Ein Selbstversuch, das Leben vom Tod her zu denken.
von Anders Selbiger, erschienen in Ausgabe #23/2013
Ich wollte immer unsterblich sein und merkte nicht, dass ich noch gar nicht am Leben war. Ich merkte nicht, dass ich erst lebend sterben musste, um unsterblich zu werden. Ich dachte, ich müsste mein »Leben leben«; tautologisch – griechisch: »dasselbe sagend« –, dachte ich, der Sinn des Lebens sei das Leben selbst, oder, wie Epikur sagt: Der Tod gehe uns nichts an, denn solange wir seien, sei er nicht, und sobald er sei, seien wir nicht mehr. Ich sah mich als einen, der das Diesseits affirmiert. Ein »Leben nach dem Tod« hielt ich für möglich, ohne mich zu den »Jenseitsorientierten« zu zählen. Der Tod war jedenfalls nicht mein Freund. Mein Leben ist bisher eine gigantische Tautologie gewesen, weil ich die Unterscheidung von Leben und Tod, Diesseits und Jenseits nicht hinterfragt habe. Auf der Stelle des Lebensstandpunkts tretend, missverstand ich Sterben als Fluchtpunkt, statt die Sterbensschwelle zu betreten.
Jenseits dieser Unterscheidung aber liegt ein Denken und Handeln, das die Grenze, die Schwelle, den Übergang in den Blick rückt und ihrer Spiegelung gewahr wird: Leben im Tod, Tod im Leben. Die gegenseitige Spiegelung löst alle Dualität und setzt eine dialogische Dynamik in Fluss, die im »Ich bin Du« und im »Ich bin Es« mündet. Hingegen ist die todlose Zirkulation im ewiggleichen Leben nur eine Floskel des Daseins – bestimmt durch monotone Lohnarbeit, Ganzheitlichkeitsvergessenheit, eine Ideologie des Vergleichens, Synästhesiemangel, selbsterfüllende Prophezeiungen, Antiqueertheit, museale Erinnerungskultur … Ich war blind dafür, dass ich in einem kosmischen Sinn schon immer unsterblich war und dass ich als Mensch zugleich nach mehr streben konnte. Zunächst gilt: Alles fließt – daraus folgt, dass wir in jedem Moment jemand Neues sind. Jedes Ende ist ein Anfang, jeder Anfang ein Ende. Alles ist unsterblich, weil es in jedem Moment endet und weiter geboren bleibt. Allerdings bedeutet mein Tod mir mehr als die ökologische Wiedergeburtlichkeit, die allem Seienden zu Grunde liegt; mein Tod ist mehr als ein Enden! Es ist soweit: Die Schwelle naht, sie schwillt an, quillt über den Fluchtpunkt, der sie bisher gewesen ist, zu mir herüber, der ich als noch Belebter mich von ihr bereits begriffen fühle. Das mir Passierte ist das Vergangene, das noch Kommende wird das mir Vergängliche: Gehen im Bewusstsein der Endlichkeit. So schreibe ich mein Leben, das bisher Biografie war, um zur Thanatografie (thanatos: griechisch »Tod«). Ich fasse meinen Tod, er wirft sich rückwärts auf mein Leben, um mich von Neuem zu gebären.
Kontrapunkten gegen die Untoten! Ich sterbe mich ewig und lebe mich endlich. Ich werde ein Sterbender und strotze vor Tod, indem ich mich freiwillig seiner Notwendigkeit hingebe! Da ich sehe, dass ich sterben muss, damit das Leben sprießen kann, nehme ich teil an dem, was auf mich folgen wird, und begreife mich über mich hinaus. Ich werde unsterblich im Bewusstsein meiner Notwendigkeit und bleibe sterblich im Bewusstsein meiner Freiheit. Einsichtig in die Notwendigkeit, entwickle ich Demut. Demütig wird Unmut zu Edelmut, Armut zu Anmut, Wankelmut zu Wagemut, Wehmut zu Großmut, Lebensmut zu Todesmut. Der Tod ist Schöpfer meiner Freiheit, meiner Möglichkeit, demütig zu sein. Dies mag wenig attraktiv klingen. Doch dass ich demütig mich zurücknehme, ist Voraussetzung dafür, dass wir gesellschaftlich etwas Größeres schaffen als ein Einsamer, Selbstvergötterter es jemals vermag. Durch den Tod der anderen wissen wir erst um Tod und Leben. Wie ähnlich sind die Sorgen und Nöte der Sterblichen! Ich werde dann über mich hinausgewachsen sein, wenn ich mich in dir erkannt, in jedes mögliche Du bekannt habe. Meine Einsamkeit und Todesangst sind aufgehoben, wenn ich mich nicht mehr brauche, um selbst sein