Produktive Freiheit
Die kapitalistisch geprägte Gesellschaft behauptet, sich von überkommenen Bindungen befreit zu haben. Sollte sie stolz darauf sein?
Vor 30 Jahren habe ich zusammen mit meiner Frau Gabrielle St. Clair die »Orgodynamik«, eine potenzialorientierte körpertherapeutische Methode, sowie die »Essenzarbeit« entwickelt, mit der wir der Künstlernatur und dem Freiheitswesen des Menschen zum Ausdruck verhelfen wollten.
Aus der Arbeit in europäischen Transition-Initiativen – unter anderen bei Transition Town Kassel – und auch aus Beratungen und Forschungen in verschiedenen Unternehmen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und Gemeinschaftsprojekten ist in den letzten Jahren der »Essenz-Lebens-Design-Prozess« (ELD) entstanden.
Mich beschäftigten dabei folgende Fragen: Wie können wir Kräfte sammeln, so dass wir viel Energie für unsere Anliegen haben? Was bewirkt, dass wir als Gruppe dynamisch und kreativ handeln können?
Daraus ist eine prozesshafte Arbeitsweise entstanden, die sich gut als Handwerkszeug für den »großen Wandel« eignet, von dem die Tiefenökologin Joanna Macy spricht. Sie meint damit einen tiefgehenden Transformationsprozess unserer Kultur: weg von einer ichbezogenen, wachstumsgetriebenen Konsumgesellschaft und hin zu einem lebenserhaltenden und liebevollen Miteinander. Auf der persönlichen Ebene verlässt eine solche Kultur idealerweise das alte Paradigma des abgetrennten, isolierten Individuums, das in Konkurrenz zu allen anderen steht. Stattdessen schreibt sie eine neue Geschichte, die von verbundenen Menschen handelt: verbunden mit sich selbst, mit den Mitmenschen, der Natur, dem Kosmos. Die neue Geschichte hat mit Kooperation und Synergie zu tun, mit Werten wie Solidarität und Kokreativität.
Aktiv nach innen und nach außen
Für immer mehr Menschen gewinnt die Verbindung von innerer Transformation und äußerem Wandel an Bedeutung. Bisher als zwei gegensätzliche Ausrichtungen empfunden, entsteht aus ihrem Zusammenspiel ein »heiliger Aktivismus« – so der amerikanische Kulturphilosoph Charles Eisenstein –, also ein Handeln, das mit inneren Werten verbunden ist, welche die Prinzipien von Gewinnen und Verlieren hinter sich lassen und nach dem Gemeinwohl suchen.
Der ELD-Prozess hat mit dieser Kultur des Verbundenseins zu tun. Er bietet die Möglichkeit, in allen Lebensbereichen zu erkunden, wo und wie Verbundenheit entsteht. Wie genau erlebt der oder die Einzelne Verbundenheit? Bei dieser Auseinandersetzung werden oft individuelle und kollektive Wunden sichtbar, die uns daran hindern, zu vertrauen und in Verbundenheit zu leben und zu wirken.
ELD versteht sich als eine Synthese aus unterschiedlichen Ansätzen wie Tiefenökologie, integraler Psychologie, Methoden der sozialen Skulptur, Erkenntnissen aus dem Bereich der Bewusstseinsforschung und weiteren Einflüssen.
Im Zentrum von Essenz-Lebens-Design stehen immer die Fragen: Wer bin ich? Was macht mich aus? Was heißt es eigentlich, Mensch zu sein? Eine Verletzung, die viele Menschen auf dieser Ebene tragen, ist der Verlust des inneren Raums. Diesen gilt es wiederzuentdecken. Für Rilke ist dieser »Weltinnenraum« offen, »die Vögel fliegen still durch uns hindurch«. Es existieren diverse Werkzeuge, Zugänge und Schlüssel, um den inneren Raum zu öffnen und wieder zu betreten: Meditationen, Bewusstseins- und Körperübungen.
