Das gute Leben und die Freundschaft
Warum brauchen wir Gemeinschaft? Können wir unsere Freiheit nachhaltig erst in Gemeinschaft leben? Und wie müssten wir dafür unsere Lebensweise und Gesellschaft verändern?
Als Pioniere der bayerischen Bildungslandschaft entschieden sich engagierte Eltern 1988, eine private Montessori-Schule – die dritte in Bayern – zu gründen. Als ich diese Schule jetzt, rund 25 Jahre später, für zwei Tage besuche, scheint mir, als atme sie noch den lebendigen Geist ihrer Gründerzeit. Als verstünde sich »Schule« hier noch im ursprünglichen Sinn als ein sicherer Raum der Muße und der Zeit, wo Neues entdeckt und Riskantes gewagt werden darf. Auch durch alle landes- und zeittypischen Fährnisse hindurch hat sie sich nicht von ihrem inneren, manchmal schmerzhaften Entwicklungsprozess abbringen lassen.
Die Vision: der Erdkinderplan
Maria Döbler, genannt Mary, seit 17 Jahren Lehrerin an dieser Schule, holt mich mit dem Auto ab. Sie kommt direkt aus ihrem Unterricht. Geht das an einer Montessori-Schule? »Die Kids sind jetzt an ihren Projekten, und mein Kollege ist als Ansprechpartner dort. Sie sind mit eigenständigem Arbeiten vom ersten Schuljahr an vertraut und weil sie sich selbst für ihr Thema entschieden haben, fühlen sie sich dafür verantwortlich«, erklärt mir die 52-Jährige. Während der Fahrt durch das sanft verschneite, hügelige bayerische Oberland will sie mir die Struktur der Schule erklären und kommt doch sehr schnell vor allem bei ihrem Herzensanliegen an, dem Erdkinderplan. »Uns ist immer wieder aufgefallen, dass die Jugendlichen der achten Jahrgangsstufe zwar sehr gerne in die Schule gekommen sind, aber dass es an stimmigen Angeboten für sie gefehlt hat. Es drängte sie noch nicht, für die kommenden Prüfungen zu lernen, wie die Älteren das tun. Aber bei ihren selbstgewählten Praktika blühten sie auf, denn die Aufgaben dort waren echt.«
Diese Beobachtung brachte Mary dazu, sich mit der Idee des »Erdkinderplans« zu beschäftigen. Bei dieser von Maria Montessori entwickelten Methode geht es darum, den Jugendlichen in der sensiblen Übergangsphase vom Kind zum Erwachsensein eine reelle Chance für die Entwicklung einer integren Persönlichkeit durch eine selbstverantwortliche Aufgabe, etwa die Selbstverwaltung eines Bauernhofs zu geben. So wurde die Dietramszeller Schule die erste, die den Erdkinderplan als Pilotprojekt umsetzte. Jugendliche sollten die Chance bekommen, sich in einer Gruppe zu erfahren und herauszufinden, welches ihre besonderen Talente sind – ob auf praktischem, geistigem oder sozialem Gebiet.
In der Erprobungsphase des Projekts war Mary mit den Kindern auf die Walz gegangen und hatte »Helping-Hands-Wochen« organisiert. Eine Gruppe aus Dietramszell half zum Beispiel bei der Olivenernte in Italien – und sammelte Erfahrungen über die ideale Gruppengröße, über machbare und über zum Scheitern verurteilte Projektideen.
In der Folge erarbeiteten sich vierzehn Zwölf - bis Fünfzehnjährige in Begleitung eines Betreuers »ihr« Schuljahr: durch die Praxis lernen, Dinge herstellen, fremde Orte kennenlernen. Dabei wurde schnell klar, dass für ein gutes und effektives Miteinander ein Schulvormittag viel zu kurz war und dass sie in einer Gruppe höchstens zu zehnt sein dürften. Nach vielen Gesprächen und Workshops mit Kollegen und Eltern wurden ihre Pläne schließlich akzeptiert und in Arzbach nahe Bad Tölz fand sich ein Haus auf dem Land für den »Erdkinderplan«.
