Gemeinschaft

Zuhause unter Menschen

Eine Spurensuche nach zeitgemäßer Gemeinschaft.von Dieter Halbach, erschienen in Ausgabe #25/2014
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© schelletter-illustration.de

Noch nie ist mir ein Mensch begegnet, der sich nicht nach sozialer Resonanz gesehnt hätte. Gleichzeitig möchten alle auf ihre ganz eigene Weise leben, möchten sie selbst sein. Das ist der Reiz der menschlichen Evolution: Jeden Tag sind wir von Neuem aufgefordert, uns in dieser Verschiedenheit miteinander zu verbinden. Doch wie kann eine freie Gemeinschaft aussehen, in der Menschen zugleich ganz sie selbst sein können? Wie ließe sie sich erschaffen?
»Gemeinschaftsprojekte zeichnen sich häufig dadurch aus, dass – obwohl ihre Mitglieder zu 90 Prozent in inhaltlichen Fragen miteinander übereinstimmen – sie 90 Prozent ihrer Zeit und Energie dafür verwenden, sich über die restlichen 10 Prozent zu streiten.« Das sagte die Gemeinschaftsberaterin Jil Jordan 1995 auf der ersten weltweiten Ökodorf-Konferenz. Für mich war es ein Weckruf: Wie kann es sein, dass bei so viel Übereinstimmung so viel Zwietracht besteht? Offenbar suchen Menschen nach Einheit aus einer Haltung der Getrenntheit heraus. Ich denke, es ist ein Phänomen dieser Zeit, dass wir für die Einheit unempfänglich sind, die in der Verschiedenheit liegt. Unsere Gemeinschaftssuche ist gleichermaßen zu kollektivistisch und zu egoistisch. Wenn wir alle um das Lenkrad herumsitzen und das Verfahren der Entscheidungsfindung diskutieren, fährt das Auto derweilen gegen die Wand. Oft erinnert mich diese Form des Ringens um Gemeinschaft an den Gärtner, der einen runden Busch haben möchte und so lange versucht, ihn zu beschneiden, bis er zwar rund, aber kaum mehr ein Busch ist.

Finde heraus, was zu dir passt!
Gemeinschaft ist keine äußere Form. Sie ist eine Einladung. Ich vermeide deshalb bewusst eine Definition. Wie wäre es, wenn Menschen gar nicht nach der für sie »richtigen« Gemeinschaft, sondern nach Gemeinschaftlichkeit suchen würden? Nach einem Zuhause unter Menschen? Wie immer dieses Zuhause sich auch zeigen mag, ob in Familien, Freundeskreisen, beruflichen und politischen Gruppen – meist entsteht es, wenn wir uns von den Menschen um uns herum gesehen fühlen, wenn wir in ihrem Herzen wohnen dürfen. Doch geistige und emotionale Heimat sind heute unsichere Orte. Aus Vertrauten werden schnell Fremde, aus Liebenden werden Getrennte.
»Wir sind eine Gemeinschaft« bleibt oft ein Konzept, in der Wirklickeit leben innerlich unverbundene Einzelne. Das ist anstrengend und unbefriedigend. Unsere Bedürfnisse in Bezug auf Schutz und Homogenität im persönlichen Umfeld treffen auf eine sich ständig verändernde Wirklichkeit. Unsere emotionalen ­Erwartungen entspringen meistens unvollendeten Bindungen aus unserer Kindheit, doch wir leben unter erwachsenen Menschen, die sich ihre Verbindungen zu anderen eigenständig erarbeiten müssen. Dafür sollten wir uns gegenseitig Raum geben.
»Gott hat keinem alles, sondern jedem etwas gegeben – damit wir einander bedürfen«, sagte Albert Einstein. Selbst innerhalb einer Gemeinschaft kann es verschiedene Formen der Zugehörigkeit geben. Im »Ökodorf Sieben Linden«, wo ich seit vielen Jahren lebe, gibt es neben verbindlichen Mitgliedern, die in unterschiedlichen Nachbarschaften wohnen, auch Menschen in Probezeit, Lebensschülerinnen, Grenzgänger, Mitbewohnerinnen, Freiwillige, Praktikanten und Angehörige.
Mein Vorschlag: Jeder möge sich seinen eigenen Gemeinschafts-Anzug schneidern, Hauptsache der Anzug passt, und die anderen mögen ihn, weil er den Menschen darin nicht verbirgt, sondern sichtbar macht – weil er andere inspiriert, auch ihren ganz persönlichen Anzug zu schneidern. In meinen Augen ist das nämlich das Wichtigste: Den Gemeinschafts-Anzug der eigenen Seele und der eigenen Beweglichkeit anzupassen und sich nicht in Vorgaben zu zwängen, die von außen bestimmen, wie wir idealerweise sein sollen. Von dort aus kann dann der gemeinschaftliche Tanz beginnen. Es ist nicht nötig, zu allen Gelegenheiten und in allen Lebensphasen den gleichen Anzug tragen. Menschen sind immer Teil verschiedener Gemeinschaften und leben heute in vernetzten Kreisen, die durchlässig sind, sich ergänzen und so widersprüchlich sind wie wir selbst. Zu manchen mag eine familiäre Lebensgemeinschaft passen, zu den anderen ein lockeres Nachbarschaftsnetz. Nicht nur, wer täglich mit zig Menschen am Mittagstisch sitzt, kann von sich sagen, gemeinschaftlich zu leben. Es scheint an der Zeit, das verbreitete Ideal einer engen, intimen Gemeinschaft infragezustellen. Der amerikanische Sozialforscher Richard Sennet warnt uns vor der »Tyrannei der Intimität«: In zu engen Gemeinschaften würden Außenseiter und Andersartige – also potenziell wir alle – ausgegrenzt. Die Persönlichkeitsmerkmale, die die Gemeinschaft teilt, könnten immer exklusiver werden. Bei zu viel Nähe und Zugehörigkeitsdenken drohen innere Spaltung und Konflikt.