Die vier Ebenen
Im ELD werden vier Lebensfelder unterschieden (siehe Grafik), wobei das erste in das nächste, dieses in das übernächste und so fort integriert ist.
Das erste Lebensfeld ist die Ich-Du-Ebene, die wichtig wird, sobald es darum geht, ein Projekt zu kreieren. Hier stellt sich die grundlegende Frage der gemeinsamen Werte. Wenn ich in Vorträgen danach frage, kommen ganz schnell ähnliche Antworten, z. B. Offenheit, Vertrauen, Respekt, Ehrlichkeit, Mitgefühl, Achtsamkeit, Verbindlichkeit. Diese können im Rahmen einer Gruppenarbeit als Werte-Dokument festhalten werden, um bei aufkommenden Schwierigkeiten wieder an die gemeinsame Ausrichtung zu erinnern. Auf der Ich-Du-Ebene gibt es ein weit verbreitetes Phänomen, das ich »Vermeidungstrance« nenne – ein Rückzug der Aufmerksamkeit, die sich auf die ganz persönlichen Themen und Nöte reduziert. Es entsteht dann ein Tunnelblick, der das Gegenüber kaum wahrnimmt und nicht in der Lage ist, sich mit ihm auf einer tieferen Ebene zu verbinden.
Die australische Umwelt- organisation »Green Skills« hat ihre Arbeit auf einem »12-Schritte-Ich-Du-Prozess« aufgebaut. Jedes Mitglied telefonierte dabei über einen bestimmten Zeitraum hinweg einmal wöchentlich mit einem Partner und stellte ihm oder ihr dabei 12 Fragen. Dieser kontinuierliche Austausch hat die Gruppe kraftvoll verbunden und sie dynamisch und kreativ gemacht.
Andere methodische Werkzeuge auf dieser Ebene sind beispielsweise die »authentische Kommunikation« nach David Bohm oder gezielte Fragen nach persönlichen Engepunkten und der unterstützende Umgang damit. »Ich bin nicht kreativ«, »ich bin nicht gut genug«, »ich muss es allein schaffen« sind weitverbreitete Glaubenssätze, deren Bewusstwerdung und Auflösung gebundene Energien freisetzt und eine neue Lebendigkeit zutage treten lässt.
Aus den vielen Ich-Du-Einheiten einer Gruppe kann so als zweites Lebensfeld ein gemeinsames Wir entstehen. Dieses nach innen gerichtete Wir wird von Werten wie Vertrauen, Achtsamkeit, Verlässlichkeit, Wahrhaftigkeit und Respekt getragen. Solche Wir-Werte sind die gemeinsame Ressource einer Gruppe, auf die sie immer wieder zurückgreifen kann. Die Wunde auf dieser Ebene ist die des Narzissmus: Alle oder einzelne kreisen um ihre eigenen Themen. In den Mittelpunkt rückt deshalb als nächstes die Auseinandersetzung mit den Fragen: Was können wir uns geben, was wir uns bisher nicht gegeben haben? Und: Was hindert uns daran, das zu tun?
Die richtigen Fragen zum richtigen Zeitpunkt zu stellen, ist auch im ELD-Prozess ein sehr wirksamser Impuls.
Inspirationen für eine lebenswerte Zukunft
Es gibt Gruppen, die sich an Gandhis Prinzip von »Satyagraha« orientieren, das von der modernen Friedensforschung mit »Gütekraft« übersetzt wird. Diese Gruppen machen gemeinsam einen intensiven inneren Lernprozess durch, der sie befähigt, sich gewaltfrei und konstruktiv für die Verbesserung von gesellschaftlichen Missständen zu engagieren. So hat eine Gütekraft-Initiative mit ihrem Engagement in den letzten Jahren wesentlich zur Verhinderung des Baus einer Autobahn quer durch das Ruhrgebiet beigetragen – ein schönes Beispiel für die Aktivität im dritten Lebensfeld: Hat das nach innen gerichtete Wir seinen Wertefokus und seine innere Kraft gefunden, dann will es nach außen sichtbar werden und wirken.
