Gesundheit

Die Kraft in der Verletzlichkeit

Die amerikanische Bewegungsforscherin Bonnie Bainbridge ­Cohen sieht Schmerz und Krankheiten als Quellen für unverhoffte Entdeckungen.von Irene Sieben, erschienen in Ausgabe #23/2013
Photo

 Unser Leben hängt an einem seidenen Faden. Jeder Moment kann der letzte sein. Gegen diese Verletzlichkeit ist kein Kraut gewachsen, man kann sie nur mit Weisheit akzeptieren. Eine, die in der Verletzlichkeit die Stärke sucht, ist Bonnie Bainbridge Cohen. Sie nutzt ihr profundes Erfahrungswissen, um dem Geheimnis des Lebendigen in der Natur auf die Spur zu kommen. Seit Gründung ihrer Schule des »Body-Mind Centering« (BMC) im Jahr 1973 vertiefte sie die Strategie, sich den Körpersystemen und ihrer Entwicklung mit persönlichem Erleben, Spielfreude und Akzeptanz von Veränderung zu nähern. Sie nennt diese Forschungsreise durch Berührung, Visualisierung, Stimme und Bewegung »experimential anatomy«, erfahrbare Anatomie. Diese schließt zwar Bücherwissen und wissenschaftliche Erkenntnisse ein, die vorrangigen Elemente der Exploration sind aber Spüren, Fühlen, Tun.
Bonnie Bainbridge Cohen, geboren 1941, wuchs im Zirkus auf und hat früh gelernt, dass Unmögliches möglich ist. Im Rahmen eines High-School-Projekts gab sie bereits als 16-Jährige Kindern mit Gehirnlähmungen Tanzunterricht. Sie wurde Beschäftigungs- und Bobath-Therapeutin, studierte asiatische Kampfkünste, Yoga, Stimmbildung, Kraniosakral-Arbeit, Ideokinese, Akupunktur und Tanztherapie – ein reicher Erfahrungsschatz. Zu ihren wichtigsten Lehrern gehörte der Tänzer und Choreograf Erick Hawkins, dessen kinesiologische Prinzipien sie noch heute nutzt: Jede Bewegung hat eine nicht-lineare Poesie, sie verläuft in Bögen; jede Bewegung sollte effizient und damit völlig mühelos vom Atem getragen sein. Dass es die Funktion ist, die ein Bewegungsmuster verbessert, und nicht der Fokus auf einen einzelnen Muskel – auch diese Erkenntnis erbte sie von ihrem Lehrer.
Mit ihr über Verletzlichkeit und Schmerzen zu sprechen, heißt, sich mit einer Kundigen auszutauschen. Sie fragt: »Wie kann Verletzlichkeit zu einer Kraft werden? Ich empfinde das als Herausforderung: Meist denken wir, Verletzlichkeit sei ein Problem. Wenn wir nicht verletzlich wären, verschlössen wir uns in gewisser Weise vor dem Leben. Wir sind in jedem Moment des Lebens zerbrechlich. In Bezug auf die Unendlichkeit sind wir vielleicht nicht zerbrechlich. Aber in Bezug auf die Zeit unseres Lebens sehr. Wenn wir in der Ewigkeit sind, ist ein Moment vielleicht lediglich Verwandlung. Was auch immer wir glauben, was danach kommt – diese Verletzlichkeit zu akzeptieren, hat eine große Kraft. Wenn wir fühlen, wir sind verletzlich und müssen stark sein, dann zeigt es eher Schwäche. Wenn ich aber sage: ›oh, ich bin sehr zerbrechlich, ich habe nur das Jetzt, lass mich dieses Jetzt in ganzer Fülle leben‹, dann ist das Stärke.«

