Kommunen, Solidarische Landwirtschaft und Transition-Town-Initiativen schaffen in Kassel eine lebendige Gemeinschaftskultur.
von Antje Gerdes, erschienen in Ausgabe #25/2014
In Lebensgemeinschaften zu leben und Gemeinschaften zu gründen liegt im Trend. In Kassel hat das Tradition: Vier Gemeinschaften gibt es hier, die älteste bald 30 Jahre alt, die jüngste vor zwei Jahren gegründet, eine fünfte ist in Entstehung. Viele weitere Menschen in Projekten, Initiativen und Gruppen tragen zu einer (Sub-)Kultur bei, die in Kassel und Umgebung sehr lebendig ist.
Ich selbst bin seit knapp fünf Jahren Teil der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft »gASTWERKe« in der Nähe von Kassel. Von dort aus führen viele Pfade in weitere gemeinschaftliche Netze, die sich mit der Stadt und dem umliegenden Land verbinden. Zwei Monate lange habe ich die Vielfalt dieser Pfade aufgezeichnet. 6. Dezember 2013: Am Morgen begegnet mir als erster mein Mitbewohner Peter. Wir sitzen beide am Frühstückstisch, keiner von uns hat den Impuls, sein Tagwerk zu beginnen. Draußen ist es neblig und grau. »Was ist für dich Gemeinschaft?«, frage ich ihn spontan. »Zusammenleben mit Freunden«, antwortet er. »Da muss ich nicht immer Termine machen, um mit anderen zusammen zu sein; die mir lieben Menschen sind einfach da.« Er überlegt weiter: »Gemeinschaft, das ist auch das gemeinsame Mosten mit Leuten aus der Kommune Niederkaufungen und vom Lossehof. Als uns beim Mosten klar wurde, dass wir nicht genügend Äpfel haben, um den Bedarf an Apfelsaft für alle zu decken, habe ich gesagt, dass ich für unsere Gruppe mit 1000 Litern zufrieden wäre, obwohl wir wahrscheinlich 1500 Liter verbrauchen. Das hat die Zweifel darüber, ob wohl alle zufrieden sein werden, zerstreut.« 14. Dezember: Beim »Lebendigen Adventskalender« in Escherode machen heute Hildegard und Siegfried ein Türchen auf. Die Idee: An jedem Tag der Adventszeit lädt eine Familie zu einem kurzen besinnlichen Beisammensein ein. Die Gastgeber schmücken eines ihrer Fenster weihnachtlich, lesen eine Geschichte, vielleicht spielt jemand ein Musikstück vor, und anschließend wird bei einem heißen Getränk ein wenig geplaudert. Etliche der rund 50 Gäste sind jedes Mal dabei, so auch Hildegard. Abends, wenn die kleine Gruppe auseinandergeht, heißt es »Bis morgen!« – und Hildegard freut sich auf die nächste Einladung. Auf diese Art und Weise haben wir beide uns kennengelernt. Auch mit anderen, die seit Jahren in Escherode leben, nimmt sie jetzt zum ersten Mal Kontakt auf. 17. Dezember: Ich bin zu Besuch in der Kommune Niederkaufungen, Lebens- und Arbeitsgemeinschaft seit 27 Jahren. Hier habe ich fünf Jahre gelebt und fürs Leben wichtige Erfahrungen gemacht. Wie 2006, als Luca, die Tochter zweier mir sehr lieb gewordenen Kommunemitglieder, geboren wurde. Ich durfte bei ihrer Geburt dabei sein. »Wenn ich dich frage, Luca, was du unter Gemeinschaft verstehst, was ist deine Antwort?« Spontan und ohne Nachdenken sagt sie: »Zusammenleben!« Früher schon hat sie mir erzählt, wie sehr sie sich freut, dass ihr bester Freund Milan auf demselben Stockwerk in der Nachbarwohnung lebt und sie nur durch die Tür am Ende des Flurs gehen muss, um ihn zu sehen.