Eine Schule im Wandel
Vor uns taucht jetzt Dietramszell auf – schon von Weitem sieht man das Kloster, das mitsamt der Kirche, dem Trakt der Nonnen vom Orden der Salesianer und der ehemaligen Klosterschule als kompaktes Quadrat einen liebevoll gepflegten Innenhof umfriedet. Hier also wollen die »Montis«, wie sie sich auch nennen, die pädagogischen Visionen ihrer Gründerin verwirklichen?
Mary führt mich in die kleine Küche neben dem Raum der Erdkinder, der Siebt- und Achtklässler. Sie versorgt mich mit Kaffee und ist schnell ins Gespräch mit einigen etwa 14-Jährigen vertieft. Um mich herum wuselt es. Was die Jugendlichen tun, kann ich nicht so schnell herausfinden. Aber dann sehe ich diverse Dinge auf dem grünen Teppich liegen – in Kürze versammeln sich alle um diese »Mitte« und tauschen sich lebhaft aus. Ich würde so gerne fotografierend festhalten, was sich hier neben- und miteinander an Prozessen abspielt! Einer der Erwachsenen, ein gemütlich dreinblickender Handwerksmeister, reicht mir spontan sein iPhone, erklärt es mir kurz und dreht sich wieder der Gesprächsrunde zu. Unsicher wende ich mich an die beiden Mädchen an der Wand gegenüber, die von ihrem Sofa aus die ganze Szenerie überblicken und meine Ratlosigkeit registriert haben. Bereitwillig erklären sie mir, wie ich auf dem kleinen Gerät hin und her zu wischen hätte.
Dann habe ich genug geknipst. Ich vertiefe mich in eine Fülle von Infomaterialien über die Schule. Was bietet Bayern an pädagogischer Freiheit? Seit Jahren kämpfen hier Alternativschulen um Genehmigung. Chancen hatte bisher überwiegend das Montessori-Modell, doch seit einiger Zeit werden auch solche Anträge ausgebremst. Veränderungswillige konzentrieren sich meist auf die bestehenden Schulen und holen heraus, was im Freistaat mit gutem Willen irgend erreichbar scheint. Die Montessori-Schule Dietramszell hat derzeit die Genehmigung für den Betrieb bis zur zehnten Klasse. In der Festschrift zum 25-jährigen Bestehen im letzten Jahr rühmen die Autoritäten des Landes die herausragenden Leistungen der Lehrer und ihrer rund 290 Schüler. »Sind es doch immer Montessori-Schüler, die als Jahrgangsbeste beim qualifizierenden Hauptschul- oder Mittelschul-Abschluss im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen abschneiden«, wird Gertrud Gruber, Oberregierungsschuldirektorin der Regierung Oberbayern, zitiert.
Neues Leben im Klostergemäuer
Melanie, Chiara und Linus aus der Erdkindergruppe wollen mir die Schule zeigen. Linus, erst seit einem Jahr dabei, ist spürbar begeistert von diesem Ort. Für Chiara und Melanie ist die freundschaftliche Atmosphäre ebenso selbstverständlich wie die Tatsache, dass sie hier selbstbestimmt lernen können. Sie ermutigen mich zum Betreten der vielen »Klassen«räume – auch ohne eine Terminabsprache, denn Eltern wie auch Hospitanten und Praktikanten seien als Lernbegleiter mit speziellen Angeboten immer willkommen. Hundertdreißig Kinder der Stufe 1-4 werden altersgemischt in fünf Gruppen von zehn Lehrerinnen und Lehrern begleitet. Ihre wohnlichen Räume sind meist durch einen Rundteppich in der Mitte, einer der Ruhe vorbehaltenen Kuschel- und Leseecke, Regale für die Montessori-Materialien sowie die Fächer der Kinder strukturiert.
Wesentlich sind die Portfolios der Kinder – die Mappen, in denen sie die Ergebnisse ihrer Arbeit und die Präsentationen ihrer Projekte sammeln. Die Kinder sind engagiert in ihre Arbeiten vertieft. Selbst die kleinen Lerngruppen im Flur, in den Nischen unter den hohen Fenstern, lassen sich nicht von Vorübereilenden ablenken.