Das nach außen gerichtete Wir stellt sich der Frage: Was können wir der Welt geben? Wo können wir unterstützend wirken?
Oft braucht es eine längere Zeit, bis eine Gruppe hier zu kraftvollen gemeinsamen Antworten findet. Kraftvolle Werkzeuge, wie die »Dialogspirale« – bei der alle die Gelegenheit bekommmen, für eine bestimmte Zeit zu sprechen, ohne unterbrochen zu werden –, fördern die Fähigkeit, aktiv zuzuhören und geben allen Beteilgten einen Raum für Resonanz.
Ich habe letztes Jahr im portugiesischen Portalegre, einer Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit und Armut, miterlebt, wie die Initiative »Ajudada« (»gegenseitige Hilfe«) sich über viele Monate fragte: Was können wir für die Stadt tun? Was herauskam, war kein konkretes Projekt mit Effizienzkriterien, sondern eine Haltung, die in eine neue Frage mündete: Was können wir – die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt – uns schenken? Gemeinsam kam man auf die Idee, ein dreitägiges Fest zu organisieren, bei dem das Schenken in Theorie und Praxis im Mittelpunkt stand. Gäste aus aller Welt wurden eingeladen und brachten ihre Geschenke mit. Immer mehr Menschen beteiligten sich, und zum Abschluss wurde der Ajudada-Initiative von der Stadt ein Haus für ihr weiteres Wirken zur Verfügung gestellt.
Im vierten Lebensfeld geht es um die Einbettung des »Wir« in etwas Größeres – in die Erde, die Natur, den Kosmos. Das Bewusstsein dafür ist in unserer Zeit weitgehend verlorengegangen. Entsprechend weitverbreitet ist die Wunde der Entwurzelung auf dieser Ebene. Tiefenökologische Übungen, wie das »Erdforum« aus dem partizipativen Kunstprojekt »University of the Trees«, und Elemente aus der orgodynamischen Bewusstseinsarbeit können dazu beitragen, die Verbindung mit der uns umgebenden Welt wiederzubeleben. Das »Wir im Größeren« befähigt den Einzelnen dazu, dem intuitiven Denken Raum zu geben, Träume und Visionen zu teilen und Inspirationen für eine lebenswerte Zukunft zu entwickeln.
Über sich hinauswachsen
Wenn eine Gruppe die Qualität dieser vier Felder erfahren hat, entsteht häufig eine neue Qualität von Selbstwirksamkeit, gemeinschaftlicher Kreativität und gegenseitiger Unterstützung für etwas Größeres. Das Universum erscheint nicht länger als ein Räderwerk, in dem alle funktionieren, sondern das Leben zeigt sich als ein fließender Prozess, in dem sich Synergie, Kooperation und Verbundenheit manifestieren, in dem Freude und Vertrauen zu wachsen beginnen. Jeder Mensch und jede Gruppe trägt das Potenzial, über sich selbst hinauszuwachsen und im Sinn von Charles Eisenstein zu einer kraftvollen Mitgestalterin einer »schöneren Welt« zu werden, »die unser Herz schon kennt«. Der ELD-Prozess will dazu beitragen, dieses Potenzial zu wecken und Wunder zum Wohl aller möglich werden zu lassen. •
Michael Plesse (67) ist Politologe, Bewusstseinslehrer, Berater und Autor. Er ist Mitbegründer der Orgodynamik und Mitinitiator von »Transition Town Kassel«.
Die eigene Gruppe stärken?
www.michaelplesse.org
www.inozi.net
www.orgoville.de
Die kapitalistisch geprägte Gesellschaft behauptet, sich von überkommenen Bindungen befreit zu haben. Sollte sie stolz darauf sein?
Als Beispiel für einen Weg, wie Menschen ihre eigene Lebensspur finden und gemeinsam mit anderen in einem größeren Zusammenhang wirksam werden können, geht es in diesem Beitrag um den »Essenz-Lebens-Design-Prozess« (ELD).
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