Faszination des Alterns
Bonnie Bainbridge Cohen vergleicht die flüchtige Kontinuität des Lebens mit Shakespeares Worten für »Macbeth«: »Life’s but a walking shadow, a poor player that struts and frets his hour upon the stage …« (»Das Leben ist nichts als bewegter Schatten, ein armer Komödiant, der auf der Bühn’ ein Stündlein lärmt und tobt«). Leben hieße damit: »Wir sind dran. In diesem Moment hast du deinen, habe ich meinen Auftritt. Dann kommt der Abtritt. Wohin, hängt von meinem Glauben ab.«
In unserer Gesellschaft wird Reife nicht geschätzt. Alter wird meist mit Hässlichkeit und Schwäche, Jugend mit Schönheit gleichgesetzt. Besonders deutlich zeigt sich Verletzlichkeit an Menschen, deren Beruf Synonym für Jugendlichkeit, Gesundheit und Vitalität ist. Die Lebensspanne von Tänzern, Leistungssportlern, Akrobaten und Artisten ist kürzer bemessen als in jedem anderen Beruf. Und dennoch: »Sie werden technisch nicht mehr so versiert und brillant sein wie in jungen Jahren. Doch wenn wir von einer Begrenzung des Tänzerlebens sprechen, betrifft das ja nur die Virtuo­sität. Wir verändern uns, werden reifer in unserer Verkörperung«, sagt Bonnie. »Ich erinnere mich an Erick Hawkins. Die Leute meinten, er solle aufhören. Ich konnte sie nicht verstehen. Seine Bewegung war so reif und schön. Selbst die kleinste Geste seiner Hand war für mich bemerkenswert. Die jungen Männer konnten zwar höher springen und sahen schön aus, aber sie hatten nicht einen Bruchteil dieser Reife in ihren Bewegungen. Es kommt auf den Fokus an. Du kannst – wie im Schauspiel – nur der junge Held sein, wenn du jung bist. Aber du wirst es mit mehr Leidenschaft tun können, wenn du älter bist. Nicht die Leidenschaft der Jugend, sondern die Leidenschaft der Erfahrung zählt.«
Veränderung zu akzeptieren, die kleinen Tode zu verstehen – das ist für Bonnie Bainbridge Cohen der Schlüssel, mit den Verletzlichkeiten unseres persönlichen Dramas zu leben: »Wir verändern uns ständig: Das Baby stirbt, das Kleinkind wird geboren, das Kleinkind stirbt, das Schulkind wird geboren, der Teenager stirbt – und so weiter. Wir sterben ständig, obwohl wir da sind, wir verschwinden nicht, der Tod manifestiert sich nicht. Ich erinnere mich an Charlotte Selver, die Entwicklerin des ›Sensory Awareness‹, die 2003 mit 103 Jahren starb. Einmal wanderten wir über einen Berg im kalifornischen Big Sur. Und plötzlich hob sie ab wie ein Vogel, sie war in ihren späten Neunzigern, sie flog den Berg hinunter. Ich habe niemals zuvor etwas Schöneres gesehen als diese Frau.«
Das änderte Bonnies Sicht vom Altern dramatisch. Einer Workshopteilnehmerin in Paris geschah Ähnliches, als sie die damals 62-jährige BMC-Begründerin kennenlernte. »Sie sprach mich erstaunt an und sagte: ›Ich kann es gar nicht glauben, ich habe gerade erfahren, wie alt Sie sind.‹ Ich antwortete: ›Ja, das ist meine Übung. Ich übe, eine alte Frau zu sein.‹ Diese Frau freute sich über ein neues Bild vom Altern. Das ist wichtig. Charlotte hat mir das mitgegeben und Erick. Jetzt bin ich an der Reihe, zu üben, alt zu werden. Das ist interessant und herausfordernd. Was die Verletzlichkeit betrifft – wenn ich dem Widerstand entgegenbringe, dann werde ich wirklich eine bestimmte Art von alter Frau sein. Wenn ich es annehme, dann bringe ich die ganze Jugend meines gesamten Lebens in mein Gesicht. So ist es, wenn man auf die Lebensverletzlichkeit schaut. Unfallverletzlichkeit ist eine andere Sache. Wie können wir den Moment annehmen, in dem wir gerade sind?«
Schmerz ist ein Teil des Lebens. Wenn Bonnie sich dazu äußert, sagt sie nicht, »ich denke« oder »ich weiß«, sondern »ich fühle«. Das Selbsterfahrene steht hinter all ihren Äußerungen, wie auch die Freude, keine Wissenschaftlerin zu sein, die etwas beweisen muss, sondern eine Frau, die aus der Position des Nichtwissens heraus unbeschwert Neuland erforschen darf, also auch den Schmerz: »Ich erfahre Schmerz als Information, die schwer zu verarbeiten ist. Wenn zu viel Information in uns einströmt, dann können wir sie nicht in uns aufnehmen und sie verdauen; sie wird dann als Schmerz zurückgeschickt. Auf diesen Punkt hin müssen wir unsere Aufmerksamkeit lenken: Das mag eine Verletzung sein, eine emotionale Überbelastung, ein sich wiederholendes Bewegungssyndrom. Wir frieren das Muster im Körper ein. So gewinnen wir Zeit, damit umzugehen, so lange wir brauchen.«
Sie weiß aber auch: »Wenn wir Schmerzen haben, warum auch immer, leiden wir. Welchen Zugang wir auch immer benutzen, um dem zu begegnen – BMC, Feldenkrais, Alexander-Technik, Tanz, Rolfing, Ideokinese, Osteopathie –, wir leiden. Und davor kann man nicht weglaufen. Es tut weh. Und es hält uns von etwas ab. Einen Tänzer kann es daran hindern, mit voller Kraft zu tanzen. Oder er tanzt im Augenblick mit ganzem Einsatz, dafür verursacht es später noch größere Probleme. Wenn wir es beim Tun ignorieren, könnte Akutes chronisch werden.«
Der Ursprung des Schmerzes ist für Bonnie Bainbridge Cohen die »Eingangspforte« in einen noch ungelösten Entwicklungsprozess. »Wenn wir den Schmerz wegdrücken, verhindern wir die Öffnung zu den Ursachen. Wir können uns operieren lassen – es ist wunderbar, wenn es funktioniert und später nicht zu einer Einschränkung führt, weil es den Energiefluss behindert. Bei vielen Menschen, die künstliche Hüftgelenke bekommen haben, erscheint es mir wie ein Wunder. Es gibt Zeiten, in denen diese Art von Operation uns ein neues Leben schenkt. Vielleicht sind wir in diesem Leben nicht mehr in der Lage, die Probleme zu bewältigen, die dahinter stehen. Andererseits können wir vieles tun, bevor wir ans Operieren gehen. Das ist meine Arbeit. Bei der Hüfte ist es meist weniger eine Verletzung als ein ›Gebrauchsschaden‹.«