Meine Begleiter führen mich über verwinkelte Wege durchs Klostergemäuer bis nach oben zu den Küchen und dem naturwissenschaftlichen Bereich und wieder hinab, durch geheimgangartige Flure zum Musikraum. Mit Respekt vor den vier verbliebenen greisen Nonnen müssen wir dabei sogar einige ihrer Räume durchqueren.
Im Pausenhof und im Gartengelände zeigt mir Chiara stolz die jungen Obstbäume: »Die haben wir letztes Jahr bei irrer Hitze gepflanzt!« Linus bemerkt: »Diese Kuhle für einen Teich hab ich Spaten für Spaten mit ausgegraben – war echt anstrengend!« Wichtig ist ihnen auch die prächtige Hühnerfamilie im weitläufigen Käfig. An den Garten schließt ein waldiges Gebiet an – Auslauf für die Kinder. Dort angekommen, eilen meine drei Begleiter zügig zum Bus.
Chancen und Grenzen
Im Lauf der Zeit lernen sich in Dietramszell alle Kinder der Schule kennen. Wenn jemand beispielsweise ein Theaterprojekt, eine Chorfahrt oder einen Ausflug für alle anbietet, sammeln sich die Kinder je nach Neigung in immer neuen Konstellationen. Die Entscheidung, feste Gruppen füreinander durchlässig werden zu lassen, ist neben der Altersmischung ein typisches Merkmal dieser Schule, die damit den mitunter extrem unterschiedlichen Interessen, Geschwindigkeiten und Reifeprozessen der Kinder entgegenkommen will. Derzeit gibt es eine Einteilung in die Schulstufe 5/6 mit 57 Kindern und drei Lehrenden, in Stufe 7/8 mit 50 Jugendlichen (den Erdkindern) und viereinhalb Lehrerstellen und in die Stufe 9/10 mit 48 Jugendlichen und fünf Lehrenden.
An Schulen nach der Pädagogik von Maria Montessori wird ohne Zensuren gelernt. Die Kinder beurteilen sich selbst mit Hilfe der Portfolios. Mary bestätigt, wie überraschend nahe die Selbsteinschätzungen bei denen ihrer Begleiter liegen, so dass die Bewertungstexte gemeinsam erstellt werden können. Hier ist der Gegensatz zur Staatsschule unübersehbar: Die Kinder erhalten keine Bewertung »von oben«, sondern dürfen mit all ihren Besonderheiten zu sich stehen. »Schwierigkeiten kommen erst auf, wenn ein Abschluss oder eine Prüfung naht – in der vierten, in der neunten oder in der zehnten Klasse«, erklärt Mary. »Wir haben bewusst auf die staatliche Anerkennung verzichtet. Denn als Schule, die nur genehmigt, aber nicht anerkannt wurde, müssen wir keine Noten geben.«
Ab der fünften Klasse wählen sich die Kinder in acht verschiedene »Module« ein. Zur Auswahl stehen zum Beispiel Altersheim, Cafeteria, Fair-Trade-Projekt, Acker, Uganda-Projekt, Hühner, Gärtnerei, Bürgerfrühstück, Bewirtung, Streitschlichter und Schulsanitäter. Zudem suchen sie sich ein Sozialprojekt, an dem sie ein Jahr lang einmal wöchentlich »arbeiten«, beispielsweise den Besuch von Senioren, Hilfe auf dem Bauernhof, Babysitten oder das Unterrichten anderer. In Kleingruppen werden die beiden »Challenge-Wochen« im Juli geplant. Weiter gibt es lange Praktika, Firmenbesichtigungen, Besuche von Experten in den Lerngruppen und viele handwerkliche Angebote.
