Im Dschungel der Brüsseler Nichtregierungsorganisationen für Gerechtigkeit schafft Tobias Troll Räume für die Suche nach einem gemeinsamen Nenner. Jara von Lüpke hat ihn besucht.von Jara von Lüpke, erschienen in Ausgabe #30/2015
Viele Menschen treibt es nach Brüssel, um europaweit Einfluss auf unsere Gesellschaft zu nehmen. Ich stehe selbst oft vor der Frage, wo ich mit meinen Projekten ansetzen soll: In kleinen Graswurzelinitiativen oder strategischen Massenbewegungen?
Nach einem langen Tag mit vielen Gesprächen, den Besucher-Aufkleber der Europäischen Kommission noch auf meinem Pullover, treffe ich Tobias Troll in einer Kneipe in der Brüsseler Altstadt. Bei meinem Besuch in der Europa-Kapitale will ich der Frage auf den Grund gehen, wie zivilgesellschaftlich engagierte Menschen hier Wirksamkeit entfalten. Tobias arbeitet bei »DEEEP«– einem Projekt des europäischen Dachverbands »CONCORD« für entwicklungspolitische NGOs. Bei einem Jugend-Aufenthalt in Ghana hatte Tobias erfahren, dass es die internationale Entwicklungshilfe nicht schafft, an den Wurzeln der Ungerechtigkeiten anzusetzen, und fragt sich seitdem, wie sich unser Verhalten in Europa auf die Menschen der anderen Kontinente auswirke. Für DEEEP hat er in Brüssel mehrere Jahre entwicklungspolitische Lobbyarbeit betrieben. In Gesprächen mit den Kommissionsabteilungen »Entwicklung« und »Handel« machte er sich für postkoloniale Sichtweisen stark und warb um Projektgelder. Heute betrachtet er diese Arbeit kritisch: »Der Erfolg des Jahres ist es, wenn im letzten Entwurf eines Dokuments für nachhaltige Entwicklung neben Zielen wie industriellem Wachstum auch noch Menschenrechte stehen. Irgendwann habe ich mich gefragt: Was ändert das eigentlich?« Wirkliche Transformation geschieht für Tobias in Gesprächen zu Grundfragen zwischen Menschen, die sich gesellschaftlich für ganz verschiedene Ideen einsetzen. Während wir miteinander ein Bio-Bier trinken, erzählt er von einem Analysemodell, das ihm hilft, gesellschaftlichen Wandel zu versthen und zu beeinflussen. Es unterscheidet zwischen drei Ebenen: In der Mitte liegt die »Regime-Ebene«, auf der Institutionen wie die Europäische Kommission angesiedelt sind. »In NGOs haben wir die Tendenz, unsere gesamte Lobby- und Kampagnenarbeit auf den nächsten Weltgipfel zu fokursieren, auf dem aber selten Ergebnisse produziert werden«, kritisiert Tobias deren Überbewertung. Die untere Ebene bilden die »Nischen«. Hier gilt es, Graswurzelinitiativen zu vernetzen und zu stärken. Als Beispiel nennt Tobias die Idee der Finanztransaktionssteuer. Wurde sie vor zehn Jahren noch als Spinnerei abgetan, diskutieren inzwischen elf europäische Staaten ihre Einführung. Heute konzentriert sich Tobias auf die oberste Ebene, die dem »Diskurs« gewidmet ist. »Ich möchte Gespräche ins Leben rufen, die Grundsatzfragen zu den Werten unserer Gesellschaft stellen. Wie sieht das gute Leben eigentlich aus? Wenn diese Diskurse und zugleich die Nischen stärker werden, führen ihre Wechselwirkungen letztlich auch zu langfristigem Wandel in den Institutionen.« Um weitere Diskussionsräume zu öffnen, initiierte Tobias zusammen mit acht europäischen Organisationen im September 2014 bereits den zweiten »European Citizen Summit«. Vertreterinnen von NGOs aus verschiedenen Bereichen trafen sich mit Europaparlamentariern. Im Vorfeld hatten die acht beitragenden Verbände nach einem gemeinsamen Ansatz gesucht; sie fanden ihn in der Degrowth-Perspektive. Das Hinterfragen des Fortschritts wird langsam zum gemeinsamen Nenner der europäischen Zivilgesellschaft. Gespräche über Wesentliches – wie auf dem Citizen Summit – sind eine wohltuende Erfrischung im Brüssler NGO-Alltag, in dem es oft vor allem darum geht, wie der neugewählte Kommissar am besten um den Finger zu wickeln ist. Im Jahr 2013 fand die »europäische Bürger-Tagung« noch im Keller eines Museums statt, dieses Jahr war sie als temporäre Zeltstadt zwischen den Glasfassaden des Europaviertels gut sichtbar. Für die nächste Auflage gibt es noch keinen Ort, nur eines ist sicher: Die Gespräche werden 2015 weitergeführt, auch jenseits der Brüsseler »Blase«: Eine DEEEP-Konferenz auf dem Weltsozialforum in Tunis wird Fragen von Wachstumskritik und Weltbürgergesellschaft mit Teilnehmern aus der ganzen Welt diskutieren. •