Gemeinschaft

Impulse aus der Wüste

Wie begegnet man den extremen ökologischen Herausforderungen in einem Wüsten-Kibbuz?
Was prägt die Gemeinschaft, und wie ist ein friedliches Zusammenleben mit den
Palästinensern möglich? Pavithra Novak berichtet aus dem israelischen Kibbuz Lotan.
von Pavithra Novak, erschienen in Ausgabe #26/2014
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© privat

Hier in der Wüste ist es wunderbar still. Auch wenn der Nordwind im Februar noch ziemlich kühl ist, genieße ich die Sonne, die hier jeden Tag scheint. »Hier« – das ist der Kibbuz Lotan im Süden der Wüste Negev, 50 Kilometer nördlich des Roten Meers. Es ist eine kleine Gemeinschaft mit 77 Erwachsenen und 47 Kindern, in der ich zwei Monate lang an einem Kurs zum nachhaltigen Leben teilnehme. Auf den rund 200 Hektar Land, die ihnen vom Staat Israel bei der Gründung 1983 zugesprochen wurden, halten die Mitglieder 300 Kühe und betreiben eine Dattelplantage. Damit unterscheidet sich der Kibbuz zunächst kaum von den anderen Kollektivsiedlungen seiner Art, die nach der Staatsgründung 1948 in erster Linie dazu dienten, mit einer großen Anzahl junger Menschen in kürzester Zeit so viel Land wie möglich urbar zu machen.

Kreative Ökologie
Ich arbeite im Permakulturgarten und lebe in einem kleinen Strohballenhaus. Denn das ist das Besondere an diesem kleinen Kibbuz: Neben dem ursprünglichen Dattel- und Viehbetrieb gibt es hier seit Beginn der 1990er Jahre das »Zentrum für kreative Ökologie« – und Kreativität ist in der Tat nötig, um aus dem sandigen Wüstenboden fruchtbare Erde zu machen!
Seit den Anfängen hat sich hier vieles verändert: Der Kibbuz ­Lotan hat Israels erste staatliche Recyclingstation gebaut, Permakulturgärten angelegt, mehrere Biotope für Zugvögel geschaffen, ein Öko-Tourismus-Projekt gestartet und ist Mitglied im »Global Ecovillage Network« (GEN) geworden. Besonders auffällig sind die vielen Bauten aus Strohballen und Lehm: Häuser, Wände, Bänke und Sitzgruppen.
Die Arbeit mit der Erde ist zentral für den Kibbuz. Ich genieße es, mit meinen Händen in den warmen, feuchten Mutterboden zu greifen oder beim Errichten einer Mauer mit viel Schwung den Lehm an die Wand zu klatschen. Der starke Praxisbezug der Workshops ist beeindruckend. Wir bauen Mauern, Häuser und eine Biogasanlage, nutzen fast jeden Tag den Solarofen und sind begeistert von unseren Komposttoiletten. Jeden Nachmittag gehe ich in den Garten, um Mangold, Zwiebeln und Salat zu ernten und abends damit auf dem selbstgebauten Lehmherd ein köstliches Essen zu kochen. Wenn das Feuer knistert und über mir der Sternenhimmel funkelt, bin ich jedes Mal wieder aufs Neue glücklich.
»Leider interessieren sich nicht alle Bewohner für den Umweltschutz,« bedauert Mark Naveh, der hier seit 1985 lebt. »Der Kibbuz wurde ursprünglich nicht als Ökodorf gegründet, daher gibt es einige Menschen, die mit Nachhaltigkeit und alternativen Energien überhaupt nichts am Hut haben.« Die stromfressenden Wäschetrockner in der gemeinschaftlichen Waschküche, die große Auswahl an Fleischgerichten und die Pappbecher sind nur einige der Dinge, die mich irritieren und einen Bedarf an Aufklärung und Bewusstseinsentwicklung aufzeigen. Immerhin gibt es inzwischen einen fleischlosen Tag im Speisesaal, und die Umstellung auf kompostierbares Wegwerfgeschirr ist fast vollständig gelungen. Für mich als öko-verwöhnte Deutsche sind das zwar nur kleine Erfolge, doch für die Menschen hier ist das anscheinend schon sehr viel.

