Titelthema

Das kleine Herz Europas

Das Volk der Sorben macht sich auf den Weg,
seine Selbstbestimmung zu verwirklichen.
von Mercin Walda, erschienen in Ausgabe #30/2015
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Mitten in Deutschland lebt eine Ethnie, die – vielen unbekannt – seit anderthalb Jahrtausenden eine andere Sprache spricht, eine andere Kultur bewahrt und ein anderes Verhältnis zur mehr-als-menschlichen Welt – der Natur – pflegt als die Mehrheitsgesellschaft: das kleine Volk der Sorben. Die west­slawischen Stämme, die seit dem 6. Jahrhundert das Gebiet etwa der neuen Bundesländer besiedelten, wurden im 8. Jahrhundert von den Frankenkönigen unterworfen und über die folgen­den 200 Jahre hinweg christianisiert und kolonisiert. Nur die Milzener in der Oberlausitz, die heute zu Sachsen gehört, und die Lusizer in der Niederlausitz, die Teil Brandenburgs ist, haben das überstanden. Die beiden slawischen Stämme – die heutigen Sorben – siedelten in einer unzugänglichen, wenig fruchtbaren wald- und wasserreichen Landschaft, die nie zum zentralen Interessengebiet einer deutschen Dynastie wurde. Die Reformation führte zu einer weitgehenden deutschsprachigen Assimilierung. Nur ein Zehntel der damals über 300 000 Sorben blieb katholisch: die Einwohner des Gebiets zwischen Bautzen und Kamenz. Dort kann heute das Sorbische ausgeprägter erfahren werden als in den evangelischen Regionen.
Das feudalistische, das kaiserliche, das nationalsozialistische und das stalinistische Deutschland bekämpften alle Formen der Selbstachtung der Sorben. In der nationalistisch-rassistischen Propaganda des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstand das Klischee der minderwertigen »Wenden« – wie die Sorben abschätzig genannt wurden und wie sich die Niederlausitzer Slawen bis heute selbst bezeichnen. Die sorbischen »Elemente« waren für die Nationalsozialisten eine »asoziale« Unterkategorie für »rassisch Minderwertige«. Himmlers Visionen zufolge sollten die Sorben nach dem Endsieg unter germanischem Führertum in einem »Generalgouvernement […] aus einer verbleibenden minderwertigen Bevölkerung […] für besondere Arbeitsvorkommen (Straßen, Steinbrüche, Bauten)« eingesetzt werden. Zwar meinten einige deutsche Politiker nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufrichtig, Wiedergutmachung leisten zu müssen. Doch auch in der DDR gab es bald keinen Diskurs mehr dazu, da die Natio­nalitätenfrage mit der marxistisch-­leninistischen Nationalitätenpolitik angeblich gelöst war. Zudem war die sorbische Kultur – wo nicht bäuerlich – stark bürgerlich und christlich geprägt, weshalb sie als fortschrittsfeindlich galt. So sahen sich die Sorben bald in einer Hierarchie wieder, in der Selbstbestimmung für sie in weite Ferne gerückt war. Nach der Wende 1989 wurde den Sorben das Klischee »Hätschelkind der SED« angelastet, um sorbische Forderungen vergessen zu machen. Der nicht geführte Diskurs über die diffizilen deutsch-sorbischen Beziehungen führte trotz gesetzlicher Würdigung, einer freien Presse und einem starken gesamtgesellschaftlichen Empfinden für individuelle Rechte dazu, dass die Vorurteile zwischen beiden Ethnien auch heute noch nicht verschwunden sind.

