Titelthema

Das Tor zur (Lebens) Kunst

Warum musikalische Improvisation schon beim Fensterputzen beginnt.von Klaus Holsten, erschienen in Ausgabe #9/2011

 Viele suchen heute den Weg in diese verlorene Vollständigkeit zurück. Die Besinnung auf Kulturen, in denen sie noch lebendig ist, treibt uns kulturreisend um den Erdball oder in Workshops, um etwas von dem Glück zu erhaschen, das einem geschenkt wird, wenn man künstlerisch tätig ist.
Die Frage ist jedoch, ob der Weg dahin so weit sein muss oder ob wir die Mittel dafür nicht vor der eigenen Haustür finden – vielleicht sogar im Küchenschrank. Das unerschöpfliche Feld der Improvisation ist seit Urzeiten der Nährboden für alle Kunst. Der Weg dorthin führt durch ein Tor, von dem in unserer Kultur gesagt wird, dass nur die Künstler den Schlüssel dazu besitzen. In Wahrheit ist dieses Tor aber jederzeit und für jedermann und jedefrau offen.
Ein Schlüssel liegt im Blick auf unsere kleinen Kinder, die noch voll und ganz in diesem schöpferischen Feld leben, in dem es keine Trennung zwischen der materiellen, fassbaren Wirklichkeit und der Welt der Träume und Vorstellungen gibt. Zum Lieblingsspiel der Kinder gehört, sich in jemand anderen zu verwandeln. Sie sind Verwandlungskünstler, und alle Erwachsenen wird sich daran erinnern können, wie er oder sie als Kind sich einmal verwandelt hat, etwa in ein wildes Tier. Verwandeln können wir uns auch als Erwachsene. Wir müssen im Alltag nur eine Art »Zauberwort« sagen oder denken – zum Beispiel »Jetzt!« – und die Aufmerksamkeit über den Zweck unseres momentanen Tuns hinaus lenken und bewusst zuhören, was jetzt, in diesem Moment gerade geschieht. Dann wird das Hören zum Lauschen, das Tun zum Akt, und wir haben das Tor passiert.
Kleine Stückchen – Musik im Alltag
 

Die Fensterscheibe
Ich bearbeite einen hartnäckigen Fleck auf einer Fensterscheibe. Es quietscht. Auf einmal gefällt mir das Quietschen, es hat einen Rhythmus. Aus dem Hin- und Herwischen entstehen eine Haupt- und eine Nebensilbe, auf meiner Fensterscheibe ist der Baustein eines kleinen Stückchens Musik entstanden. Ich staune und halte in meiner Aktion inne. Ich wiederhole sie, wische etwas schneller – es beginnt, mir Spaß zu machen, es lockt, lauter oder leiser zu quietschen. Je nach Tempo schlägt mein Herz plötzlich anders. Das Hin- und Herwischen ist zu einer Art Zauberspruch geworden. Kurz bevor jeweils ein Fleck verschwindet, verstärkt sich meine Bewegung und endet mit einer finalen Betonung. Die Gestalt der Quietschmusik ist deutlich: Wie von einer unsichtbaren Hand geführt, gewinnt die Aktion ein Eigenleben, ergreift mich die Eigendynamik des musikalischen Verlaufs.
Dieses Spiel kann aus beliebigen Alltagssituationen entstehen, und dabei lässt sich mühelos etwas über grundlegende musikalischen Elemente wie Rhythmus, Betonung, Tempo, Lautstärke und Phrasenbildung lernen. Erstaunlicherweise basiert der unerschöpfliche Kosmos Musik auf nur vier Grundparametern: Tonhöhe (hoch oder tief, messbar als Frequenz), Tondauer (lang oder kurz, messbar in Sekunden, meist aber angegeben in relativen Werten wie z.B. Viertelnote), Lautstärke (messbar in Dezibel) und Klangfarbe (z. B. hell oder dunkel, messbar als Obertonspektrum). Die Veränderung schon einer dieser Parameter transportiert Information, vermittelt Gefühlsinhalte und schafft Atmosphäre, und jeder von uns setzt dies in fast jedem Moment ein: spreche ich hoch oder tief, sage ich Oooooh oder O, setze meine Schritte laut oder leise. Wenn Sie selbst einmal ein Stückchen Musik im Alltag ausprobieren und im Verlauf nur einen Parameter ändern – einen, von dem Sie spüren, dass er gerade im Moment etwas mit Ihnen zu tun hat –, werden Sie erleben, wie stark diese Musik etwas von Ihnen mitteilt.

