Ein Ort, der junge Menschen ermutigt, zu ihrer eigenen Meinung zu stehen und mit den Erwachsenen partnerschaftlich das Lernen zu gestalten.von Markus Grunz, erschienen in Ausgabe #24/2014
Die »Demokratischen Schule X« in Berlin-Heiligensee verwirklicht seit 2010 ein in Deutschland kaum bekanntes Schulkonzept, das bereits 1968 in Sudbury-Valley in den USA entwickelt wurde und sich nun auch hierzulande ausbreitet. Die Grundlage der Bildungsarbeit basiert auf der vollen Anerkennung der Schüler mit ihrem individuellen Potenzial, ihrem natürlichen Lerndrang und ihrer Selbstermächtigung zur Gestaltung des eigenen Lebensumfelds. Selbstverantwortliches Lernen wird dabei mit einer basisdemokratisch organisierten Schule, in der Schüler wie Mitarbeiter gleichberechtigt sind, verbunden.
Dem eigenen Lernrhythmus folgen Am frühen Vormittag ist es ruhig im Schulgebäude. Zwanzig Kinder verteilen sich auf die wohnungsartig eingerichteten Räume. Der große, helle Gruppenraum ist in verschiedene Spiel-, Arbeits- und Erholungsbereiche aufgeteilt; an der Wand stehen Schränke voller Bücher und Spiele, alles ordentlich aufgeräumt. Ein älteres Mädchen liegt ganz in sich versunken auf dem Sofa und hört Musik über Kopfhörer. Am großen Tisch in der Mitte spielen zwei andere ein Kartenspiel, bei dem man Zahlen zuordnen muss. Da ich das Spiel nicht kenne, frage ich nach. »Ich spiele, weil ich Mathe lernen will«, antwortet das Mädchen. Ihnen gegenüber versucht ein Junge, den Laptop, den sein Vater der Schule gespendet hat, zu installieren. Währenddessen schaue ich mir die Bilder und Zettel an der langen Tafel im Flur an. Verschiedene Kurse, wie Mathematik, Theater, Französisch, und ein Lernausflug ins Naturkundemuseum werden angeboten; bei Interesse nehmen die Kinder daran teil. Daneben hängen neue Vorschläge mit den Wünschen für die nächsten Wochen, z. B. ein Besuch im Kletterpark. Mehrere Protokolle dokumentieren die Ergebnisse der letzten Schulversammlungen, daneben liegt das Regelbuch der Schule aus. Bei Bedarf kann man eine der mittlerweile 182 Regeln nachschlagen. Eine offene Tür führt in die Werkstatt; ein Junge bastelt gerade an der Fertigstellung seines Bogens. Als ich ihn frage, wer all diese Regeln aufgestellt hat, antwortet er voller Stolz: »Wir.« Lennart, 11 Jahre, hat vor einem halben Jahr die Schule gewechselt und fühlt sich wohl im neuen Umfeld der Demokratischen Schule; er mag Chemie, Französisch und Bogenbau. »Ich kann mich hier frei entscheiden und mich mit Dingen beschäftigen, die mich wirklich interessieren. In der alten Schule bin ich von Stunde zu Stunde gehetzt, am Nachmittag hatte ich noch Kurse in der Musikschule. Jetzt habe ich mehr Zeit für meine Freunde. Ich kann in Ruhe lernen und werde nicht angeschrien, wenn ich mal was falsch mache. Mir macht das Lernen wieder Spaß.« An der Demokratischen Schule wird die glückliche Zeit der Selbstbeschäftigung und des freien Lernens, wie sie Kleinkinder ganz selbstverständlich erfahren, weiter fortgeführt. Jedes Kind wählt für sich aus, wie es den Tag gestalten will, ob es Buden baut, Buchstaben lernt, mathematische Gleichungen löst oder am Computer spielt, ob es spazieren geht, umhertollt oder malt. Ebenso entscheidet jedes Kind, in welchen Beziehungskonstellationen es sich die Welt auf die am besten zu ihm passende Weise aneignet: mittels Selbstbeschäftigung, gemeinsamer Spiele, Lernen in Gruppen, virtueller Chaträume oder verbindlicher Lernvereinbarungen, die im gegenseitigen Einvernehmen zwischen Schüler und lehrenden Erwachsenen getroffen werden.
