Die besondere Leuchtkraft der isländischen Gemeinschaft Sólheimar.von Susanne Fischer-Rizzi, erschienen in Ausgabe #29/2014
Wenn du im Bad des Gästehauses von Sólheimar die Dusche aufdrehst, rinnt dir Wasser mit Schwefelgeruch über den Körper. Pflanzen kannst du im heimeligen Trollgarten kaufen, und ein nahegelegener »kleiner« Vulkan mit einem pechschwarzen See im erloschenen Krater eignet sich für einen netten Ausflug mit dem Auto am Abend. Das sind nur einige der Eigentümlichkeiten, die Sólheimar – isländisch für »Heimat der Sonne« – zu einem ganz besonderen Ort machen. Isländische Freunde hatten mir in diesem Sommer auf meiner Reise durch das Land von der Gemeinschaft erzählt. Vom Nordwesten waren eine Freundin und ich mit dem Auto unterwegs auf dem Weg in den Süden der Insel. In Sólheimar wollten wir eigentlich nur einen kurzen Zwischenstopp einlegen – und blieben doch vier Tage. Als interessierte Fremde waren wir gekommen, und als begeisterte Freundinnen reisten wir wieder ab. Ich habe schon mehrere größere Gemeinschaften besucht. Sólheimar steht jetzt zusammen mit Findhorn an erster Stelle meiner persönlichen Gemeinschaften-Hitliste.
Grünes Juwel in schwarzer Lava Warum habe ich mich in Sólheimar so wohl gefühlt? Jetzt, nach meiner Rückkehr, will ich bei einem inneren Spaziergang durch den Ort darüber nachdenken. Wenn man von der kleinen Straße, die durch eine weite, von Vulkankegeln gesäumte Ebene mit Seen und Flussläufen führt, in die Einfahrt zur Gemeinschaft einbiegt, spürt man gleich, dass hier schon lange und mit viel Liebe gewirkt wird. Alles wirkt sehr gepflegt und ist wunderschön gestaltet. Es strahlt eine gelungene und gewachsene Verbindung von Ökologie, künstlerischer Gestaltung und Gemeinschaftssinn aus und passt sich sanft der umliegenden Landschaft an. Das 250 Hektar große Grundstück liegt in einem fruchtbaren Tal zwischen zwei Lavaausläufern. Mir fällt gleich auf: Es ist teilweise bewaldet! Das ist etwas Außergewöhnliches für Island, denn die Insel ist fast überall baumlos. Eine eigene Baumschule betreibt in Sólheimar ein großes Wiederaufforstungsprojekt. Ich streife auf Wegen und kleineren Straßen durch dieses Gelände voller Überraschungen, erspähe am Rand der Klippen Islandpferde, deren Mähnen im Wind wehen, und werde dabei vom wohlklingenden Gesang des Regenbrachvogels begleitet.