Was sind deine Erwartungen?
Es ist ein Paradox: Häufig steht die Sehnsucht nach Gemeinschaft im umgekehrten Verhältnis zur Fähigkeit, sie entstehen zu lassen. Dabei ist nicht die Sehnsucht selbst abträglich, sondern die Erwartung eines Ideals. Die Blickrichtung meiner Sehnsucht geht zunächst nach außen. Ich erwarte von den anderen die Bestätigung meiner Weltsicht oder meiner Fähigkeiten – oder die Erfüllung meiner emotionalen Bedürfnisse. Gemeinschaft verlangt aber nach einem Energieüberschuss.
Die Frage lautet also: Kann ich geben, was ich erfahren möchte? Kann ich wahrnehmen, was ich empfangen möchte? Meiner Ansicht nach kann keine Gemeinschaftsform – und sei sie noch so ideal – alle Bedürfnisse befriedigen. Die gemeinschaftliche Qualität entsteht erst durch das Einüben der Präsenz und Selbstverwirklichung in den unterschiedlichen Facetten des Lebens. Im Folgenden dazu einige Beispiele.
Selbst-Bewusstsein: Nur wenn ich mich selbst kenne, kann ich andere wirklich wahrnehmen und anerkennen. Eine wesentliche Frage ist hier: Kann ich mich fühlen, wenn ich mit anderen in Kontakt trete? Kann ich mein Gegenüber fühlen? Bin ich frei, meine Wahrheit zu sagen – und die der anderen zu hören? Kann ich mich mit meinen Licht- und Schattenseiten verbinden – und diesen bei anderen mit Wohlwollen begegnen?
Verantwortliches Handeln: Hier gibt es kein »Wir«: Ich muss es tun! Auch wenn andere beteiligt sind, kann niemand mir meine Verantwortung abnehmen. Freiheit beinhaltet in diesem Sinn die Disziplin, immer entsprechend den eigenen Wahrnehmungen und Bedürfnissen zu handeln. Die Kunst von Gemeinschaft besteht dar­in, das im Kontakt mit den anderen zu tun.
Dialog und Begegnung: Es gilt, Räume zu schaffen, in denen Menschen sich gegenseitig von innen her wahrnehmen und erfahren können. Im Modus der heutigen Gesellschaft begegnen wir uns oft in Rollen und Funktionen – im Modus von Gemeinschaft begegnen wir uns als Menschen. Eine solche Kultur fehlt in unserer Gesellschaft. Eine achtsame Haltung und gute Kommunikationswerkzeuge sind nötig, damit Intimität einen geschützten Raum erhält.
Klare Strukturen: Jenseits von persönlicher Sympathie und Antipathie sind verlässliche Strukturen notwendig, die aus gemeinschaftlichen Werten entstehen und jedem Mitglied zustehen. Ich rate jeder Gemeinschaft, Verträge zu machen und interne Regeln und Strukturen zu schaffen. Schon öfter war ich froh darüber, dass wir ein »schwieriges« Mitglied nicht einfach ausschließen konnten.
Der »gemeinsame Raum«, der all diese Aspekte umfasst, ist das »Energiefeld« von Gemeinschaft. Es ist nicht einfach da, weil wir im Kreis sitzen. Erst ein verbundenes Bewusstsein erschafft dieses Feld, in dem du dein Gegenüber wach mit Geist, Herz und Körper wahrnimmst. Es gleicht der Entdeckung eines neuen Sinnesorgans, diese soziale Kunst zu praktizieren – mit einer umfassenden Sprache aller Sinne, die unser gemeinsames uraltes Zuhause ist. Kommunikation wird dann komplexer wie auch einfacher, sie wird »hellsichtig« wie in einer improvisierenden Jazzband. Jeder schräge Ton wird als Beginn einer neuen Improvisation gefeiert. Ein sensitiv-verbundenes »musikalisches Wir« kann die Gemeinschaft der Zukunft sein. Die Ebene der linearen, rein verstandesmäßigen Kommunikation zu verlassen, verlangt nach aufeinander abgestimmten Instrumenten. Das »Stimmen« beginnt oft mit der Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte. Manchmal habe ich in gemeinschaftlichen Zusammenhängen das Gefühl, dass neben den Anwesenden auch noch deren unbewusste Anteile und Vertreter der Ahnenreihen sitzen. Statt hundert Personen tummeln sich so vielleicht tausend auf einem Treffen und mischen unerkannt mit.
Folgen Menschen vornehmlich einem linearem Denken und Argumentieren, entstehen die berühmten »Kommunikationsprobleme«. Da ist es hilfreich, unbewusste Bindungen anzuerkennen und zu bearbeiten – der Raum wird frei für die jeweils gegenwärtige Gemeinschaft. Für die meisten Menschen sind das ihre Partnerschaft und ihre Familie. Dass im Nukleus einer nahen Beziehung offen miteinander gesprochen werden kann, ist nicht selbstverständlich. Ihre intime Dynamik kann verletzend werden. Erweiterte Wahlfamilien aus Partnerschaften, Beratern, Freundinnen und Selbsthilfegruppen tragen dazu bei, Beziehungen von ihrem emotio­nalen Druck wie von ganz praktischen Überforderungen zu entlasten und einen gemeinschaftlichen Erkenntnisraum zu bilden. Sogar mit ungeliebten Familienangehörigen, Kollegen oder Lehrerinnen können wir uns – selbst nach ihrem Tod – versöhnen und sie so zu Teilen unserer großen Gemeinschaft werden lassen.