Eine Ära geht zu Ende
Lotan ist einer der wenigen verbliebenen »Schitufi-Kibbuzim« – das sind jene, in denen es kein privates Eigentum gibt und alle Bewohnerinnen und Bewohner das gleiche Geld verdienen. Doch diese Ära neigt sich dem Ende zu, was für viele Mitglieder sehr schmerzhaft ist.
Kurz nach meiner Ankunft trifft es den Speisesaal: Statt wie bisher dreimal täglich kostenlos in den »Chadar Ochel« zum Essen zu gehen, erhalten die Mitglieder jetzt mehr Geld für Nahrungsmittel. Wer dennoch gemeinsam mit allen anderen essen will, bekommt pro Mahlzeit einen bestimmten Betrag von seinem Konto abgebucht.
Der Unmut über diese Umstellung ist deutlich zu spüren. Der Chadar Ochel ist schließlich ein wichtiger Kristallisationspunkt des gemeinschaftlichen Lebens und von daher hochsymbolisch für alles, was im Kibbuz geschieht. Gründungsmitglied Doria Naveh aß früher ­jeden Tag im Speisesaal. »Seit der Privatisierung kommt das für mich nicht mehr in Frage. Ich protestiere dagegen, indem ich hier nicht mehr esse«, sagt sie ­resigniert.
Die Veränderung lässt sich wohl nicht mehr aufhalten – zu groß ist der wirtschaftliche Druck. Denn die Regierung unter Benjamin Netanjahu entzieht den Kibbuzim systematisch die Subventionen, finanziert aber gleichzeitig massiv den Bau neuer Siedlungen auf palästinensischem Gebiet. Durch die Individualisierung zu einem »Kibbuz Mitchadesch«, in dem es Privateigentum und unterschiedliche Gehälter gibt, erhofft sich Lotan, mehr Menschen anzuziehen.
Jedes Mitglied engagiert sich neben seinem Beruf auch ehrenamtlich in einem der Gemeinschaftsbereiche, beispielsweise »Kinder und Jugendliche«, »Vogelreservat« oder »Kommunikation«. Es gibt regelmäßige Versammlungen, in denen diese Kleingruppen von ihrer Arbeit berichten und große Entscheidungen basisdemokratisch getroffen werden. Ich bin überrascht, dass bislang kaum Methoden genutzt werden, wie ich sie aus anderen Ökodörfern kenne.
Neulich gab es den ersten Vorstoß in Richtung gewaltfreier Kommunikation. Mit der Moderationsmethode Soziokratie wird ebenfalls erst seit kurzem experimentiert. Der Kibbuz Lotan ist ganz im ursprünglichen Stil auf Arbeit und Funktionalität ausgerichtet. Die Pflege des Gemeinschaftslebens kommt für mein Empfinden dabei zu kurz.
Hierfür steht lediglich der »Kabbalat Shabbat« am Freitagabend zur Verfügung, eine Art Gottesdienst mit vielen Liedern, in denen der Shabbat willkommen geheißen wird. Lotan war einer der ersten reform-jüdischen Kibbuzim. In dieser besonders liberalen Form des jüdischen Glaubens gibt es auch weibliche Rabbis. Als ich zum ersten Mal einen Kabbalat Shabbat erlebe, kommen mir immer wieder die Tränen beim Gedanken an die Tatsache, dass dieser integrale Bestandteil der deutschen Kultur im dritten Reich unter Hitler fast ausgelöscht wurde. Die jüdische Kultur, ihre Lieder, ihre Tänze, ihre Wissenschaft, ihre Religion, ihr Humor – all das war mir fremd, bis ich nach Israel kam und dort diesen Reichtum entdeckte.

