Ein gesunder Umgang mit einer Krankheit bedeutet, Schuldgefühle aufzulösen.von Irmhild Harbach-Dietz, erschienen in Ausgabe #24/2014
In der ersten Zeit nach meiner Krebsdiagnose ging mir immer wieder der Satz durch den Kopf: »Du hast es versiebt! Du hast dein Leben in den Sand gesetzt.« Erst später wurde mir klar, welche Anmaßung hinter dieser Art des Denkens steckt. In umgekehrter Logik würde das bedeuten: »Wenn ich alles richtig mache, kann ich nicht krank werden.« Welch überhebliche Vorstellung! Bei solchen Allmachtsgedanken vergessen oder leugnen wir, dass Krankheit zum Leben gehört. Schuldgefühle werden auch durch Aussagen wie die Folgende aus der Mitgliederzeitung einer großen Krebshilfeorganisation gefördert: »Bis zu zwei Drittel aller Krebserkrankungen könnten nach Expertenmeinungen durch einen gesunden Lebensstil vermieden werden. Dazu gehören: Nichtrauchen, regelmäßige körperliche Bewegung, gesunde Ernährung und der vorsichtige Umgang mit UV-Strahlung.« Ähnliches ist auf Ärztekongressen zu hören und in Fachbüchern zu lesen, wobei der prozentuale Anteil, der dem Lebensstil zugeschrieben wird, variiert. Ich empfinde diese Aussagen, wenn sie so undifferenziert und ohne weitere Erklärungen ausgesprochen werden, jedesmal als eine Ohrfeige für die Betroffenen. Selbst schuld! Weshalb hast du nicht vernünftiger gelebt? Freilich ist es richtig, sich gesund zu ernähren, nicht zu rauchen und sich viel zu bewegen, aber damit allein lassen sich Krankheiten individuell nicht verhindern. Es gibt junge, schlanke Frauen, die sich bewusst ernähren, Sport treiben, Yoga machen und trotzdem an Brustkrebs erkranken. Mich ärgert an dieser versteckten Schuldzuweisung auch, dass gesellschaftlich bedingte Zusammenhänge, Umwelteinflüsse und die Zunahme von Stress nicht einmal erwähnt werden. In unserer Beratungsstelle höre ich häufig, dass Menschen froh sind, aufgrund der Erkrankung einige Zeit aus dem Beruf aussteigen oder früher in Rente gehen zu können, weil sie sich der Belastung am Arbeitsplatz nicht mehr gewachsen fühlen. Indirekte Schuldzuschreibung erfahren viele auch durch ihre Mitmenschen, wenn diese meinen, die Gründe der Krankheitsentstehung zu kennen. Dann kommen Bemerkungen wie: »Du bist krank geworden, weil du in einer belastenden Beziehung lebst, weil du zuviel arbeitest, weil du deine Kindheit nicht aufgearbeitet hast« und so fort. Solche Interpretationen stellen in meinen Augen ein übergriffiges Verhalten dar und können häufig als Abwehrreaktion von Gesunden gesehen werden, mit denen diese ihre eigene Angst vor Krankheiten bekämpfen – nach dem Motto: »Wenn ich die Ursachen für die Erkrankung des anderen weiß und benennen kann, dann kann ich mich selbst davor schützen.« Krankheiten sind immer von verschiedenen Faktoren abhängig. Viele Zusammenhänge für ihre Entstehung sind noch unbekannt, und vereinfachende Erklärungen werden diesem komplexen Geschehen nicht gerecht. Allerdings ist es für Außenstehende oft schwer zu ertragen, hilflos zuzusehen, wie sich die gesundheitliche Situation eines geliebten Menschen verschlechtert oder wie dieser – aus ihrer Sicht – nicht die nötigen Konsequenzen zieht oder nicht die »richtigen« Behandlungen wählt. In diesem Fall ist es wichtig, sich immer wieder klarzumachen, dass der oder die Erkrankte ein Recht auf eigene Entscheidungen hat.