zu können, weil ich mich in dir aufgehoben weiß. Dann, wenn meine Eitelkeit überwunden, meine Endlichkeit akzeptiert und im Bewusstsein meiner als Notwendigkeit erkannten Freiheit aufgehoben ist, werde ich die Kraft aufbringen, mein innerstes Selbst heraus- und zu dir hinauszubilden. Ein naiver Bewusstseinsbegriff wäre dabei so leblos gefährlich wie ein naiver Lebensbegriff. Welch konservative Sprengkraft liegt im Satten, Abgerundeten, Zufriedenen, im »Leben im Jetzt«, das der Begriff »Bewusstsein« oft souffliert. Tatsächlich muss jedes Bewusstsein als Bewusstsein des Todes über sich selbst hinausweisen, seine je eigene Verneinung mitdenken, sich ständig hinterfragen und neu ausrichten, statt zu ruhen. Es muss sich sterben. Wenn dies nicht geschieht, wird dasjenige, worauf das Bewusstsein sich gerade nicht richtet, ausgeschlossen bleiben, diskriminiert werden. Es gibt immer ein Anderes, vom Stand der Dinge Unberücksichtigtes, und im letzten Ende bist Du die mir Andere. Ich bin Du, indem ich jeden Moment nicht im Moment bin, sondern über mich hinauswachse, immer unterwegs: weggezielt. Ich bleibe so im Offenen, Unabgeschlossenen. Als lebendig Sterbender akzeptiere ich mein Ausgeliefertsein an die Frage, das Abgebrochene, und übernehme Verantwortung gegenüber dem Anderen, dem Ausgeschlossenen, dem Diskriminierten. Mein Bewusstsein ist zum Prinzip Tod hin gerichtet. Die Klaviatur unseres Möglichkeitsraums fordert den atonalen Kontrapunkt gegen die mayanisch schwache Gleichmacherei der Menschen und Dinge ohne Ecken und Kanten heraus. Ihr homogener Universalakkord ist Tinnitus unseres Totentanzes.
Wider den vorgetäuschten Tod! Eine Neubestimmung des Todes wider das Alltagsverständnis bahnt sich an: In jedem auf Nicht-Wissen basierenden Übergang herrscht das Prinzip Tod. Der Tod bezeichnet dann nicht nur das Ableben des Organischen, sondern kann verschiedene Formen annehmen: sich einem Menschen so öffnen, dass die Beziehung ein inneres Kind gebären lässt; eine innere Einstellung fallenlassen, die man allzu lang verfochten hat; sich zu einem Leben ohne »Versicherung« entschließen. Ohne Ungewissheit handelt es sich um keine wirkliche Schwelle, über die wir gehen: Obamas Slogan »It’s Time for Change« ist in diesem Sinn genauso wenig ein Todbringer wie weite Teile des Sortiments an Selbsttransformationsangeboten. Nur wenn genuin etwas Unverfügbares, Ungewisses, Utopisches dem Prozess anhängt, ist von einem Tod zu sprechen. Was tut unsere Kultur, konfrontiert mit der Herausforderung des Todes? Sie verdrängt ihn aus ihrem epikureisch-hedonistischen Versteck. Aber ist das Todesthema nicht in hohem Maß in unserer Kultur präsent, denkt man etwa an Nachrichten und Kinofilme? Ja, aber man könnte sagen, es ist überpräsent. Eine Parallele zur ehemals vollständig verdrängten Sexualität bietet sich an: Heute ist Sex an allen Ecken und Enden zu finden, dem Kern der Erotik kommt der Diskurs trotzdem nicht näher. Wenn Sex auf das bloße Treiben der Geschlechtsteile reduziert dargestellt wird, nur der gegenseitigen Selbstbefriedigung und als Mittel zum Orgasmus dient, dann ist statt von Erotik von Pornografie zu sprechen. Analog verhält es sich, wenn das Sterben restlos in die Öffentlichkeit verlegt wird, wie es bei Krebs-Video-Tagebüchern im Internet der Fall ist: Das Sterben wird so ungeniert gezeigt, dass der Betrachtende keine wirkliche Beziehung zu sich selbst herstellen kann - etwa so, wie man beim Blick durch die Lupe die erst beziehungsstiftende Umgebung ausblendet. Das »Über«-Nächste ist mir paradoxerweise ferner als das Nächste, weil ich zu ihm kaum eine Beziehung aufbauen kann. Das habe ich am eigenen Leib erfahren. Ein Übermaß an Leben preschte an mich heran, seit ich das Licht der Welt erblickte: Bildschirme, so weit das Auge reichte, überschütteten mich mit Leben und schirmten mich vom Tod ab. Diese Überfülle, dieses