»Wir Kolleginnen und Kollegen stellten fest, dass die Kids nach zwei Jahren des Experimentierens, Werkens, Lebens und Tuns viel selbstbewusster und eigenverantwortlicher an ihre Aufgaben in den folgenden Prüfungslerngruppen gehen. Dort arbeiten sie ihre fachlichen Module ab, die sie für die Prüfungen brauchen, diskutieren über aktuelle Themen, unternehmen politische Reisen und besuchen außerschulische Lernorte wirtschaftlicher und kultureller Art«, erklärt Mary. »Mit unseren Angeboten sind wir nahe am Lehrplan und gewährleisten, dass die Kinder am Ende der vierten Klasse eine weiterführende Schule besuchen und zum Ende der neunten und der zehnten Klasse die Prüfungen zum Qualifizierenden Hauptschulabschluss, zum Mittleren Bildungsabschluss oder zum »MOSU«, dem Montessori-Zentrum München, für ein Abitur schaffen können.« Herausfordernd für alle sei immer wieder, dass Eltern, Schüler und Lehrer eng im Miteinander und im Gespräch bleiben. »Für uns ist es das Wichtigste, dass Eltern verstehen, dass manche Kinder Zeit brauchen, um an Leib und Seele groß zu werden und den passenden Weg für ihr Leben zu finden. Das gilt speziell für die siebte und achte Stufe. So wenig Schulunterricht! Da fehlt ihnen ja so viel Zeit zum Lernen …!«
Der »Erdkinderplan« lebt
Zwischen all ihrer Projektarbeit lebten 2013 in der Stufe 7/8 jeweils acht Lerngruppenkameraden sechs Wochen lang in dem Haus in Arzbach, versorgten sich biologisch und regional und produzierten so wenig Müll wie möglich. Ein Kassenbuch wurde geführt und der wöchentliche Wasser- und Stromverbrauch notiert und ausgewertet. Sie planten ihre praktischen Arbeiten, auch für den Innenausbau des Hauses und für den Garten, halfen in den benachbarten Landwirtschaften und organisierten Ausflüge. Sie luden Experten ein, mit ihnen zu arbeiten, und richteten Festessen aus für Gäste, die als Geschenk ihre Lebensgeschichten mitbrachten. In den kleinen Gruppen wurden Einzelgänger schnell und unkompliziert integriert. Dieses Pilotprojekt war ein Erfolg auf ganzer Linie. Eltern und Schüler waren begeistert.
Eine Mutter hat diesen Prozess anschaulich beschrieben: »Am Anfang stand ich dem außerschulischen Lernort kritisch gegenüber. Ich fragte mich, ob es tatsächlich gelingen würde, die schulischen Lerninhalte in das Alltagsleben zu integrieren. Meine Tochter wollte übrigens auf keinen Fall nach Arzbach, da sie so ein volles Nachmittagsprogramm hier zu Hause hat. Bereits am Anfang der sechs Wochen änderte sie ihre Meinung, und am Schluss wollte sie gar nicht mehr weg. Die Auswirkungen dieser Erfahrung machen sich vor allem bei uns zu Hause bemerkbar, denn sie hat ein gutes Gespür dafür entwickelt, was die Arbeit im Alltag tatsächlich bedeutet. Obwohl meine Befürchtungen eingetreten sind und der Lehrplan am außerschulischen Lernort sowie in der Erdkinderstufe tatsächlich viel kürzer kommt, als es uns anfänglich verkauft wurde, hatte meine Tochter mit dem Eintritt in die neunte Klasse im Vergleich zu ihrem älteren Bruder keine Wissenslücken. Was auch den anderen Müttern auffällt, ist, dass die Jugendlichen jetzt in der neunten Klasse so richtig Gas geben.« Alle wollen, dass es weitergeht. Doch weil der Mietvertrag nicht verlängert werden konnte, suchen sie jetzt ein neues »Haus auf dem Land«. Ebenfalls gesucht werden Sponsoren, die es ermöglichen, dass Jugendliche dort mutig, forschend und verantwortungsvoll ihr Leben meistern.
Durch ihr Pilotprojekt, mitten im Leben für das Leben zu lernen, wurden die Montis zu Wegbereitern einer faszinierenden Schulidee. Ihre Schule scheint zu gelingen, weil Beziehung die Grundlage ihres Tuns bildet und weil sie in ihrem Streben nach lebendigem Lernen die Schulmauern in Frage stellen. •
www.montessori-dietramszell.de
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