ethnologie und Religionswissenschaft. Sie lebt heute als Publizistin, Journalistin und Waldorflehrerin in Weimar.