Gesundheit

Gemeinschaftsbildende Musiktherapie

Eine Betrachtung zu Musik, Gesellschaft und Heilung.
von Christine Simon, erschienen in Ausgabe #25/2014

Kingston, Jamaica, im Jahr 1978: Die verfeindeten politischen Lager laden den Musiker Bob Marley zu einem Friedenskonzert unter freiem Himmel ein. Er sagt zu, obwohl zuvor ein Attentat auf ihn verübt worden ist. Je näher das Konzert rückt, umso mehr wächst die Angst vor einem erneuten Gewaltakt. Mehr als 80 000 Menschen aus aller Welt kommen zu dem Ereignis. Auf dem Höhepunkt des Konzerts winkt Bob Marley die beiden Oberhäupter der konkurrierenden Parteien auf die Bühne, nimmt ihre Hände und führt sie vor der tosenden Menge zusammen.
Tallinn in Estland, 1988: Russische Panzer umstellen die Stadt, doch niemand gibt den Befehl zum Angriff. Wird ein Befehl nicht weitergeleitet? Warum greifen sie nicht an? In der Stadt sind 300 000 Menschen versammelt. Sie singen ihre traditionellen Lieder, die lange von der russischen Besatzung verboten waren. Stunden um Stunden stärken sie ihre Kraft zum Widerstand gegen die Annexionsbestrebungen. Die »singende Revolution« zur Befreiung von der russischen Okkupation verläuft ohne Blutvergießen.
Eine Kinder-Krebsstation in Norwegen: Trygve Aasgaard, Musiktherapeut der Klinik, singt mit einem Kind, das nur noch kurz zu leben hat. Die Eltern sind da, eine Schwester, eine Pflegerin. Alle singen zusammen dieses zarte Lied, das es selbst erfunden hat. Für einen Moment hört niemand mehr das Summen, das Rattern der Apparate im Raum. Im Schweben der Töne verschwindet die Zeit. Das Lied trägt das Kind wie auf Flügeln zum Fenster hinaus.
Ein Heilritual in einem Dorf in Ostperu, 2005. Ein Schamane der Shipibo-Indianer singt für einen Kranken. Er weiß, dass er ihn nicht alleine heilen wird, denn die Menschen im Dorf tragen durch ihr bewusstes Handeln zur Gesundung des Kranken bei. Sie sorgen dafür, dass er mit schönen Dingen, Farben, Düften und von guten Gedanken umgeben ist. Seine Krankheit ist zugleich die Krankheit der gesamten Gemeinschaft des Dorfs.
Ein Frühlingsmorgen am Rand einer norddeutschen Stadt. Ein junges Mädchen geht vor Beginn der Schule in den nahegelegenen Wald. Das Licht scheint hell durch das junge Grün der Birken. Ihre Zweige bewegen sich leicht im Wind. Da berührt sie ein Zauber, sie hört, wie alles singt – die Blätter der Birken, das silbrige Licht –, wie sie Teil wird von diesem hellen Vibrieren, dem Singen aus Licht.
In diesen kleinen Szenen scheint etwas wie ein Wunder verborgen: eines, das gerade darum ein Wunder ist, weil es so einfach geschieht – mitten in der Welt; weil es Musik ist, etwas ganz und gar Un-Fassbares, das dieses Wunder mit hervorbringt; und weil Verwandlung geschieht in Momenten so jenseits von allem »Normalen«, Berechenbaren, jenseits von Zeit.
In vielen Schöpfungsmythen ist Leben aus Klang entstanden. Im Alten Testament ist es die Schwingung eines Worts, die am Anfang stand; für Hindus und Buddhisten entwickelte sich das Universum aus der Sanskrit-Silbe »Om«. Ein besonders schöner Vers über den Anfang der Welt stammt aus dem altindischen Rigveda: »Aksara-Brahman, Brahma im formlosen Bereich der reinen Gedanken, zeigte sich zum ersten Mal als goldener Embryo des Tons. Es war ein Laut, der durch das Nichts hinausschwang und auf sich selbst zurückkehrte. Als sich die Tonwellen kreuzten, entstanden Wasser und Wind, die miteinander spielend den nebelartigen Leib der Welt zu weben begannen.« Ich bin immer ergriffen, wenn ich dem nachsinne. – Wie endlos weit ist unsere heutige Welt davon entfernt, einfach Resonanz zu sein auf das Wunder des Anfangs.
Während bei den indigenen Völkern Natur, Gemeinschaft und Heilung untrennbar verbunden sind, geriet dieses Wissen in der modernen westlichen Welt zunehmend in Vergessenheit, wurde vielerorts sogar mit Macht unterdrückt. Allerdings konnte es nie völlig zerstört werden, es lebte – oftmals im Untergrund – über Generationen hinweg fort. So bilden sich gerade in jüngster Zeit im Feld von Gesundheit und Heilung etliche neue Formen therapeutischer Begleitung.

