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Wozu wollen Sie das wissen? (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #24/2014
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Joseph Brodsky beschrieb Lyrik einmal als die »knappste, am stärksten verdichtete Mitteilungsweise menschlicher Erfahrung«. In sprachökonomischer Hinsicht rangiert gleich dahinter: die Kurzgeschichte. Ihre moderne Meisterin ist die kanadische Schriftstellerin Alice Munro. Mit der Verleihung des Literaturnobelpreises im vergangenen Herbst wurde nicht nur die Autorin, sondern auch diese konzentrierteste aller Prosaformen gewürdigt. Besondere Erwähnung in der Begründung der Schwedischen Akademie fand »The View from Castle Rock«, auf Deutsch »Wozu wollen Sie das wissen?« – Munros persönlichstes Buch.
Die Autorin, eine gebürtige Laidlaw, verfolgt in elf Erzählungen ihre Familiengeschichte vom schottischen Ettrick Valley des 18. Jahrhunderts – einem Tal »ohne Vorzüge«, wie eine frühe Chronik verzeichnet – bis ins Kanada der Gegenwart. Wir begegnen dem Läufer, Schwarzbrenner und Garnspinner Will Laidlaw, genannt O’Phaup, der kein Wettrennen verlor und Umgang mit Fairies und Geistern pflegte; seinem Enkel James, der 1818 als Greis den Ozean überquerte; und dessen Nachkommenschaft in der Neuen Welt bis hin zu Munros Eltern und der Erzählerin selbst, die sich auf genealogische Spurensuche in der Ahnenreihe begibt. Immer wieder tritt sie dabei als erzählerische Instanz auf, die das Geschehen jäh unterbricht, es kommentiert und historische Authentizität suggeriert, indem sie aus Taufregistern, Briefen und Tagebüchern zitiert – nur um wenig später einzuräumen, dass nahezu alle dramaturgischen Details frei erfunden sind. In den Händen einer geringeren Erzählerin hätte aus diesem Spiel mit Fakt und Fiktion eine bemüht wirkende Nummernrevue werden können – doch ihr scharfer Blick für Details, ihr sicheres Gespür für Stimmungen und ihr feines Gehör für das Raunen der Vergangenheit lässt berührende, aber gänzlich unsentimentale Studien über das Suchen und Finden von Heimat entstehen.
Im Epilog führt sie die motivischen Stränge in denkbar knappster Form zusammen, wenn sich die alternde Autorin erinnert, wie sie einst als junges Mädchen im Haus einer inzwischen vergessenen Verwandten in einer perlmuttenen Muschel eine »Botschafterin« erkannte, die ihr Kunde von Nah und Fern, vom Pochen des eigenen Bluts und vom Rauschen des Ozeans zutrug. Mehr braucht Munro nicht: In einem Satz lässt sie zwei Jahrhunderte gelebter Leben auferstehen, als wären sie auf Armeslänge greifbar.


Wozu wollen Sie das wissen?
Elf Geschichten aus meiner Familie
Alice Munro
Fischer, 2008, 384 Seiten
ISBN 978-3596169696
9,95 Euro

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