Ein Volk – keine Minderheit
Die Sorben sind ein autochthones (indigenes, ursprüngliches, schon seit Zeiten vor einer Kolonisierung oder Staatengründung in einem Gebiet lebendes) Volk. Sie sind keine »nationale Minderheit«, denn sie haben kein Mutterland außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik, wie beispielsweise die Dänen in Deutschland, und daher auch keine Lobby. Ihre gemeinsamen Traditionen waren und sind die einzige Möglichkeit zur Selbstfindung. In der sorbischen Kultur werden viele Werte bewahrt, von denen man gemeinhin glaubt, sie seien dem modernen Mitteleuropa verlorengegangen. So hat die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – zur Familie, in deren Zentrum wie ein spätes Echo ursprünglich matriarchaler Verfasstheit immer noch die Großmutter steht, zu Freundeskreisen, Vereinen oder kirchlichen Gruppen und insbesondere zur Dorfgemeinschaft – ein großes Gewicht. Menschennähe, ein gläubiges Vertrauen, das Achten aufeinander, Ehrlichkeit, ein natürlicher Lebensrhythmus spielen eine wichtige Rolle.
Bei der Identifikation mit dem Eigenen sind auch Komponenten nicht-sprachlicher Natur – mit ihren Licht- und Schattenseiten – von zentraler Bedeutung. So lautet beispielsweise ein ungeschriebenes Gesetz im sorbischen Dorf, dass man Ruhe bewahrt. Es geht nicht um Einhaltung von Pausen oder Mittagsruhe, sondern man ist bestrebt, den gleichmäßigen Fluss des Lebens nicht zu stören. Dieses Verhalten führt allerdings auch dazu, dass man sich anpasst – und ist im historischen Rahmen Ursache dafür gewesen, dass sich die Sorben nicht zuletzt die Ordnungsvorstellungen der ihr meist nicht wohlgesonnenen deutschen Obrigkeit zu eigen gemacht haben. Andererseits haben die Sorben vieles nicht vergessen, was sie bereichert. Kommen sie zusammen, wird gern gesungen; man kennt auch die Texte der Lieder, die zum Teil noch aus dem Mittelalter stammen. Kommt der Nachbar vorbei, spricht man über das Wetter, die Kinder oder über die Predigt des Pfarrers. Eine Art »Zwecklosigkeit«, Freundlichkeit, Lust oder Geneigtheit macht die Gespräche angenehm. Das gemeinsame Leben ist allen viel näher als in der deutschen Urbanität. Passiert ein Unfall oder widerfährt einem ein Missgeschick, trauert das ganze Dorf.
Seit Jahrhunderten teilen die Sorben ihren Lebensraum mit den Deutschen. Doch durch die terminologische Verurteilung zu einer »Minderheit«, der – obwohl doch ein mit den Nachbarn gleichrangiges Volk – das »Mindere« bei jeder Verwendung des Begriffs als subtile Schmälerung in das Selbstbewusstsein eingeträufelt wird, konnte sich die Befangenheit zwischen Sorben und Deutschen nicht auflösen. Dies behindert bis heute ein tieferes Gespräch über die gemeinsame, ungleich erlebte Geschichte. Es fällt nicht nur schwer, mit den Unterschieden zwischen der Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft unbefangen umzugehen; noch viel schwerer erscheint es – tatsächlich auf beiden Seiten –, in den Unterschieden zwischen der deutschen und der sorbischen Kultur ein Potenzial kultureller Bereicherung zu erkennen, das allzu lange schon auf seine Verlebendigung wartet.