Knotenpunkte im Netz 20. Dezember: Transition Town (TT) Kassel lädt zur Wintersonnwendfeier ein: In der Küche einer ehemaligen Kneipe macht Stefani vom Verein »Essbare Stadt« ihren Eintopf warm, schneidet das selbstgebackene Brot auf und erklärt den Hungrigen auf kleinen Kärtchen, dass sie Grünkohl von der Gärtnerei Wurzelwerk aus Escherode essen und den Quark vom Demeter-Betrieb Eschenhof in Wolfhagen, ebenfalls ganz in der Nähe. Stefani ist seit fast 40 Jahren in gemeinschaftlichen Zusammenhängen unterwegs und wirkt wie eine »alte Häsin«, was Gemeinschaftsdenken angeht: Mit 16 zog sie in eine Wohngemeinschaft im Spessart, wo sie ein etabliertes Netz von Landkommunen vorfand. Mit 35 Jahren kam Stefani nach Kassel, engagierte sich bald in der hiesigen Freien Schule und zog fünf Jahre später in die sich neu gründende Lebensgemeinschaft »Villa Locomuna« mitten in der Stadt. Am Glühwein- und Kinderpunsch-Stand treffe ich Hartmut. Er ist bei TT im Organisationsteam für Veranstaltungen aktiv. »Ist das hier eine Gemeinschaft?«, frage ich ihn. »Nein!«, antwortet er schnell, »eher eine Graswurzelbewegung: Es wächst und bewegt sich im Verborgenen, und ab und zu schießt ein Projekt aus dem Boden. Daraus entsteht ein äußeres Feld, bei TT sogar eine weltumspannende Vernetzung.« Warum er so gar nicht auf das Thema Gemeinschaft eingegangen sei, frage ich Hartmut später. Ein bisschen wehmütig beschreibt er, dass »zu TT viele Menschen kommen, die auf der Suche nach Gemeinschaft sind. Aber die gibt es nicht einfach so, dafür ist viel Arbeit nötig, insbesondere Beziehungsarbeit. Und das können – und wollen – wir nicht leisten.« Er möchte eher einen Rahmen für Veranstaltungen anbieten, damit sich Leute mit gleichen Zielen und Ideen finden und vernetzen können – gerne auch als Impuls für Gemeinschaftsentwicklung. Thomas ist natürlich auch bei der Sonnwendfeier! Ich kenne ihn seit über acht Jahren. Zusammengeführt hat uns damals unsere Vision, ein neues Geldsystem, das kooperatives Wirtschaften unterstützt, auszuprobieren. Wir haben mit einem Verein die »BürgerBlüte« ins Leben gerufen, das Regionalgeld für Kassel und Umgebung. Das Komplementärgeld kann nur funktionieren, wenn alle beteiligten Betriebe darauf vertrauen, dass der Verein für die Werterhaltung des Zahlungsmittels sorgt, und die Konsumenten davon ausgehen, dass sie für ihre befremdlich anmutenden Geldscheine wirklich Waren erhalten. Mittlerweile ist die BürgerBlüte zwischen knapp 80 Anbietern im Umlauf, darunter der Eschenhof und die Gärtnerei Wurzelwerk. Sowohl Thomas als auch Stefani und Hartmut finden, dass in Kassel ungewöhnlich viele alternative Projekte zu Hause sind. Ihrer Meinung nach liegt das an der früheren Reform-Universität, die Professoren mit avantgardistischen Ideen angezogen hat, woraus sich immer wieder zukunftsweisende Projekte in Kassel entwickelten. Für mich wird deutlich: Gemeinschaften ziehen die Menschen an. Sie entstehen, wenn ich gemeinsam mit anderen etwas aufbaue, lebe und erlebe und erfolgreich durchstehe. Wenn ich sehen und spüren kann, dass meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter sich für das einsetzen, was auch mir wichtig ist, schafft das Verbindung und Vertrauen – es entsteht eine »Wir-schaft«.
