Die heilsame Kraft von Musik und Gemeinschaft.von Christine Simon, erschienen in Ausgabe #9/2011
Philipp ist in seinem Element. Mit Leib und Seele macht er Musik. Er zwitschert auf seiner Melodika, wirbelt am Schlagzeug und singt begeistert ins Mikrofon. Völlig in seiner Mitte steht er dort auf der Bühne und steckt mit seiner Freude das mitsingende, -klatschende und -trommelnde Publikum an, das ihm großen Applaus schenkt. Philipp dankt ihm mit seinem Lächeln, während sich alle Mitspieler umarmen und verbeugen. Spieler wie Zuhörende sind in diesen kostbaren Augen-blicken zu einer Gemeinschaft geworden. Philipp ist ein junger Mann mit Down-Syndrom und spielt seit vielen Jahren in einer Krefelder Rockband. Sie besteht aus fünfzehn Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, z. B. Menschen mit Autismus oder Sprachstörungen. Sein Vater, der Musiktherapeut Gerd Rieger, rief die Band »Rock am Ring Krefeld« mit der Idee ins Leben, einen Begegnungsraum für sogenannte behinderte und nicht-behinderte Menschen zu schaffen, um der noch immer weitverbreiteten Ausgrenzung und Diskriminierung in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Beispiele wie dieses gibt es heute weltweit. Eine internationale kulturelle Bewegung von Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten, Künstlerinnen und Künstlern ist auf dem Weg, neue, offene Formen der Verbindung von Musik, Gemeinschaft und Therapie zu entwickeln und sich dabei auf alte Traditionen rückzubesinnen. Dieser »Community Music Therapy« liegt ein Bewusstsein zugrunde, dass Kunst, Therapie und tägliches Leben keine isolierten Bereiche sind, sondern durch vielfältigste Beziehungen verbunden. Eine heilsame musikalische Gemeinschaftserfahrung kann sich überall ereignen, wie zum Beispiel in einer Berliner Kirche mit 80 Flüchtlingen aus völlig unterschiedlichen Kulturen, einem Kinder- oder Seniorenchor oder in der Natur. Es ist die verbindende Kraft von Musik, die scheinbar weit entfernte Welten zusammenbringt. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1999 schrieb Yehudi Menuhin: »Singen macht, wie nichts anderes, die direkte Verständigung der Herzen über alle kulturellen Grenzen hinweg möglich«. Auf die transformierende Kraft des Singens als gemeinsame Sprache der Menschheit gründet sich auch das Projekt »Ìnin 2012 – One Earth Choir«. Die Idee dafür ist, am 21. Februar 2012 zur gleichen Zeit auf dem gesamten Planeten die gleiche Musik zu singen, um in einer großen Sinfonie die Gemeinschaft der Menschheit zu einer Stimme werden zu lassen. Jeder Mensch kann singen, und musikalische Gemeinschaft kann überall entstehen – mit Kindern, Nachbarn, Vertrauten wie Fremden. Wir müssen nur wieder beginnen, auf die Musik zwischen uns zu hören. Vielleicht können wir von den Walen und Vögeln lernen, von allen Lebewesen, die auf geradezu fantastische Weise musikalisch kommunizieren?