Verantwortung übernehmen Fiona, 14 Jahre, ist vor zwei Jahren an die Demokratische Schule gewechselt. Seitdem engagiert sie sich sehr in der demokratischen Prozessarbeit; die Umstellung vom konventionellen Schulsystem zum selbstbestimmten Lernen fiel ihr recht schwer. »Gerade am Anfang der Zeit hier hatte ich oft Langeweile, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte; es gibt hier schließlich keine Lernvorgaben. Aber nach und nach lässt dieser Druck im eigenen Kopf nach und kippt in einen persönlichen Drang, etwas zu machen. Wenn ich nicht gezwungen werde, gehe ich viel motivierter an die Sachen heran.« Gefragt nach ihren Interessen, erzählt sie mir von ihrem Hund, dem sie selbst schon viele Kunststücke beigebracht hat. Sie spielt in der Schülerband und stellt gern eigene Klamotten her. Schon bald wird sie Praktika in einer Produktionsfirma für Kleidung und in einem Heimattiergarten absolvieren. »Ich möchte allen, die mein Lernen an der Demokratischen Schule mit Skepsis betrachten, beweisen, dass ich etwas kann; deswegen mache ich auch meinen Mittleren Schulabschluss.« Noch immer weit verbreitet ist die allgemein gültige Version von Schule, in der Lehrpläne von außen für die Entwicklung des Kindes notwendig erscheinen, in der die Meinung herrscht, dass generell Erwachsene über das Wohl des Kindes entscheiden müssen und die Richtigkeit dieser Annahmen durch regelmäßige Leistungsmessung an den Kindern bestätigt haben wollen. Den Lernprozess dagegen als selbstverantwortliche, persönliche Reifung zu durchlaufen, wird in unserer Gesellschaft meist nur Erwachsenen zuerkannt; damit verlagern wir unsere in der Schulzeit verpassten Spiel- und Gestaltungsmöglichkeiten ins Erwachsenenalter, um diese teilweise wie lernende Kinder nachzuholen. Die im Kindesalter erlebte Machtlosigkeit wird schließlich in der Macht über unsere Kinder »therapiert«, um dann zu behaupten, Demokratie, Gestaltungskompetenz und selbstverantwortliche Lernprozesse seien noch nichts für junge Menschen. Was aber wäre, wenn wir diese alten, institutionalisierten Muster durchbrechen würden?
Die Schul- und Rechtsversammlung Die heutige Schulversammlung setzt sich aus drei Mitarbeitern und sieben Schülern zusammen. Eine ältere Schülerin moderiert die Diskussion. Gemeinsam werden Entscheidungen über Angebotsgestaltungen, Regeln, Budgetverteilungen, die Einstellung von Mitarbeitern und die weitere Entwicklung des gemeinsamen Lernfelds getroffen. Alle, die an der Schulversammlung teilnehmen – ob Erwachsene oder Kinder –, haben das gleiche Stimmrecht und können ihre Argumente einbringen. Die Entscheidungen fallen durch Abstimmung in einfacher Mehrheit. Heute steht ein Ausflug ins Erlebnisbad auf der Tagesordnung. Ein Mädchen hat dazu einen Antrag zusammen mit vier Unterstützern eingereicht. Im Lauf der Diskussion setzen sich die Gegensprecher durch; von den Antragstellern ist niemand anwesend, um für den Ausflug zu sprechen. Weitere Anträge kommen auf den Tisch: Ein neues Computerspiel wird angeschafft – unter der Bedingung, dass ein Erwachsener das Spiel mit aussucht. Man diskutiert über den Wortlaut einer neuen Schulregel; nach einigen Minuten dreht sich die Diskussion im Kreis. »Lange genug geredet«, unterbricht die Versammlungsleiterin, »jetzt wird abgestimmt.