Die Glasschale
Ich nehme eine Glasschale aus dem Spülbecken und stoße sie ganz ohne Absicht am äußeren Rand mit der Hand an. Sie gibt einen anhaltenden Klang von sich. Ich staune und möchte dies noch einmal hören. Am besten klingt die Schale, wenn ich sie am oberen Rand anschlage, und wenn sie nicht auf einer harten Oberfläche steht. Also suche ich eine Position, die das möglich macht. Meine Bewegungen verlangsamen sich, und spätestens mit der Art, wie ich meine Hand zum Anschlag führe, bin ich den Schritt vom Alltag ins Feld der Musik gegangen. Beim zweiten Anschlag erlebe ich, dass mich der Ton der Schale verändert: Ich lausche, nehme die Zeit des Verklingens bewusst wahr und halte inne, bis der Klang zur Ruhe gekommen ist. Die rumpelnde Waschmaschine und das feine Surren des Transformators meiner Lichtleiste werden zur Hintergrundmusik meiner verklingenden Glasschale. Der Blick fällt auf einen Holzlöffel. Als Schlegel gibt er dem Klang eine neue Qualität, heller und länger anhaltend. Ich genieße den Ausklang, merke jedoch, wie es mich packt, bevor der Ton ganz verklungen ist, erneut mehrmals anzuschlagen. So gerate ich in ein neues Feld aktiverer Musik, aus dem ich gut wieder in meine Alltagswelt zurückfinde.
Wer hat nicht schon einmal eine Glasschale klingen lassen? Musikalisch lernen wir dabei, bewusst mit der Zeit umzugehen, Klangfarben wahrzunehmen, und – wenn man möchte – in der Abfolge der Anschläge einen Puls aufzubauen.

Improvisation mit der PET-Flasche
Nach einem Fest blieb ein Kasten mit leeren, großen Wasserflaschen stehen. Als ich eine herausnahm, um sie endgültig zu leeren, fiel sie auf den Boden und gab einen dunklen Trommelton und im Hinkullern noch einen rollenden Klangwirbel von sich. Ich fasste sie beim Aufheben etwas fester an, so dass sie sich einbeulte. Mit einem etwas unheimlichen, dunklen Knacken sprang die Beule in ihre ursprüngliche Form zurück. Mein kleiner Enkel kam krabbelnd dazu. Er hatte einen hölzernen Löffel in der Hand und entdeckte die Flasche sofort als Trommel. Noch eine zweite Flasche aus dem Träger genommen, und schon befanden wir uns in einer Improvisation. Zunächst trommelten wir gleichzeitig, dann immer abwechselnd im Zwiegespräch. Schließlich bot ich ihm mit gleichmäßigen Pulsschlägen auf meiner Flasche einen Boden, auf dem er sich spielerisch-erforschend und zugleich »solistisch« austobte. Irgendwann überraschte ich ihn mit dem Knackeffekt der zurückspringenden Beule, so dass er mich ganz erstaunt und ein bisschen erschrocken ansah. Er ließ sich aber wieder zum Trommeln mitreißen, und ich steuerte ihn nun mit lauter werdenden Schlägen auf einen Höhepunkt zu, nach dem ich plötzlich aufhörte – und er auch. Wir lachten. Diese letzte Phase der Steigerung und des plötzlichen Endes musste natürlich etliche Male wiederholt werden …
Wenn wir uns mit einer Partnerin oder einem Partner im Musikfeld bewegen, übernehmen wir verschiedene Rollen: Wir ahmen uns nach, tun gleichzeitig oder abwechselnd das Gleiche oder etwas Gegensätzliches, wir stützen unser Gegenüber mit einer ruhigen Passage im Hintergrund, oder wir setzen einen überraschenden Akzent. Wie im normalen Leben fallen wir uns aber auch ins Wort, können den Mund nicht halten oder müssen unbedingt das letzte Wort haben. Im bewussten Umgang damit entsteht Musik.
Das Spiel mit den Flaschen ist selbstverständlich nicht nur für einen Erwachsenen und ein Kind geeignet. Wenn Sie einmal mit einer Partnerin oder einem Partner in eine ähnliche Situation einsteigen, achten Sie darauf, dass es einen klar definierten Anfang des Spiels gibt, am besten mit einigen Sekunden aufmerksamer Stille. Die Stille ist ein gutes Mittel, um durch das Tor zu gelangen, von dem anfangs die Rede war. Verabreden Sie, nicht zu sprechen und das Spiel nicht abzubrechen. Wenn Unvorhergesehenes passiert, lassen Sie es zu, und beobachten Sie, wie sich das Spiel daraus weiterentwickelt. Das ist eine Garantie dafür, dass Sie im Feld der Musik bleiben. Spannen Sie innerlich einen Zeitbogen – anfangs nur wenige Minuten –, und versuchen Sie, wahrzunehmen, wann sich das Ende Ihres Bogens ankündigt. Lenken Sie dann auf einen gemeinsamen Schluss zu.