Den Schmerz ergründen
In noch jungen Jahren arbeitete Bonnie Bainbridge Cohen in New York mit professionellen Tänzern, darunter den Entwicklern der Contact Improvisation, die stark von ihr beeinflusst wurden. »Je besser sie waren, desto häufiger hatten sie organische Probleme, mit der Menstruation oder mit Zysten. Es waren Halte­mechanismen, die sich vertieft hatten. Das war die Zeit, als ich begann, mich mehr mit den Organen zu beschäftigen. Manchmal führt ein gelöstes Knie- oder Fußgelenkproblem zu tieferliegenden Schwierigkeiten, die mit Gewohnheiten aus dem frühesten Training zu tun haben. Entweder ist der Kreislauf reduziert oder der Energiefluss behindert. Oft sind persönliche Geschichten hinter diesen Spannungsmustern oder Verletzungen, emotional Ungelöstes aus der Kindheit oder Geschichten aus unserer Familie, die durch die Gene weitergetragen werden.« Solche Zusammenhänge gehören oft zu den Gründen, warum sich Menschen jedes Alters in Workshops des Body-Mind Centering oder anderer somatischer Methoden wiederfinden und versuchen, dem auf die Spur zu kommen, was sie bremst oder hindert, ein erfülltes Leben zu leben.
Dass Menschen, vom Ehrgeiz getrieben, oft über Grenzen hinausschießen und nicht genug auf sich selbst achten, weiß Bonnie aus eigener Erfahrung. Auch sie liebte es, »wenn das Blut in den Geweben pulsierte«. Sie hatte das Glück, einer pulsierenden Bewegungswelt zu entstammen und nicht, wie die meisten Therapeuten, von außen zu schauen. »Ich kenne von mir selbst die Leidenschaft und Notwendigkeit für den Tanz. Durchs Tanzen entdeckte ich viele emotionale Probleme. Als ich von Erick Hawkins hörte, wusste ich: Das ist der Weg, denn da war auch die spirituelle Seite, in Berührung mit mir selbst zu kommen. Das war sehr tiefgreifend.«
Auch dass sie besonders erfolgreich mit Menschen arbeitet, die Knieprobleme haben, hängt mit einer persönlichen Erfahrung zusammen: »In meiner Ausbildung bei Hawkins schwollen beide Knie zur gleichen Zeit an, ich konnte nicht mehr tanzen. Es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich ging zum Unterricht, saß still und konnte aufsaugen, was ich sah. Ich habe zwei Monate lang sechs Stunden am Tag in dieser Weise absorbiert, was ich sah. Ich lernte eine Menge über Knie, aber auch eine Menge über das Absorbieren von Qualitäten. Alle machten die gleichen Bewegung, aber jeder machte sie anders. Ich wusste, dass Menschen verschieden sind, aber ich hatte zuvor nicht die Zeit gehabt, das so deutlich wahrzunehmen. Natürlich war ich frustriert, und ich hätte gern mitgemacht. Wenn wir verletzlich sind und in der Verletzlichkeit selbst leben, können wir sehen, welche Türen sich öffnen, während andere sich schließen. Das gilt für jede Art von Verletzlichkeit. Etwas funktioniert nicht, aber etwas anderes wird beseitigt. Dann ist das Leiden nicht vergeblich. Wenn Kinder zu mir kommen, die leiden, möchte ich ihnen zuerst helfen, nicht zu leiden. Ich habe das Gefühl, wenn ich verstehe, warum sie leiden, leiden sie vielleicht nicht umsonst. Sie können ihr Leiden aufgeben, weil ein Austausch geschieht, eine Begegnung stattfindet. Das geschah auch bei mir. Und es geschieht meist unbewusst.«
Diesem Unbewussten gibt Body-Mind Centering eine Stimme – und damit dem autonomen Nervensystem Zeit und Raum zur Selbstregulation. BMC lenkt aber auch die Wahrnehmung bis tief in die Mitochondrien der Zelle hinein. Knochen, Muskeln, Organe, Drüsen, Flüssigkeiten, Faszien, Haut, Nerven, der evolutionäre Verlauf frühkindlicher Bewegungen werden minutiös erkundet. Wer dem Wechsel der Bewegungsmuster und -qualitäten nachlauscht, hat die Chance, umzulernen. Bonnie Bainbridge Cohen füttert damit die »Leidenschaft der Erfahrung« – nicht zuletzt, um an den Leiden zu wachsen. Sie ist dabei ihr bestes Beispiel. Trotz vieler lebensbedrohlicher Einschnitte in ihrem Leben hat sie das Verspielte und sprühend Junge ins Älterwerden hinübergenommen. •