« Das bringt einen Kompromiss, der die Angelegenheit in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation klären soll, anstatt zu verallgemeinern. Zum Abschluss werden noch mehrere Schulregeln zum Putzdienst zu wenigen, überschaubaren Punkten zusammengelegt. Bereits kurz nach der Versammlung hängt ihr Protokoll aus. Das Mädchen, das den Schulausflug beantragt hatte, ist traurig. »Was hättest du machen können?«, frage ich. »Bei der Versammlung dabei sein und mein Anliegen vertreten.« In unserer vor drei Jahrhunderten hart erkämpften, repräsentativen Demokratie sind Bürgerinnen und Bürger weitestgehend dazu übergegangen, Zuschauer des politischen Geschehens zu sein. Die Ursache für fehlende Bürgerbeteiligung könnte womöglich auf die antrainierte Wissensreproduktion im konventionellen Schulsystem zurückgeführt werden; beiden gleich ist offensichtlich die Verlagerung der persönlichen Gestaltungsmacht eines jeden Menschen an institutionelle Vertreter. Deshalb brauchen wir dringend Schulungen zur Selbstermächtigung und zur demokratischen Gestaltung gemeinschaftlicher Entwicklungsfelder. Ich spreche noch einmal mit Fiona über ihre Erfahrungen mit demokratischer Selbstbestimmung: »An unserer Schule geht es hauptsächlich um das Miteinander. Wir verbringen viel Zeit mit unseren Mitschülern, die wir uns natürlich nicht ausgesucht haben, so dass wir vor allem lernen müssen, miteinander zurechtzukommen. Klar gibt es Konflikte und Streitereien, aber dafür kann sich jeder in der Rechtsversammlung über Ungerechtigkeiten beschweren.« Ich frage, was sie hier gelernt hat. »Wieder meine Meinung sagen zu können – die zählt hier. Auch wenn ich mich manchmal über unsere vielen Regeln lustig mache, nehme ich die demokratischen Prozesse sehr ernst. Ehrlich gesagt, kann ich’s mir nicht mehr ohne sie vorstellen!« Und was lernen hier die Erwachsenen? »Dass sie uns ernst nehmen müssen.« Gleich nach dem Mittagessen findet die Rechtsversammlung statt; dieses zweite demokratische Verfahren neben der Schulversammlung wird fast täglich praktiziert – immer dann, wenn jemand eine Beschwerde gegen jemand anderen eingereicht hat. Der Versammlungsraum füllt sich mit Kindern. Einige von ihnen sind zum Richter gewählt worden; sie dürfen den Rechtsprozess leiten und über Konsequenzen entscheiden. Gestern wurden Eisverpackungen am Computer liegengelassen, obwohl sie laut Schulregelbuch weggeräumt werden müssen. Trotz mehrerer Zeugenbefragungen kann der Verantwortliche nicht ermittelt werden. Es gibt heiße Diskussionen. Schließlich einigt man sich darauf, dass es so lange kein Eis in der Schule geben wird, bis die Verursacher die Verantwortung übernehmen. Schon in der nächsten Versammlung wird jemand dieses Urteil anfechten, da für die Tat des Einzelnen nicht das ganze Kollektiv bestraft werden dürfe. Als zweiter Punkt steht ein persönlicher Konflikt an: Während einer Besprechung des Aufnahmekomitees für neue Schüler saß eine Schülerin mit Schuhen auf dem Sofa. Als ein Mitarbeiter sie darauf ansprach, warf sie ihm vor, die Arbeit des Komitees zu stören. Nachdem beide ihre Hintergründe dargelegt und dem andern erzählt haben, wie sie die Sache sehen, ziehen sie ihre gegenseitigen Beschwerden zurück. Die lange Auseinandersetzung lässt die Hintergründe der Rechtsverfahren deutlich werden: Beziehungsarbeit – zwischen Schülern und Schülern, aber auch zwischen Schülern und Erwachsenen.
