(Basis-)Demokratie

Eine (neue?) europäische Erzählung

Oya-Redakteur Dieter Halbach sprach mit der Politikerin Rebecca Harms, der Europa-Aktivistin Luisa Maria Schweizer und dem Demokratieforscher Armin Steuernagel über ihre Ideen zur Europäischen Gemeinschaft.von Dieter Halbach, Rebecca Harms, Luisa Maria Schweizer, Armin Steuernagel, erschienen in Ausgabe #30/2015
Photo
© Ines Lindenau

Dieter Halbach Ihr alle brennt für Europa, für ein soziales, demokratisches und ökologisches Europa. Wie sehen eure europäischen Ideen aus – wie habt ihr sie gefunden?

Armin Steuernagel Ich bin 1990 geboren; für mich war Europa immer schon da. Mit 14 Jahren bin ich in Brüssel auf das »Lycée Français« gegangen und war von der Internationalität dort völlig begeistert. Ein Wermutstropfen war damals ein Gespräch mit einem Europaabgeordneten, der auf meine Frage nach den Zielen der EU antwortete: »Die EU ist wie ein Fahrrad – wenn man nicht weiterfährt, kippt es um.« Einfach weiterfahren, ohne zu wissen wohin – das hat mich nicht überzeugt. Wohl aber, dass sich in der EU so viele Staaten freiwillig zusammengetan haben. Die großen Viel­völkerreiche der Geschichte sind meist durch Eroberung und Unterdrückung entstanden. In Europa könnte – wenn wir jetzt nicht zu viel falsch machen – das erste Mal in der Menschheitsgeschichte eine Einung vieler Völker aus Freiheit, Einsicht und in Vielfalt entstehen – das ist es, was mich begeistert.

Rebecca Harms Europa ist das Ergebnis eines Lernens aus Geschichte – der Versuch, die Trennungen zu überwinden, die Europa im vergangenen Jahrhundert immer wieder mit Verheerungen überzogen haben. Am Ende stand die Einsicht, dass es besser ist, miteinander statt gegeneinander zu arbeiten. Aber Demokratie ist nie in Stein gemeißelt, sie ist gerade auf der schwierigen supra­nationalen Ebene immer anfechtbar. Auch heute wird sie wieder angefochten; auf diesem Kontinent wird wieder Krieg geführt.

DH Wie wurde aus einer Regionalpflanze wie dir, die im Gorlebener Anti-Atom-Widerstand wurzelt, eine Europäerin?

RH Durch Zufall! Eine meiner besten Freundinnen aus dem Gorleben-Protest, Undine von Blottnitz, ist 1984 mit der ersten deutschen grünen Fraktion ins Europaparlament gewählt worden. Sie hat mich gefragt, ob ich ihr Büro aufbauen möchte. Das habe ich vier Jahre lang getan und dabei dieses Parlament sehr zu schätzen gelernt. Mein gesamtes internationales Netzwerk zu Atomfragen, zur Energiewende, zur Landwirtschaft stammt im Kern aus dieser Zeit.

Luisa Maria Schweizer Ich bin in einem eher unpolitischen Elternhaus mitten im Schwarzwald aufgewachsen; dort ist der Blick selten über Lokalpolitik hinausgegangen. Für mich waren zwei Reisen sehr prägend. Bei einem sechsmonatigen Aufenthalt in Italien bin ich mit den »Sans Papiers« in Kontakt gekommen: Menschen, die mehrheitlich aus afrikanischen Staaten nach Süditalien gekommen waren und dort unter desaströsen Bedingungen und in prekären Beschäftigungsverhältnissen leben. Auf einer weiteren Reise in die Balkanstaaten habe ich gesehen, dass der »kriegsfreie Raum« Europa, wie er mir in der Schule vermittelt wurde, nicht der Wahrheit entspricht. An diesen beiden Punkten habe ich die große Kluft zwischen dem angeblichen Status quo und meinen realen Erfahrungen erkannt. Diese Erfahrungen haben mich politisiert und sind der Grund, weshalb ich mich für ein anderes Europa engagiere.

AS Die Erfahrung einer gemeinsamen europäischen Identität habe ich erst gemacht, als ich den Kontinent verlassen habe und in Afrika mehrere Monate zur Schule gegangen bin. Danach war ich noch in China und Amerika, und mir wurde deutlich, dass bei all ihrer Verschiedenheit die Europäer doch viel Gemeinsames haben.

DH Joschka Fischer spricht in seinem Buch »Scheitert Europa?« davon, dass die »eigentliche europäische Revolution« noch ausstehe. Aus seiner Sicht wäre das die Einführung einer zweiten Kammer, die aus einer gewählten Vertretung der nationalen Regierungen besteht – parallel zum direkt gewählten europäischen Parlament. Ähnliche Strukturen fordern auch Demokratiebewegungen.

RH Schon seit langem gibt es diese Debatte: Wollen wir ein föderaler europäischer Staat werden? Soll die Spitze der Entscheidung bei einer europäischen Regierung liegen, die vom Parlament gewählt wird? Oder sollen sich die Mitgliedstaaten auf Augenhöhe koordinieren? Ich finde es wichtig, viele Entscheidungen von den nationalen Parlamenten nach Brüssel zu verlagern. Wenn das Europäische Parlament nur eine Art Moderator ist, funktioniert das nicht gut. Gerade in der Eurokrise wurde das deutlich. Eine gemeinsame Währung verlangt nach einer gemeinsamen Wirtschafts- und ­Finanzpolitik. Da heulen aber die nationalen Parlamente auf, denn das Haushaltsrecht ist ihre wichtigste Bastion.

DH Was ist für dich eine tragfähige Vision für Europa?