Innen und außen Am Abend des Sonnwendfeuers beginnt bei den gASTWERKen unser monatliches »Gemeinschaftswochenende«. So kurz vor Weihnachten nimmt nur knapp die Hälfte der hier Lebenden teil. Wir beginnen Freitagabend mit einer lockeren Runde. Katharina und Mathias kommen später hinzu und verkünden ihren Ausstieg aus der Gruppe. – Betretenes Schweigen, viele Tränen und traurige Menschen, einige äußern ihr Verständnis für diesen Schritt. Manche reagieren ärgerlich, dass sie so gar nichts von dem Prozess der beiden mitbekommen haben – ihr Vertrauen wird erschüttert, weil sie sich auf die beiden eingelassen haben und nun enttäuscht zurückbleiben. Ich selbst lasse sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge ziehen. Traurig bin ich darüber, dass sich zwei freundliche und engagierte Menschen aus unserer Gruppe verabschieden. Und ich freue mich, dass die »jungen Leute« so mutig ihren Weg gehen, der sie zwar von unserer Gemeinschaft weg-, aber zu etwas Neuem, Spannenden hinführt. Im Dezember erscheint die fünfzehnte »Interkomm«. Diese kleine Zeitung dient seit August 2012 dazu, den Informationsaustausch zwischen den Lebensgemeinschaften im Raum Kassel zu intensivieren. Jona aus Niederkaufungen fungiert als Herausgeber: Er hat großes Interesse daran, dass sich die Gruppen näherkommen, sich Vorbehalte einzelner zu den »fremden« Gruppen abbauen. Ob er meint, dass seit dem Erscheinen der Zeitung eine Entwicklung stattgefunden habe? »Na klar! Die vier Gemeinschaften – Niederkaufungen, Lossehof, gASTWERKe und Villa Locomuna – planen, gemeinsam Land zu kaufen und es nach agroforstwirtschaftlichen Aspekten zu bebauen.« Das könnte so aussehen: Die Obstmanufaktur aus Niederkaufungen pflanzt Beerenobst, und Johann, der Landwirt aus Escherode, baut dazwischen Getreide an. Die Produkte werden dann an alle vier Kommunen solidarisch verteilt. Am 6. Januar 2014 ist »Sozialplenum« bei den gASTWERKen. Die Frage des Vorbereitungsteams an uns, die mitmachen: »Was braucht eine Gemeinschaft, damit sie gut funktioniert?« Die Antworten, die wir finden, sind genial einfach: »Gemeinsamkeiten, Zeit für Austausch, Kennenlernen, Feiern, Konfliktfähigkeit, Vertrauen und – Schokolade (natürlich bio)!« 17. bis 19. Januar: Lange Jahre war ich in einer Gründungsgruppe aktiv, die in Freiburg eine Kommune aufbauen wollte. An diesem Wochenende trifft sich die Gruppe in der Nähe von Kassel; hier steht ein Objekt zum Verkauf, das sich für eine Lebensgemeinschaft sehr gut eignen würde. Von den 26 Menschen stimmen fast alle überein, dass Kaufverhandlungen geführt werden sollten. Jetzt doch nach Nordhessen? – Für Annett, die von Anfang an zu der Gruppe gehört, ist die Möglichkeit der Vernetzung mit den in und um Kassel ansässigen Gemeinschaften ein großer Vorteil: »So viel Kompetenz und Erfahrung, die hier beisammen sind – ich freue mich auf die gegenseitige Unterstützung und das Netzwerkeln!« 22. Januar: Die jährliche »Bieter-Runde« der Solidarischen Landwirtschaft Kassel findet im großen Saal der Villa Locomuna statt. Die Gärtnerei Wurzelwerk aus Escherode und das Gemüsebaukollektiv »Rote Rübe« aus Niederkaufungen stellen ihre Jahresbilanzen vor und geben eine Prognose für die kommende Saison ab. Die anwesenden Mitglieder der Solidarischen Landwirtschaft (Solawi) sitzen in einer Runde und verkünden auf Zetteln, mit welchem Betrag sie sich an den Kosten der Gärtnereien beteiligen möchten. Wenn auf diese Weise das nötige Geld zusammenkommt, ist alles klar und die Produktion geht ins nächste Jahr. An diesem Abend werden dafür nur zwei Durchgänge benötigt. Zur Kasseler Solawi gehören neben den zwei Produktionsbetrieben alle Mitglieder der vier Kommunen im Raum Kassel und an die hundert Privatpersonen, die nicht in Lebensgemeinschaften leben und größtenteils in der Stadt wohnen. Kosten und Nutzen des Gemüsebaus werden so von den Produzenten und den Konsumenten solidarisch getragen.