Improvisieren zu können, ist Lebenswissen
In der Improvisation ist alles belebt, aus jedem Detail kann etwas Neues entspringen, die kleinste Veränderung kann den Fluss der Ereignisse in eine andere Richtung lenken. Das erhöht die Aufmerksamkeit und den Respekt – auch gegenüber scheinbar Unwichtigem. Improvisieren lehrt uns, im richtigen Augenblick das Richtige zu tun. Wir üben uns im Reagieren und Zuhören und lernen, Prozesse vorauszudenken und vorauszufühlen

Wer mit einem Partner oder in der Gruppe improvisiert – sei es spontan aus dem Alltag heraus oder absichtsvoll auf einem Workshop –, lernt darüber hinaus, mit allen nonverbalen Mitteln virtuos zu kommunizieren. Er befindet sich in allen Prozessen stets in der Rolle der Gestalterin oder des Gestalters. Wer improvisiert, entwickelt einen Blick für das, was die Dinge »selber wollen«, was aus dem Augenblick herausruft. Wenn wir alle Improvisateurinnen und Improvisateure würden, könnte dies dazu beitragen, dass das Tor zwischen Alltag und Kunst nicht nur für jeden passierbar wird, sondern im Sinn eines integralen Bewusstseins eines Tages ganz verschwinden kann. 

 

Klaus Holsten (60), Flötist und Musikpädagoge (www.klangundkoerper.de), Gründungsmitglied der Europäischen Akademie der Heilenden Künste e. V. (www.eaha.org), unterrichtet Improvisation in freien Kursen und an Hochschulen.

Musikalisches Improvisieren lernen
Einführungen und Fortbildungen für improvisation:
• Ring für Gruppenimprovisation (www.impro-ring.de

• Exploratorium Berlin (www.exploratorium-berlin.de
• Europäische Akademie der Heilenden Künste (www.eaha.org
• Freies Musikzentrum München (freies-musikzentrum.de) 
• Improvisiaikum Köln (www.reinhard-gagel.de
• WIM Zürich, Werkstatt für improvisierte Musik (www.wimmusic.ch)
 Literatur:

• Reinhard Gagel: Improvisation als soziale Kunst. Schott Verlag, 2010
• Hannes Heyne: Klänge aus der Natur. Drachen Verlag, 2010
• Matthias Schwabe: Musik spielend erfinden. Bärenreiter Verlag, 1992

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