Die Idee wird überleben
Jugendliche integrieren statt aussortieren: Viele Jahre lang hat in Berlin ein erfolgreicher Schulversuch jungen Menschen das Lernen in der Praxis ermöglicht.
Liebend gern erzählt Claudia Cardinal Geschichten rund um den Tod – vor allem solche, die Menschen irritieren und feste Glaubens- und Denkmuster durcheinanderwirbeln. Zum Beispiel die Geschichte von einem Ehepaar, das verabredet hatte, einander Bescheid zu geben, sollte es ein Leben nach dem Tod geben. Als die Frau am Abend nach der Beerdigung ihres Mannes nach Hause kam, gingen die Lichter in allen Zimmern wie Morsezeichen an und aus.
Auch sie selbst sorgt dafür, dass Menschen Ungewöhnliches zu erzählen haben: Mit dem Witwer, dessen Frau sie im Sterben begleitet hat, geht sie auf den Friedhof, lässt dort die Sektkorken knallen, prostet seiner Frau zu und kippt dann das erste Glas Sekt über ihr Grab.
Fahrradfahren oder Fangenspielen auf dem Friedhof – das war für ihre heute erwachsenen Kinder früher ganz selbstverständlich. Der Tod, der ihr Leben vor rund 27 Jahren vollkommen auf den Kopf stellte, war immer präsent. Damals, mit Anfang 30, verlor Claudia binnen anderthalb Jahren ihren Vater, ihre Großmutter, den Schwiegervater, den Schwager. Und vor allem ihre kleine Tochter Katharina, sechs Jahre alt. Auf einmal stand ihr Leben still, an ein alltägliches Weitermachen war nicht mehr zu denken. Schon der Gang in den Supermarkt fühlte sich an, als wäre sie auf dem falschen Planeten gelandet. »Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn meine beiden anderen Kinder nicht gewesen wären«, sagt sie heute. Johan und Anna waren damals zwei und fünf Jahre alt. »Leben war das Letzte, was ich in dieser Zeit wollte.«
Es ist das Jahr 1981, als ihre damals einjährige Tochter Katharina an Leukämie erkrankt. Umgehend wird mit der ersten Chemotherapie begonnen. Es folgen einige unbeschwerte Familienjahre, bevor vier Jahre später ein Rückfall kommt. Claudia weiß: Sie wird ihrer Tochter nicht noch eine Chemotherapie zumuten, denn Katharina hatte ihr kurz zuvor klargemacht, dass sie gar nicht leben will. »Mama, warum bin ich eigentlich in meinem Körper drin?«, hatte sie gefragt und dann gesagt: »Eigentlich möchte ich viel lieber ein Luftmensch sein. Dann habe ich hier so Bänder, und da sind Hände unten dran, und dann bin ich auch bei euch.« Katharinas Wunsch, sagt Claudia, sei zur größten Demutsübung in ihrem Leben geworden. Kurze Zeit später stirbt das Mädchen im Bett ihrer Mutter. »Geh jetzt und hab keine Angst. Ich bin da«, gibt diese ihr mit auf den Weg. Bewusst habe Claudia die Worte nicht gesagt, sie seien einfach da gewesen in jenem existenziellen Moment.
Zusammenhänge erkennen
Claudias beruflicher Lebensweg beginnt mit einer Ausbildung zur Goldschmiedin – eine Tätigkeit, die ihr heute zum Ausgleich neben der Arbeit als Sterbeamme geworden ist. Kurz nach Katharinas Tod macht sie eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin, zwei Jahre später folgt die Prüfung zur Heilpraktikerin. In diesem Beruf ist sie heute noch tätig; sie kombiniert ihn oft mit ihrer Arbeit als Sterbeamme. »Ich arbeite ja nur mit Sterbenden«, lacht Claudia: »Wir alle haben diese Diagnose.«
In ihre erste Praxis kamen immer wieder Menschen mit schweren Erkrankungen, die vorher jahrelang kerngesund gewesen waren. »Wenn ich dann fragte: ›War irgendetwas Besonderes in letzter Zeit?‹, kamen oft Geschichten von mehreren Todesfällen oder auch Schwangerschaftsabbrüchen im nahen Umfeld.« Krankheit als Folge von nicht gelebter Trauer? Ein Zusammenhang, der meist übersehen wird. So auch nach dem Tod ihrer Tochter, als Claudia mit Herzrhythmusstörungen zum Arzt ging und dieser nur sagte: »Ich schreibe ihnen mal was auf.« In der Naturheilkunde sei es oft nicht besser, beklagt Claudia; dort gebe es dann eben Globuli statt Tabletten.
Für Trauerprozesse gibt es in unserer Gesellschaft oft wenig Unterstützung. Spätestens nach einem Jahr sollen sich die Hinterbliebenen wieder in den normalen Alltag einfügen. Doch bei den meisten reicht die Trauer viel länger und führt nicht selten in Isolation und Krankheit. Beides hat Claudia Cardinal selbst erfahren. Bekannte wechselten die Straßenseite, wenn sie ihnen als Mutter eines kürzlich verstorbenen Kindes entgegenkam. Nur wenige Menschen waren bereit, mit ihr das Thema Tod in allen Facetten durchzusprechen und die Kiste von Fragen zu öffnen, um welche die meisten einen großen Bogen machen.