Begleiten statt beschulen Andrea ist gelernte Erzieherin und seit anderthalb Jahren an der Demokratischen Schule als Lernbegleiterin tätig; mit ihrer ehrlichen, mitfühlenden, aber auch konsequenten Art trägt sie einen wesentlichen Teil zur wohltuenden Atmosphäre bei. Auf meine Frage, was die Schule in ihrer bisherigen Entwicklung erreicht hat, antwortet sie: »Die Beteiligung der Schüler an den Versammlungen ist gewachsen. Am Anfang saßen nur einzelne Kinder mit dabei, mittlerweile engagieren sich drei, vier ältere Schüler sehr aktiv und übernehmen Leitung und Protokollführung. Auch das Lernenwollen, das Wissenwollen, wächst bei den Schülern immer stärker. Das ist ein langer, persönlicher Prozess. Alles will erst wiedererlernt werden – Mitgestaltung und Selbstengagement. Gerade weil die Schüler noch sehr in diesen Prozessen stecken, ist das Gemeinschaftsgefühl noch nicht besonders ausgeprägt. Wenn aber jemand Hilfe oder Unterstützung braucht, halten sie alle zusammen.« Das Lernen im Zwischenmenschlichen wird an Demokratischen Schulen weit vor den klassischen Lerninhalten zum Kern der täglichen Arbeit. Wenn die Verarbeitung von vorgesetztem Stoff aufhört, wird der Mensch erst einmal mit sich selbst konfrontiert. In dieser Leere kann man sich entweder mit neuen Ersatzinhalten füllen oder dem eigenen Wesen mit seinen Bedürfnissen, Konflikten, Zweifeln und Genüssen auf die Spur kommen und dieses »echte Ich« im Wirkungsfeld der Gruppe zum Vorschein treten lassen. Die eigene Verwirklichung ist der Einstieg in ein selbstverantwortliches Lernen, dem alle Motivation zu inhaltlicher Arbeit folgen wird. Das Vertrauen, dass jedes Kind an diesen Punkt kommt, ist das, was die außenstehenden Erwachsenen in der Begleitung der Kinder aufbauen müssen. Wie nimmt Andrea die Prozesse der Lernbegleiter wahr? »Wir ertappen uns noch oft genug, überzeugen zu wollen, und die Schüler merken sofort, wenn wir sie ›hintenherum‹ mit Lerninhalten konfrontieren. Diese Unsicherheit, die durch den Widerspruch zwischen der eigenen Schulerfahrung und der Art und Weise, wie man nun selbst Schule weitergibt, entsteht, kann ich nur durch meine mir eigene Authentizität angehen. Wichtig sind mir Begegnungen auf Augenhöhe – und dass ich hinter den Konflikten das Bedürfnis nach Anerkennung und Beziehung sehen kann. Jedes Kind hier besitzt einen Schatz, der mir als Begleiterin anvertraut ist und den ich durch meine Arbeit behüten möchte.« Die Demokratische Schule X ist selbst ein zu hütendes Gut. Sie muss sich zunächst an den herrschenden Gesellschaftszuständen reiben, um diese allmählich zur Veränderung zu führen. In der Selbstermächtigung der Kinder wird der Zwiespalt zum bisher Gewohnten offenbar. Seine Auflösung ist jeden Tag Aufgabe aller Beteiligten. Die langjährigen Erfahrungen der Sudbury-Valley-Schule zeigen jedoch, was möglich ist: Die Schulabsolventen verfügen über einen großen Erfahrungsschatz bezüglich Gesellschaftsgestaltung und Konfliktlösung. Es fällt ihnen leicht, sich mit neuen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Der Demokratischen Schule X sind viele selbstbewusste Kinder zu wünschen.
Marko Grunz (37) Theater- und Erlebnispädagoge, interessiert sich für alternative Potenziale des Zusammenwirkens und liebt die tiefgründigen Dinge des Lebens.