Heimat für alle Sólheimar ist eine der ältesten Gemeinschaften in Europa, sie existiert bereits seit 1930. Die Gründerin, Sesselja Sigmundsdóttir (1902–1974), die aus einem großen Gemälde in der hellen Eingangshalle freundlich herauslächelt, studierte sechs Jahre in Deutschland, Dänemark und auch in der Schweiz. Dort wurde sie von der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners inspiriert und entwickelte viele Träume und Ideen, wie ein ideales Land und eine ideale Gemeinschaft aussehen könnten. Ihre Träume machte sie wahr: An ihrem 28. Geburtstag gründete sie Sólheimar – lange bevor »Inklusion« ein Begriff wurde – als Heim für behinderte und nichtbehinderte Kinder, zumeist Waisen. Heute leben hier rund 100 Menschen jeden Alters, davon etwa 40 mit geistigen Behinderungen. Sesselja fühlte sich auch der Camphill-Bewegung nahe und versuchte, deren Ideen in ihre Gemeinschaft einfließen zu lassen. So ist Sólheimar zwar anthroposophisch geprägt, jedoch sind Menschen jeglicher Ausrichtung willkommen. Mir gefällt die natürliche Art, wie hier behinderte und nicht-behinderte Menschen ihr Leben führen. Vom gemeinsamen großen Morgenkreis, der Arbeit in den verschiedenen Werkstätten und Gärten, dem künstlerischen Schaffen, dem gemeinsamen Essen und der Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen – nie wird jemand ausgeschlossen, alle werden wohltuend integriert und sollen sich zu Hause fühlen, gleich, was sie hier tun. Sesselja hatte sich erträumt, dass Sólheimar eine Heimat für seine Bewohner sein solle und nie eine Institution. Auf dem Weg zum Musikgarten zieht mich eine künstlerische Installation mit Fotos der Gemeinschaftsmitglieder mit Down-Syndrom in ihren Bann – mich berührt die Art, wie diese Menschen hier gewürdigt werden. In dem großen Werkstattgebäude, in dem unter anderem getöpfert, geschreinert und gewebt wird, gibt es einen großen Ausstellungsraum mit künstlerischen Werken von behinderten und nicht-behinderten Menschen. Ich spüre den Geist von Sesselja, erahne ihre Träume und kann mir gut vorstellen, wie sie mit viel Inspiration von ihren Reisen auf dem Kontinent in ihre wilde Heimat Island zurückkehrte, mit großem Einsatz und Hingabe das Projekt gründete und viele Menschen mitreißen konnte. Hier, so erträumte sie es, sollten Mensch und Natur gleichermaßen geehrt und gefördert werden.
Vulkanisch nachhaltig Sólheimar ist heute stolz darauf, dass es zu den ersten Orten in den nordischen Ländern gehört, wo Landwirtschaft nach biologischen Richtlinien betrieben wird –und dies kontinuierlich seit über 80 Jahren. Fast das gesamte Gemüse, das in Sólheimar verzehrt wird, stammt aus eigenem Anbau. In Gärten werden Gemüse, Kräuter und Blumen gezogen. Der Großteil des Gemüses gedeiht in riesigen Gewächshäusern, die geothermisch beheizt werden. Sólheimar besitzt eine eigene heiße Quelle, die die Gewächshäuser, die Wohnhäuser und die Werkstätten mit Wärme versorgt. Auch das schwefelhaltige Duschwasser, von dem ich eingangs sprach, stammt aus ihr. Kaltes Trinkwasser wird über eine Leitung von außerhalb des Grundstücks hergeleitet. Ohne die Heizung wäre eine Selbstversorgung nicht möglich, da die Vegetationsperiode in Island extrem kurz ist. Im Sommer ist es fast nur hell, im acht Monate währenden Winter fast nur dunkel – dann gibt es am Tag lediglich drei bis vier Stunden Helligkeit. Sólheimar wird nach den Grundsätzen der Nachhaltigkeit bewirtschaftet. Man fühlt sich der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise nach Rudolf Steiner noch immer verbunden, praktiziert diese jedoch in Verbindung mit Permakultur und weiteren modernen alternativen Ansätzen. Um Umweltbewusstsein und eine nachhaltige Lebensweise zu fördern, wurde im Jahr 2002 das »Sesseljuhus« eröffnet – ein großes, modernes, energieeffizientes Gebäude, das als Ausstellungs- und Bildungsbereich genutzt wird. Es wird von vielen auswärtigen Gruppen besucht und hat im Jahr bis zu 40 000 Besucher. Seit 1997 ist Sólheimar Mitglied im Global Ecovillage Network, dem weltweiten Netzwerk der Ökodörfer und Gemeinschaften (GEN).