Die palästinensischen Nachbarn
Über dem Kibbuz und dem ganzen Land liegt freilich ein großer Schatten: Schließlich lebten hier schon Menschen, lange bevor 1948 der Staat Israel gegründet wurde. Mein palästinensischer Gastgeber Raed Alshyoukhi vom »Yes-Theatre« für palästinensische Kultur erklärt mir bei einem Besuch im nahegelegenen Hebron: »Auch wenn das Verhältnis zwischen Palästinensern und Juden immer schon heikel war, so lebten sie im Land zwischen Nil und Jordan dennoch bis in die 1930er Jahre relativ friedlich zusammen.« Mit der massiv ansteigenden Anzahl jüdischer Einwanderer während der Zeit des Faschismus in Deutschland und Europa seien die Spannungen immer mehr gewachsen, und zahlreiche politische Verfehlungen auf beiden Seiten führten zu einem Konflikt, der heute weniger lösbar erscheint als je zuvor.
Auf die Frage, was er sich für sein Volk wünsche, antwortet der Schauspieler und sechsfache Vater ohne zu zögern: »Palästina soll zu Israel gehören, und zwar unter israelischer Regierung!« Erstaunt von dieser Antwort, die so anders ausfällt als alles, was ich in den westlichen Medien an Aussagen palästinensischer Politiker präsentiert bekomme, frage ich nach. »Ich will einfach nur in Frieden leben und meinen Kindern die Möglichkeit geben, durch die Welt zu reisen und andere Menschen und Kulturen kennenzulernen, damit sich ihr Horizont erweitert«, meint der 43-Jährige, der zwei Ehefrauen hat. Schmunzelnd fügt er hinzu: »Außerdem zahlen die Israelis wenigstens pünktlich am Monatsende das Gehalt.«
Wieder zurück im Kibbuz Lotan, mache ich mir nochmals bewusst, dass die Grenze zu Jordanien nur einen Steinwurf entfernt liegt. Der Gaza-Streifen ist ebenfalls nicht weit weg, und nur 50 Kilometer weiter südlich wurden an der Grenze zum Sinai erst kürzlich zwei Touristen aus Südkorea durch einen Selbstmordattentäter getötet. Auf die Frage, warum sich der Kibbuz ausgerechnet in dieser Region des Landes angesiedelt hat, antwortet das Gründungsmitglied Alex Cicelsky: »Wir hätten damals viel besseres Land in der Westbank oder anderen besetzten Gebieten haben können. Doch für uns war das nie eine Option. Wir sind für eine Zwei-Staaten-Lösung: Israel und Palästina. Mit der Besiedelung der Wüste hier im Süden haben wir bewiesen, dass es keinen Grund für israelische Siedlungen auf palästinensischem Gebiet gibt.«
Die Friedensarbeit des Kibbuz hat eine lange Tradition. Seit der Gründung des »Center for Creative Ecology« vor über 20 Jahren werden immer wieder Workshops durchgeführt, an denen Palästinenser oder israelische Araber, wie etwa Beduinen, teilnehmen. Die Schulkinder des Kibbuz pflegen eine Partnerschaft mit Kindern einer muslimischen Schule in der Nähe von Nazareth, aus der sich zum Teil sehr intensive Freundschaften entwickelt haben.
Bald schon geht meine Zeit zu Ende. Ich bin tief berührt und aufgewühlt von all den Eindrücken in diesem spannenden Land. Gutes und Schwieriges liegen hier so dicht beieinander, wie ich es auf anderen Reisen noch nie erlebt habe. Zurück bleiben ein tieferes Verständnis für die hohe Komplexität der Situation im »Heiligen Land«, eine neue Offenheit und ein Unwissen, das mich neugierig macht auf mehr. Außerdem ist da noch ein schwarzer Rand unter meinen Fingernägeln von der Arbeit mit der Erde, der sich so schnell von keiner Seife entfernen lässt. •

 

Pavithra Novak (39) ist Diplom-Psychologin und Öko-Aktivistin. Sie ­arbeitet unter anderem für das Global Ecovillage Network (GEN). Seit mehr als zwei Jahren hat sie keinen festen Wohnsitz mehr und reist durch ­Gemeinschaften und Ökodörfer auf der ganzen Welt. www.siebensinne.net


Komplexe Antworten auf die komplexe Friedensfrage
www.kibbutzlotan.com
auf Facebook: http://on.fb.me/1gdSMm8
www.yestheatre.org
www.gen.ecovillage.org

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