Nach vorne schauen Schuld ist rückwärtsgewandt und verhindert konstruktives Handeln. Beispielhaft steht dafür der Säufer im »Kleinen Prinzen«, der sagt: »Ich trinke, um zu vergessen.« Um was zu vergessen? »Um zu vergessen, dass ich mich schäme.« Weshalb schämst du dich? »Weil ich saufe!« Wesentlich ist es dagegen, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für die Genesung und Krankheitsverarbeitung. Verantwortung richtet sich in die Zukunft und eröffnet Handlungsmöglichkeiten. Wofür aber bin ich verantwortlich? Für perfekte Gesundheit? Für Heilung? Da tut sich wieder die Falle der Allmachtsfantasien auf. In jedem Fall bin ich verantwortlich für meine Entscheidungen, für meinen Umgang mit der Erkrankung und vor allem für den Umgang mit mir selbst. Es ist meine Verantwortung, gut für mich zu sorgen – gerade jetzt! Es liegt nicht in meiner Macht, darüber zu bestimmen, ob ich krank werde, und obwohl ich viel für meine Genesung tun kann, hängt es nicht allein von mir ab, ob ich gesund werde. Ein wenig Demut tut gut. Wir brauchen beides: Mut und Gnade, wie Ken Wilber es nennt. In unserer Gesellschaft hat sich eine technische Sichtweise auf Krankheiten entwickelt: Sie sind Fehler, die verhindert werden müssen – durch Impfungen, Medikamente oder Vorsorgechecks. Der Körper soll immer funktionieren! Wenn wir Kinderkrankheiten betrachten, so können wir feststellen, dass diese oft wichtige Lernphasen darstellen und Entwicklungsschübe auslösen. Auch bei Erwachsenen sind Infekte gute Übungsfelder, quasi Trainingseinheiten für den Körper. Wie Karl Valentin sagte: »Nie krank, ist auch nicht richtig gesund!«
Dem Geschenk auf der Spur Das Schuldthema ist in unserer christlichen Tradition tief verankert. Auch aufgeklärte, rationale Menschen deuten ihre Erkrankung manchmal als Strafe für Fehler, die sie begangen haben. Aber der Körper straft nicht für falsches Verhalten – er reagiert auf unseren Umgang mit ihm, gibt Hinweise auf mögliche Änderungen und warnt uns durch Schmerzen. Ich kann die Frage nach der Schuld auch positiv wenden: Was schulde ich mir? Vielleicht weist mich die Erkrankung darauf hin, dass ich mehr so leben soll, wie es mir ganz persönlich entspricht. Lawrence LeShan, Pionier der ganzheitlichen Krebstherapie, spricht von der persönlichen Lebensmelodie, die es zu finden gilt. Die Frage nach den Ursachen einer Erkrankung hängt auch mit dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Sinnfindung zusammen. In ernsten, unerwarteten Krisen fragen wir stets nach dem Warum, den Ursachen und eigenen möglichen Anteilen. Aus der Bearbeitung solcher Fragen können allmählich Aktivitäten und Wünsche erwachsen, die von Ergebenheit in das Schicksal bis zu Aufbegehren und Widerstand reichen können. Bei der Sinnfrage geht es auch darum, das Leben insgesamt in seinem Auf und Ab als stimmig zu begreifen, das heißt, schwierige Ereignisse und Umbrüche zur Gewinnung einer eigenen Identität in den Lebenslauf zu integrieren. Den persönlichen Sinn zu finden, bedeutet für jede und jeden etwas anderes. Für einige heißt es, grundlegende Lebensveränderungen zu vollziehen, Zustände zu ändern, die in ihren Augen krankmachend sind. Für andere bedeutet es schlicht, mehr auf sich zu achten und sich zu fragen: Was tut mir gut, und wie kann ich es in mein Leben integrieren? Es ist erstaunlich, welche Kräfte die Bedrohung durch eine schwere Erkrankung manchmal freisetzt, so dass neue Lebensentwürfe ausprobiert werden. In meiner persönlichen Geschichte hat mir die Krankheit »erlaubt«, aus einer belastenden beruflichen Tätigkeit auszusteigen und nach einer Erholungspause eine Stelle zu finden, die mir und meinen Wünschen entspricht. Und ich glaube, dass meine neue Lebenszufriedenheit die Heilung wesentlich unterstützt hat! •
Die Originalfassung dieses Artikels erschien in der Mitgliederzeitschrift »Signal« 4/2012 der Gesellschaft für biologische Krebsabwehr (GfBK).
Irmhild Harbach-Dietz (65) ist als Psychologische Psychotherapeutin bei der GfBK in Berlin tätig und bietet dort psychoonkologische Beratung und Gesundheitstraining an.
Mehr zu individuellen Lebens- und Gesundungswegen www.biokrebs.de Literatur: • Lawrence LeShan: Krebs-Wendepunkt und Neubeginn. Klett-Cotta, 1993 • Irmhild Harbach-Dietz: Ich bin sehr dankbar für mein Leben. Frauen berichten über Alternativen im Umgang mit Krebs. Orlanda Verlag, 2010 • Die verkannte Gefahr – Umwelteinflüsse und Brustkrebs. AKF, Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e. V., 2010