Achtsam arbeiten Die meisten Bewohner von Sólheimar leben von ihrer Arbeit in der Gemeinschaft. Es gibt sechs Einzelunternehmen und sechs Werkstätten mit verschiedenen Ausrichtungen. Nur wenige Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt außerhalb. Im schön gestalteten Shop werden Bioprodukte, Gemüse, Kunstgegenstände aus den Werkstätten, frische Kräuter und Blumen verkauft. Dort entdecke ich auch die in der eigenen Manufaktur für Naturkosmetik hergestellten Cremes, Shampoos, Badesalze und vieles mehr. Da ich mich damit selbst professionell beschäftige, erkundige ich mich nach dem Weg zur betreffenden Werkstatt. »Gleich da vorne in dem blauen Haus. Geh einfach rein und frage nach Paolo«, antwortet mir die junge Frau an der Kasse. Es ist hier ganz unkompliziert, mit jemandem in Kontakt zu kommen. Kurz darauf stehe ich zwischen Säcken mit Kräutern, Kartons voller Salbendosen und Regalen mit Kosmetikprodukten in der Werkstatt. Paolo, ein junger Mann aus Portugal, aus dessen Augen Neugier und Interesse blitzen, sitzt mit zwei behinderten Frauen, Erla und Hanny, am Tisch und füllt mit ihnen selbstgemischtes Badesalz ab. Wir alle sind eingehüllt in den lieblichen Duft von Rosen und warm-balsamischen Gewürzen. Schnell sind wir in ein Gespräch über biologische Zutaten für Naturkosmetik, die Flora Islands und Paolos Arbeit eingetaucht. Er reicht mir eine Schürze, ich beteilige mich an der Arbeit, und schon gehöre ich dazu. Mir fällt auf, dass die beiden Frauen sehr langsam arbeiten. Eine streicht hingebungsvoll getrocknete Rosenblätter durch ein Sieb. »So andächtig habe ich noch nie Pflanzen abgesiebt«, denke ich bei mir. Ich bemerke, wie ich selbst langsamer werde und die Arbeit genieße. Paolo unterstützt die beiden Frauen liebevoll und geduldig, wenn Pflanzen oder Salz verschüttet werden oder Rosenknospen noch zu groß für das engmaschige Sieb sind. Es ist schön, wie hier in Sólheimar das gemeinsame Arbeiten gelebt wird. Paolo erklärt, dass die Arbeit nach der Idee der »Reverse Integration«, der umgekehrten Integration, gestaltet wird. Man passt sich immer wieder den Fähigkeiten der Behinderten an, um so eine gemeinsam erlebte Arbeit zu ermöglichen. Die Zeit im Kräuterlabor verläuft ohne Eile, und doch stehen nach zwei Stunden viele abgepackte und etikettierte Badesalze auf dem großen Tisch. Nach der Arbeit, um 17 Uhr, bilden wir einen Kreis, halten uns an den Händen und bedanken uns für den Tag. Zufrieden verlassen die Frauen die Kräuterwerkstatt. Ich möchte Paolo noch mehr Fragen über sein Leben in Sólheimar stellen.
Lernort für Freiwillige Pamela, Paolos Freundin, kommt dazu. Sie stammt ebenfalls aus Portugal und leitet die große Bäckerei der Gemeinschaft. Ihre delikaten Kuchen waren mir schon im Shop aufgefallen, wo ebenfalls Nicht-Behinderte und Behinderte zusammenwirken. Pamela macht außerdem eine vierjährige Ausbildung zur Kräuterheilkundigen in Irland und besucht dort dreimal im Jahr für eine Woche die Universität, was von der Gemeinschaft unterstützt wird. Jede und jeder soll sich in Sólheimar gemäß den eigenen Fähigkeiten und Wünschen entwickeln können. Paolo und Pamela leben in einem schönen Häuschen zusammen. Familien, Einzelstehenden, Paaren, kleineren Gruppen und Behinderten (auch mit Betreuern) stellt Sólheimar Wohnhäuser zur Verfügung. Paolo macht jetzt auch bald Schluss mit der Arbeit. Er will noch auf eine Party. Die findet im Haus der Helfer und Praktikanten statt. Heute werden zwei der »Volunteers« mit einem Fest verabschiedet. In Sólheimar arbeiten pro Jahr durchschnittlich 30 bis 40 freiwillige Helfer mit. Sie stammen vorwiegend aus europäischen Ländern, und ihr Aufenthalt wird vom Erasmus-Programm wie auch vom Europäischen Freiwilligendienst (EFD) unterstützt. Insgesamt haben bisher etwa 2000 Volunteers aus vielen verschiedenen Ländern in der Gemeinschaft mitgearbeitet. Auch Gäste sind in Sólheimar willkommen. Zwei große, geschmackvoll eingerichtete Häuser stehen für sie bereit.