Ein größerer Kreis 27. Januar: »Die Kraft der Kooperation« ist spürbar an diesem Abend, zu dem Transition Town alle Kasseler Initiativen eingeladen hat, die ihre Arbeit vorstellen möchten. Es sind 30 Gruppen, von denen die über 90 Besucherinnen und Besucher am Abend erfahren. Dazu gehören das Bildungsprojekt der »Service-Learning-Seminare«, in denen Studierende gemeinwohlorientierte Projekte besichtigen und erforschen. Oder die Wohngenossenschaft »Kassel im Wandel«, die ihre Objekte vorstellt, sowie die jungen Musiker, die Rap-Unterricht für Kinder und Jugendliche anbieten. Es herrscht eine an- und aufgeregte Stimmung bei so viel Ideenreichtum. Alle sind sich einig, dass hier nach weiterem Kennenlernen eine lebendige Kultur des Miteinanders entstehen wird, die dann einer größeren Öffentlichkeit präsentiert werden könnte. In der zehnten Ausgabe der »Interkomm« konnte, wer mochte, einen kleinen Beitrag darüber schreiben, wie sich für ihn oder sie die Gemeinschaft der hier ansässigen Kommunen ausdrückt. Für Martin vom Lossehof bedeutet diese gelebte Vernetzung, dass die Utopie realer wird, »für uns und für die, die uns zuschauen vom Dorf und von der Stadt aus – was entstehen kann, wenn mehr Menschen sich in Kommunen und ähnlichen Projekten zusammentun und von dort aus den Schritt auf die nächste Ebene des solidarischen Miteinanders probieren.«
Vertrauen ist eine Entscheidung Es ist nun Ende Januar. Zwei Monate sind vergangen, in denen ich unter der Prämisse von »Gemeinschaftlichkeit erleben« unterwegs gewesen bin. So viele Ideen, Projekte, Aktivitäten sind mir begegnet. Ich bin stolz darauf, was sich die Menschen, mit denen ich hier zu tun habe, so alles einfallen lassen, um das uns gemeinsame Leben lebendig und besser zu gestalten. Und dennoch, – es bleibt eine Leere – oder vielleicht besser: eine Lücke –, die ich nicht benennen kann. Allenthalben begegnet mir das Wort »Vertrauen«: Jeder und jede hätte es gerne, aber vielen steht etwas im Weg, weswegen sie es sich nicht leisten könnten, anderen zu vertrauen. »Ich kenne den oder die doch noch gar nicht …«, ist der meistgehörte Satz. Gleichzeitig sind alle überfordert: »Ich mache schon so viel, mehr geht einfach nicht!« Ich frage mich: Worum geht es mir wirklich? Mich an all den Aktivitäten zu beteiligen? – Das ist es nicht. Ich glaube, ich bin auf der Suche nach etwas, das alles verbindet. Hoffnung? Glaube? Liebe? – Vertrauen? Wenn es Vertrauen ist, dann – so ist mir jetzt klar geworden, nachdem ich meine gemeinschaftlichen Aktivitäten und die der anderen beobachtet habe – kann ich es letztlich nur in mir selbst finden. Wenn ich es in Gemeinschaft erleben möchte, dann geht das nur, wenn ich »mein« Vertrauen anderen schenke! •
Antje Gerdes (50) lebt seit über zehn Jahren in gemeinschaftlichen Zusammenhängen, heute in der Lebensgemeinschaft »gASTWERKe« und praktiziert dort alltägliche Vernetzung.