Europa braucht die Sorben
Die Dynamik der globalen Moderne benötigt zu ihrer eigenen Hygiene geradezu Regionen wie die sorbische Lausitz – als widerständige Elemente in einem Europa, das zum bloßen Verwalter seiner Ökonomie zu verkommen droht. Europa war stets das Produkt seiner Spannungen, Widersprüche und Dissonanzen, aber schon seit dem frühen Mittelalter auch einer latenten Idee von möglicher Einheit. Nun kommt es darauf an, diesen vielstimmigen Chor im großen Widerspruch zwischen der Globalisierung und den kulturellen und ethnischen Identitäten zum Klingen zu bringen und die verschiedenen Sprachen, Kulturen und Ideen daran zu beteiligen. Und diese Sprachen und Kulturen sind viel älter als all die großen Nationalstaaten.
Ein Bayer, Sachse, Katalane oder Schotte möchte, dass seine Stimme in Europa gehört wird. Warum nicht auch die des sorbischen Menschen? Für ein lebendig atmendes Europa sind doch die vielen lokalen Kulturen, die sich alle auf einem gleich zu achtenden Niveau von Wissen- und Könnenschaft eingefunden haben, nicht nur folkloristische Bindeglieder. Sie wären – selbstbestimmt, identifizierbar, offen im Austausch, in jeder Hinsicht verbunden und frei von jeglicher nationalistischer Einhegung – auch ein heilsames Korrektiv, das die nicht nur segenbringende Dominanz dieses charakteristischen Weltteils in eine dem Überleben der gesamten Welt dienliche Haltung zurückführen könnte.
Der zeitgenössische Erfahrungshorizont hat die ganze Welt zum Umkreis, in dem alle Menschen in einer Zivilisation verbunden sind. Dieses gemeinsame Zeitalter aller Völker, Regionen und Kulturen ist aber eben nur mit allen gemeinsam gestaltbar. Das nachhaltig gute Leben in Frieden lässt sich nur dadurch sichern, dass die »Großen« den »Kleinen« eine wirkliche Teilhabe an der Gestaltungsmacht zugestehen. In diesem größeren Ganzen, in einem Europa der freien Regionen, würde ein ganz anderes politisches und kulturelles Verständnis von Selbstachtung und Verbundenheit gedeihen können. Würde man endlich aus der verfahrenen deutsch-sorbischen Beziehungskiste herauskommen, könnte dies womöglich anderen, noch bedeutend schlimmer verkorksten Beziehungen zwischen Ethnien, die sich eigentlich lachend und frei umarmen sollten, ein nachhaltig wirksames Beispiel geben.
Indessen trifft das sorbische Leben mit einer fortgeschrittenen Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft zusammen. Das kann eine dezimierte Kultur mit heute noch rund 60 000 Angehörigen kaum kompensieren. Zwar sind die Sorben in den Verfassungen von Sachsen und Brandenburg als »Volk« definiert, doch die Etablierung einer demokratisch legitimierten politischen Volksvertretung war den Sorben bisher aus äußeren und inneren Gründen nicht möglich: Sie leben in zwei Bundesländern, sprechen zwei Sprachen – Nieder- und Obersorbisch –, folgen zwei Konfessio­nen und besitzen kein staatliches Territorium. Sorbin und Sorbe wird man durch Bekenntnis zur sorbischen Kultur, nicht durch Abstammung. Separatismus und Nationalismus sind den Sorben fremd; die üblichen Mittel der Nationenbildung – Ausmerzung und Vertreibung konkurrierender Ethnien – waren für sie nie Optionen. Ihr Heimatland, schlicht »Siedlungsgebiet« genannt, besitzt keine »nationale« Grenze; es umfasst die Gemeindegebiete der sorbischen Kommunen. Bisher vertritt ihre Interessen die »Domowina«, ein Dachverband, der sich für die Erhaltung der sorbischen Sprache und Traditionen einsetzt. Doch die Domowina ist bloß ein Verein und keine von allen Sorben gewählte Körperschaft mit den Entscheidungskompetenzen eines Parlaments oder einer Regierung.
1994 wählten in Ungarn die 13 nationalen Minderheiten – Roma, Deutsche, Slowaken, Kroaten, Serben, Polen, Armenier, Rumänen, Griechen, Bulgaren, Slowenen, Russinen, Ukrainer – ­Selbstverwaltungen (die inzwischen wieder unterlaufen wurden). In der serbischen Vojvodina besitzen die Slowaken ein eigenes Regionalparlament. Mit dem »­Sameting« haben die Samen in Finnland, Schweden und Norwegen eine eigene parlamentarische Vertretung. Damit sicherten sie sich ihre Mitbestimmung bei der Bewirtschaftung ihres Landes, der Gewässer und Bodenschätze. Wie die Sorben wollen auch die Samen nicht das Land besitzen, um andere auszusperren, sondern nur das uneingeschränkte Recht, es nach ihren Traditionen und Zukunftsvorstellungen für ihre Nachkommen als Lebensgrundlage zu erhalten und zu nutzen.
Seit kurzem existiert nun in der Lausitz eine Initiative für eine demokratisch gewählte sorbische Volksvertretung, den »Serbski sejmik«. Sie engagiert sich für die Einrichtung eines eigenen Parlaments, das als Körperschaft des öffentlichen Rechts aus freien, geheimen und direkten Wahlen hervorgeht. Mit diesem voll entwickelten Instrument der indigenen Selbstbestimmung, so die Überzeugung der Initiatoren, könnte das sorbische Volk den selbsthypnotischen Status des »Minderen« überwinden und konstruktiv zur Vielfalt und zum Reichtum der Kulturen in Europa beitragen.
Wenn in diesen Prozess vor allem auch die jungen Menschen eingreifen, hat er Aussicht auf Erfolg, und er könnte für ein kollaboratives Europa der Regionen beispielhaft sein. Ist es möglich, souveräne Volksvertretungen zu schaffen, ohne dass dies mit der Idee, Grenzen um ein Land zu ziehen, verbunden wird? Kann ein auf das Gemeinwohl orientiertes Zusammenwirken überschaubarer sozia­ler und kultureller Einheiten anstelle von Machtpolitik und Zen­tralisierung zum Leitbild für ein zukunftsfähiges Europa werden? In diesem Sinn öffnet die Initia­tive für ein sorbisches Parlament einen Diskussionsraum, der weit über die Lausitz hinausreicht. Das Motto der Parlaments-Initiative lautet daher folgerichtig: »Wir ­haben etwas zu geben. Das Volk der Sorben und Wenden.«

 

Měrćin Wałda (63), promovierter Kulturhistoriker, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Empirische Kulturforschung/Volkskunde am ­Sorbischen Institut e. V. in Bautzen.


Gespannt auf das sorbische Parlament?
www.serbski-sejmik.de. Ein schöner Artikel dazu ist in der taz erschienen: www.taz.de/Slawische-Minderheit-in-Deutschland/!125478/

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