Infektion mit dem Lebensvirus
Diesen Fragen muss sich auch jede Sterbeamme und jeder Sterbegefährte stellen. Das Berufsbild hat Claudia Cardinal als Pendant zur Hebamme, die Menschen auf dem Weg ins Leben hinein begleitet, entwickelt. Viele der über 300 Menschen, die sie in den vergangenen zwölf Jahren ausgebildet hat, arbeiten hauptberuflich als Bestatter, Altenpfleger oder Krankenschwester. Auch Ärztinnen und Bibliothekare sind dabei. Bei den einen ist es das Gefühl der Ohnmacht in der Begegnung mit Sterbenden und Trauernden im Berufsalltag, das sie antreibt, andere sind durch persönliche Betroffenheit motiviert – ein verstorbenes Kind, verstorbene Eltern. In den zwei Jahren der Ausbildung bekommen die Teilnehmenden Werkzeuge in die Hand, um Sterbende und deren Angehörige zu begleiten, Angst und Panik zu begegnen und Abschiede wie auch unkonventionelle Rituale zu gestalten. Claudia Cardinal gibt weiter, was sie als Trauernde selbst erfahren oder vermisst hat. Vor allem das Gefühl: »Ich glaube an dich und du kannst das!« Damit fassen Trauernde Mut, dem Leben wieder eine Chance zu geben. Aus jeder Sterbeamme wird so zugleich eine Lebensamme. Wie Claudia sagt: »Ich möchte andere mit dem Lebensvirus infizieren.« Eine Infektion, die nur möglich ist, wenn sie selbst den Virus in sich trägt.
Es geht Claudia Cardinal nicht primär darum, am Bett von Sterbenden zu sitzen, obwohl sie das immer wieder tut und in Notfällen jederzeit telefonisch erreichbar ist. Sie möchte vielmehr todkranke Menschen und deren Angehörige dazu befähigen, ihre Situation selbst zu meistern. »Im besten Fall gibt es schon nach dem ersten Treffen ein Ergebnis, das die betroffene Person in die Tat umsetzen kann.«
Für die Ausbildungsgänge verbringt Claudia mehr Zeit im Jahr in Seminarhäusern als zu Hause. Trotzdem gehen Kraft und eine erstaunliche Ruhe von ihr aus. Braucht die 58-Jährige doch einmal eine Pause, trifft sie sich mit Freunden zum Kochen, verbringt Zeit mit ihren Kindern – Tochter und Sohn helfen bei der Entstehung ihrer Bücher – sowie mit ihrer fünfjährigen Enkelin. Zwischendurch hüpft sie auf ihrem Trampolin oder schmiedet Gold. Die Grenzen zwischen Jung- und Altsein, Verspieltheit und Ernsthaftigkeit scheinen bei Claudia zu verschwimmen. Augenzwinkernd erzählt sie, wie gut es sich in einem Hospiz leben lässt – man dürfe alles machen, sich benehmen, wie man wolle. »Wenn du die Zigarette nicht mehr halten kannst, hält sie dir sogar jemand hin.« So möchte sie auch jetzt schon leben: In einem Lebenshospiz, wie sie sagt, in dem sie so reden kann, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, und Freude hat an dem, was sie tut.
Die Verbindung zu ihrer verstorbenen Tochter, die heute 32 Jahre alt wäre, ist dabei stets lebendig. Ihre Vorfahren haben einen festen Platz im Haus. Im ersten Stock an einer Wand hängen Bilder ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, entfernten Verwandte – und Katharinas Bild. Es ist ein Ort des Innehaltens: beim Blick auf die Fotos, von denen viele schon verblichen sind, oder auch beim Entzünden einer Kerze.
Wird Claudia Cardinal nach ihrer Vision für die Zukunft gefragt, malt sie ein Bild, in dem jedes Stadtviertel eine Sterbeamme hat, an die sich Menschen in existenziellen Lebenssituationen wenden können. Gespräche rund um den Tod gehören schon im Kindergarten zum Alltag – »Denn bereits mit unserer Geburt kommen wir als Sterbende auf die Welt«. •
Sabrina Gundert (25) ist freie Journalistin, Autorin und Seminarleiterin. Herzblut bedeuten ihr das Schreiben, die Natur und das Gehen des eigenen Lebenswegs. www.handgeschrieben.de
Sterbebegleitung ist kein Ammenmärchen
www.claudia-cardinal.de
www.sterbeamme.eu
Literatur:
Claudia Cardinal: Trauerheilung. Ein Wegbegleiter. Topos Plus, 2011;
Alles, nur kein Kinderkram. Was trauernde Kinder und Jugendliche brauchen. Patmos, 2012
Jugendliche integrieren statt aussortieren: Viele Jahre lang hat in Berlin ein erfolgreicher Schulversuch jungen Menschen das Lernen in der Praxis ermöglicht.
Wenn man möchte, dass jemand etwas Bestimmtes tut, kann man ihm vorhalten, was passiert, wenn er es nicht tut: »Hör mit dem Rauchen auf, mein Freund, sonst sieht deine Lunge bald so aus wie die auf dem Foto hier – wie ein halber Meter frisch geteerter Straße
Als meine Mutter starb, war ich 28 Jahre alt. Trotz meiner Angst und dem Satz »Ich kann das nicht!« in meinem Kopf gelang es mir wie von selbst, in guter Weise bei ihr zu sein. Was in ihrem Sterben und unmittelbar danach geschah, faszinierte mich mehr, als dass es mich ängstigte.