Das Interview erschien in einer veränderten Fassung ursprünglich in der Zeitschrift Ballettanz 8-9/2004.


Irene Sieben (70) ist Feldenkraislehrerin, Tanzcoach und Journalistin. Sie arbeitet in eigener Praxis und lehrt in Berlin an der Universität der Künste und an der TanzTangente. Ihre Bewegungsforschungen und Essays sind stark von Bonnie Bainbridge Cohen beeinflusst.

Ins Body-Mind Centering weiter hineinspüren
www.moveus.de/content/about-bmc
Literatur
• Bonnie Bainbridge Cohen: Sensing, Feeling and Action: The Experiential Anatomy of Body-Mind Centering. Contact editions, 1993/2012 (Die deutsche Übersetzung erscheint 2014 im Drachen Verlag) 

• Linda Hartley: Einführung in Body-Mind Centering. Die Weisheit des Körpers in Bewegung. Hans Huber Verlag, 2012
• Don Hanlon Johnson (Hrsg. der englischen Ausgabe) Thea Rytz (Hrsg. der deutschsprachigen Ausgabe): Klassiker der Körperwahrnehmung. Erfahrungen und Methoden des Embodiment. Hans Huber Verlag, 2012

weitere Artikel aus Ausgabe #23

Photo
von Farah Lenser

Völkerschau und Totentanz (Buchbesprechung)

»Erst treffen wir Dracula, dann Frankenstein.« Mit diesem Satz stimmt uns der Autor Peer Zickgraf auf eine Reise in die deutsche Unterwelt ein, wo es von Untoten, Zombies und Gespenstern nur so wimmelt. Es ist eine unheimliche Welt, die oft vergnügt daherkommt, mit Besuchen der

Photo
Kunstvon Gilda Bartel

Beziehung statt Konvention

Gabriele Steinborn sieht sich als »Anwältin der Verstorbenen«. Die Keramikerin arbeitet heute als Bestatterin. In ihrer »Trauerwerkstatt« können Menschen, die den Tod eines Angehörigen begleiten, den Sarg oder die Urne selbst bemalen oder auch ein

Photo
Sein & Sinnvon Michael Kraft

Endlich! – Eben.

Jeden Morgen öffne ich vorsichtig die Türe und schaue als Erstes nach dem linken Knie. Meist bewegt es sich ein wenig, und ich weiß: Er lebt noch! Sein Gesicht und die Atembewegungen der Brust kann ich erst erkennen, wenn ich schon einige Schritte ins Zimmer getreten bin.Seit vier

Ausgabe #23
Endlich leben

Cover OYA-Ausgabe 23
Neuigkeiten aus der Redaktion