Überleben degradierte das heilige Möglichsein meines Selbsts zum bloßen Kontakt im Stromkreislauf – ein im Grund armseliges Leben als Reflex im Bildersturm, das nur der Aufrechterhaltung basalster Lebensfunktionen gilt – das Leben als Überleben ist bloßes Überleben. Mir wird vom Betrieb seit meiner Geburt der Möglichkeitsraum abgesteckt, »Leben« im empathischen Sinn entfaltet sich erst gar nicht. Naht unser Ende, haben wir für den Tod nicht mitgedeckt und überhören sein herzliches Klopfen. Anders gesagt, verhindert schon der vitale Monsun an Reizen rein quantitativ eine Beschäftigung mit dem Tod. Dies ruft die Verwaltung auf den Plan. Sie nimmt uns auf ganzer Länge das Sterben ab: Wir sterben in Krankenhäusern und Altenheimen, werden bestattet durch Profiunternehmen, endgelagert auf Friedhöfen, um nachts ja nur unter unseresgleichen zu spuken, und unsere Todesvorstellung entspricht seiner Darstellung in den Massenmedien - »Candle in the Wind«! Auch dass die private Lebensversicherung die wirtschaftliche Konsolation der Zurückgebliebenen besorgt, folgt der Logik einer funktional differenzierten sowie ökonomisierten Gesellschaft, in der selbst die Frage nach Leben oder Tod der Frage nach Zahlung oder Nichtzahlung untersteht. Dieses Dispositiv des Todes umstellt uns zu Leb- wie zu Todzeiten und veranlasst, kanalisiert und terminiert unseren Todesprozess als papierenen Verwaltungsakt: Aus dem, was vormals der Tod war, ist etwas Neues gewuchert: die »Sterbung«. Liegt es dann nicht auch nah, dass im fremdbestimmten, passiven Leben heute oft nur noch »Lebung« veranstaltet wird? Es gibt nur richtigen Tod im Falschen – es gibt kein richtiges Leben im falschen Tod.
Liegt die Welt in Wehen, sollte man die Hände entfalten! Selbst unsere Schönheitsideale haben Angst vor dem Tod. Die frühestmögliche Form von Reife, die angereifte Frucht, wird bereits als Gipfel des Lebens überhaupt angesehen. Die Idee, dass ein alter, vom Leben gezeichneter Mensch schöner sein könnte als der Typus des ewig Jungen, blitzt in der rezenten Ästhetik der Existenz meist nur als exotische Sentimentalität auf. Seine Nähe zum Tod-Punkt diskreditiert ihn zusehends – so tot wie gut, so gut wie tot. Auch die Beziehung der Menschen zur Zeit hastet dem Tod davon: Nehmen wir uns mehr Zeit für unsere Seelenwanderung! »Stirb langsam« lautet der Kassandraruf unseres Zeitalters. Dieses Ruinenwissen, dass wir doch sterben müssen, betäuben wir mit Speed. Die Falten als Pinselstriche des Todes wollen nicht registriert werden: Er soll möglichst kurz und schmerzlos sein. Klick!
Anders: Hand aufs Herz: Insgeheim bleibt der Tod trotz alledem etwas, das uns wurmt. – Ist es der Tod wert, zu leben? Selbiger: Ich male folgendes Szenario: Die steile Klippe von Gibraltar. Der Tod hängt mit einer Hand an einem seidenen Faden kurz vorm Fall. Du eilst herbei, stehst über ihm. Hilfst du ihm, oder lässt du ihn fallen? Anders: Der Tod ist unser Freund, mit dem es manchmal nicht so leicht war in letzter Zeit. Ich werde ihm helfen und versuchen, ihm einen Platz in meiner Umgebung zu hüten. Das bedeutet nichts anderes, als eine Kunst des Sterbens zu etablieren, eine »ars moriendi«, die nicht wie die mittelalterliche zum Ja-und-Amen-Sagen anstiftet, sondern dazu gereichen soll, ein bewusstes Verhältnis zum eigenen Tod zu komponieren. Selbiger: Angesichts des Ungewissen, das hinter der Schwelle des Todes lauert, könnte man in Ergänzung zu Cusanus’ »docta ignorantia«, dem »gelehrten Nicht-Wissen«, eine umfassende »vita ignorantia« postulieren: ein demütiges, kunstvolles und manchmal auch ironisches Leben, das sich liebend gern vom Dunkel umnachten lässt, weil es aus sich selbst heraus leuchtet. •
Anders Selbiger (23) lebt in Berlin und studiert zum »Bachelor of Being«. Er bemüht seinen Alltag derzeit um Inseln der Authentizität und arbeitet an dem Fragment »Rho«.