Die Gemeinschaft der Ungleichgesinnten
Es scheinen ganz einfache Dinge zu sein, die Gemeinschaft schaffen: Jemandem zuhören, ihn umarmen, etwas miteinander teilen, gemeinsame Ziele haben. Doch was ist, wenn es darum geht, einen Fremden zu unterstützen, Menschen mit anderen Überzeugungen zuzuhören – oder eine persönliche Kränkung zu verzeihen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Gemeinschaft dann Konflikte birgt, wenn sie zu nah oder auch zu fremd ist, denn dann müssen wir innerlich entweder gegen unser Abgrenzungsbedürfnis oder den archaisch-kindlichen Drang nach Einheit und Verschmelzung »anleben«. Eine plurale Gemeinschaft hat den Dissens, nicht den Konsens zur seelischen Grundlage. Sie gelingt mit Menschen, die bereit sind, dem Anderssein zu begegnen, die Differenzen aushalten können, die mit sich selbst und mit den anderen verbunden sind – und die andere frei lassen.
Können wir unser Gemeinschaftsempfinden so weit ausdehnen? Können wir – wie Rilke es formuliert – lernen, »die Weite zwischen uns zu lieben« und so »einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen«? Gemeinschaft wird überall gebraucht und ist überall möglich. Sie ist eine innere Entscheidung. Wer sich eine Nachbarschaft der »offenen Türen« wünscht, schreibe kein Konzept, sondern öffne die Tür. Die Frage ist also weniger: Soll ich in ein Gemeinschaftsprojekt ziehen? Sondern mehr: Wer bin ich als Gemeinschaftsmensch? In welcher Gemeinschaft lebe ich schon? Und wie will ich sie gestalten?
Gemeinschaft ist für mich das Herz einer am Gemeinwohl orientierten Gesellschaft. Sie ist wie eine große Umarmung, die potenziell alle Menschen umfasst. Vielleicht ist es ein Traum, vielleicht eine Notwendigkeit – hoffentlich aber irgendwann eine Selbstverständlichkeit. 

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