Freude an Herausforderungen Die Party scheint lange über Mitternacht hinaus gedauert zu haben. Trotzdem nimmt uns Paolo am nächsten Tag in seinem betagten Jeep mit auf einen Trip in das umliegende Hochland. Der größte Teil Islands ist unbewohnte, schwer zugängliche Wildnis. Die wenigen Pisten sind mit einem normalen PKW nicht passierbar. »Das sind die Abenteuer, die ich in Island liebe – sie gehören zu den Gründen, warum ich hier bin«, meint Paolo begeistert, als er den Wagen durch die wilde Landschaft lenkt. »Wie bist du mit Pami nach Sólheimar gekommen?«, frage ich. »Wir hatten uns verschiedene Gemeinschaften wie Auroville in Indien oder Tamera in Portugal angeschaut. Ich kam über das Programm ›Seeds‹ nach Island und besuchte Sólheimar. Uns hat es dort auf Anhieb gefallen, und wir beschlossen, zu bleiben. Uns gefällt, wie der soziale Aspekt des Gemeinschaftslebens hier gelebt wird und wie dabei auch die Natur einbezogen wird. Die Vision Sólheimars, dass sich hier jeder Mensch optimal entwickeln kann und darin gefördert wird, gibt unserem Leben Sinn«, antwortet Paolo. Ich kann ihn kaum verstehen, das Auto rumpelt über die Piste aus Lavaschotter. Was zu verbessern wäre? »Mehr Mitbestimmung und tieferer Austausch in der Gemeinschaft wären gut«, lautet die knappe Antwort. Nach einigem Gerumpel kann ich weiterfragen: »Und wie ertragt ihr die langen, dunklen Winter?« Kaum überraschend erzählt er zuerst etwas vom magischen Zauber der Nordlichter. Aber allein mit farbigen Lichtern am fast ständig dunklen Winterhimmel kann man doch keine Winterdepression abwehren? Paolo erläutert, wie es die Sólheimeraner machen: »Wir haben ein sehr reichhaltiges kulturelles Programm. In unserer großen Theaterhalle finden viele Konzerte und Theateraufführungen statt. Auch gibt es viele sportliche Veranstaltungen. Das vertreibt den Winter-Blues!« Heute, seit zehn Tagen wieder zurück in Deutschland, höre ich in den Nachrichten, dass der Vulkan Bárdarbunga in Island ausgebrochen ist und Dampfwolken spuckt. Ich stelle mir meine isländischen Freunde vor, wie sie auf diesen Vulkanausbruch mit dem landesüblichen Lebensmotto reagieren werden: »Petta reddast« – das biegen wir schon hin! Probleme werden nicht als Bedrängnis erfahren, sondern als Herausforderungen, denen man sich kreativ stellt. In Sólheimar ist das ganz gut gelungen. •
Susanne Fischer-Rizzi (64), Heilpraktikerin, Aromatherapeutin, Autorin, lebt auf einem kleinen Biohof im Allgäu. Sie gibt Workshops und Ausbildungskurse in Heilpflanzenkunde und Wildniswissen. www.susanne-fischer-rizzi.de