Vielfältig, lebendig und geheimnisvoll
Community Music Therapy ist ein weites Feld: Sie kann sowohl an Heilrituale traditioneller Kulturen als auch an die konventionelle Musiktherapie anknüpfen, an Aspekte der Lebensreform, an Soziotherapie oder soziale Kulturarbeit, an künstlerische Strömungen wie die Neue Improvisationsmusik und die Fluxusbewegung sowie an das Singen und Musizieren im politischen Widerstand. Während sie als Bewegung und therapeutische Praxis in vielen Ländern, beispielsweise in den USA, Australien, Großbritannien und besonders Norwegen, auf eine lange Tradition zurückblicken kann, prägte sich ihr Begriff im internationalen Diskurs erst um die vorige Jahrtausendwende. Seitdem erscheint sie in vielen Gewändern: als Erweiterung klinischer Musiktherapie, als heilsamer, gemeinschaftsbildender Impuls in Schulen, Kirchen, sozialen Einrichtungen und Gefängnissen – doch auch als grundlegende Kulturkritik innerhalb des heutigen Gesundheitswesens. Von den einen als frischer, inspirierender Wind, von den anderen eher als Störenfried in der Therapielandschaft angesehen, entzieht sich die »gemeinschaftsbildende Musiktherapie« einer Definition. Sie ist das, was sie gerade ist, und kann im nächsten Augenblick schon etwas völlig anderes sein – vergleichbar mit einem sich ständig verwandelnden Kunstwerk. Dabei mag sie ein Sprungbrett sein: hin zu etwas Neuem, zu einem Verständnis von Gesundheit und Heilung, das ohne Spaltung, Hierarchie und Profilierungssucht auskommt und allein die Orientierung am Lebendigen in den Mittelpunkt stellt.
Lebendigkeit ist das Wesen von Community Music Therapy. Das zeigt sich, wenn man ihm in erster Linie ruhig nachlauscht, ohne es zu benennen, ohne die »Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes« – wie Goethe bereits die gefährliche Sucht des Menschen beschrieb, für alle Phänomene beständig Kategorisierungen zu finden und alles so schnell begreifen zu wollen, dass es geradezu totgedacht wird.
Es ist geheimnisvoll, den Phänomenen »Musik« und »Gemeinschaft« nachzulauschen und dabei den Horizont für alles zu öffnen, was darin schwingt. Wie kann ich begreifen, was Musik ist, wo sie mich doch seit dem Anfang meines Lebens im Inneren meiner Mutter, im Klopfen ihres Herzens, begleitet hat? Lebt sie doch im Rauschen der Bäume, in den Rufen der Wildgänse, im sanften Fallen der Regentropfen und unhörbar in Blumen und Sternen. Immer ist sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich, und niemand weiß wirklich, wo sie anfängt und aufhört. Als gemeinschaftliche Ausdrucksform der Natur schwingt sie in allem Lebendigen, darum ist ihr Wesen Verbindung, Resonanz.
Ähnlich ist es mit dem Feld des Phänomens »Gemeinschaft«. Keinen Moment könnten wir existieren ohne die Gemeinschaft von Millionen Lebewesen, die sekündlich dafür sorgen, dass wir atmen, essen und verdauen können. Und vielleicht sieht es nur so aus, dass wir alle in verschiedenen Körpern leben: Sind wir womöglich in einer anderen Art Wirklichkeit zu einem einzigen Lebewesen verbunden, im Körper einer wiederum viel größeren Existenz? Und schwingen wir vielleicht darin zusammen in einer unhörbaren Musik, mit all unseren Harmonien und Dissonanzen?
In diesem Nachlauschen liegt eine besondere Kraft der Verwandlung, denn die so gewohnten Trennungen im Kopf zwischen Musik, Gemeinschaft, Natur und Kultur lösen sich auf wie schmelzendes Eis. Gleiches gilt vermutlich für viele Vorstellungen über uns selbst. In derart vertieftem Verständnis von Community Music Therapy liegt der Keim zu einem mächtigen Bewusstseinswandel, der Grenzen sprengt und in neue, unbekannte Räume führt.
Heute wird überall versucht, therapeutische Ansätze zu definieren, in Formate zu füllen, ausgefeilte Curricula zu entwerfen und damit – unter Anpassung an die vorgegebene Politik – breite Anerkennung zu erlangen. Elementar Heilsames wie die Verlangsamung von Lebensprozessen, das Geschehenlassen, Nicht-Wissen, das lebendige Schauen und Lauschen, die Kraft der Inspiration und empathischen Wahrnehmung, der Mut, neue Türen in Kopf und Herz zu öffnen – das alles gerät in den Hintergrund. Daher wird Community Music Therapy ihre ursprüngliche, tiefenpolitische Kraft in Räumen entfalten, die an den Rändern oder ganz außerhalb politisch anerkannter Formen zu finden sind: dort, wo Menschen zusammenkommen und in unserer so unsäglich zerspaltenen Welt Verbundenheit leben – Menschen, die mit Leidenschaft lebendige Bewusstseinsfelder schaffen und bereit sind, in die Zukunft zu lauschen, hin zu einer neuen und zugleich so alten Musik. •

 

Christine Simon (61) ist Musikerin und Mitbegründerin der Euro­päischen Akademie der Heilenden Künste in Klein Jasedow. Sie engagiert sich für die Entwicklung neuer Formen des Lernens und Lebens.


Räume und Gedanken zum Nachlauschen
www.eaha.org
www.zukunftswerk-kleinjasedow.de
Literatur:
Christine Simon: Community Music Therapy – Musik stiftet Gemeinschaft. ­Drachen Verlag, 2013

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