RH Die wurde von den Gründern schön formuliert, etwa von Jean Monnet, einem der Initiatoren der EU, der sagte: »Wir einigen keine Staaten, sondern bringen Menschen zusammen.« Meine Erfahrung ist, dass die Bürgerinnen und Bürger in ihren Grundanliegen der europäischen Ebene nicht vertrauen. Die EU ist in einer Phase, in der sie sich noch stabilisieren muss. Beispielsweise gehört mit Ungarn ein Land dazu, das sich nach Putin’schem Vorbild entwickelt. Das zeigt, dass wir politische Integration in Europa unbedingt brauchen – zunächst in der jeweiligen Innenpolitik, um die gemeinsamen Werte zu verankern, und dann in einer überregionalen Wirtschaftspolitik, um die Lehren aus der Eurokrise zu ziehen.

AS  Ich war letztes Jahr in fast allen Mitgliedsstaaten unterwegs und habe mitbekommen, wie enorm verschieden die Menschen denken. Wie können wir auf einem Kontinent mit 500 Millionen Menschen, 24 verschiedenen Amtssprachen und vielen Kulturen und Denkweisen gemeinsam Probleme lösen? Ich meine, wir müssen in Bezug auf die EU dezentraler denken. Wie kann von unten aufgebaut werden und nicht von oben? Außerdem sollten wir Regierungsführung jenseits von Nationalstaaten zu denken lernen. Statt dass ein Territorium politische Fragen bestimmt, sollte eine Fragestellung das Gebiet, in dem eine zugehörige Regelung wirksam wird, bestimmen. Wieso kann nicht zum Beispiel die Funktion »Schulsystem« unabhängig von Ländergrenzen organisiert werden? Warum kann es nicht schwedische, deutsche und französische Schulen nebeneinander in Deutschland geben? Unter dem Stichwort ­»Functional Federalism« wird bereits eine Diskussion über »funktionale« statt »territoriale« Steuerung geführt.

LMS Das sind sicherlich sehr gute Gedanken. Nur frage ich mich aus meiner aktivistischen Erfahrung heraus, ob diese Strukturveränderungen für einen wirklichen Wandel ausreichen. Wenn Rebecca sagt, es gehe darum, die Menschen zusammenzubringen, dann gelingt das nicht lediglich über eine Abänderung der von oben aufgesetzten Strukturen. Ein tatsächlicher Wandel kann nur von unten, durch eine starke Bürgerbewegung, kommen. Das Wichtigste ist daher meiner Meinung nach, zur Aufklärung und Netzwerkbildung einer kritischen Masse beizutragen und zu ermöglichen, dass Beispiele des Gelingens miteinander ausgetauscht werden und voneinander gelernt wird. Unserer Organisation »European ­Alternatives« ist das mit dem »Citizens Pact«, der letztes Jahr ein Manifest auf Grundlage der Stimmen vieler Bürgerinnen und Bürger in diversen EU-Ländern erarbeitet hat, gut gelungen.

RH »Europäische Union« ist zunächst ein technischer Begriff. Aber sein politisches Narrativ, die historische Erfahrung – das ist unschlagbar. Das müssen wir immer wieder ins Bewusstsein holen.

DH Brauchen wir inzwischen nicht auch eine neue Erzählung von mehr Teilhabe und Beteiligung?

LMS Ich glaube, wir sind uns über die zentrale Bedeutung des europäischen Narrativs sehr einig. Nur die Übersetzung gelingt noch nicht genügend. Wenn ich mit Aktivisten spreche, merke ich, dass die europäische Gründungsidee vom kriegsfreien Raum und von einer freiheitlichen Gemeinschaft durchaus noch präsent ist. Aber konfrontiert mit den alltäglichen Widersprüchen dieser Idee, hat sich gerade für die jüngere Generation ein neues »Erzählen von Europa« etabliert: dass Entscheidungen von oben herab getroffen und in einer Sprache, die viele schlichtweg nicht verstehen, begründet werden. Das grenzt aus, macht wütend und führt zu dem oft beklagten demokratischen Defizit. Ich sehe nicht nur das Misstrauen gegenüber der europäischen Ebene, sondern auch gegenüber den Nationalstaaten und der Politik insgesamt wachsen. Kurz vor seinem Abtritt sagte Kommissionspräsident Barroso, es gehe darum, Europa wieder »eine Seele zu geben«. Was könnten diesbezüglich denn konkrete Maßnahmen des Europäischen Parlaments sein?

RH Meiner Meinung nach – und da streite ich immer wieder mit meinen grünen Kollegen – wird sich Europa nicht sofort um Gerechtigkeit verdient machen können. Wir werden zum Beispiel nicht innerhalb kurzer Zeit eine europäische Arbeitslosenversicherung schaffen können; dafür ist die Zeit noch nicht reif. Die wichtigste Gerechtigkeitsleistung in Europa besteht jetzt in Maßnahmen gegen die Rezession. Der Milliardenplan von Juncker ist eine Möglichkeit, Arbeit zu schaffen, zum Beispiel durch zukunftsfähige Investitionen im Energiebereich. Wenn die Armut in den Mitgliedsstaaten zunimmt, haben wir keine Chance. Dann wird die Distanz zur Europäischen Union größer werden.

DH Wie kann eine Gerechtigkeitspolitik aussehen, die sowohl den Spar­zwang überwindet, als auch ohne mehr Schulden auskommt? Die Wachstumsraten in Europa werden wahrscheinlich dauerhaft nicht mehr ansteigen. Ist nicht ein anderes Wirtschaftsdenken gefordert, um Gerechtigkeit ohne Wachstum zu erreichen?

AS Das ist meines Erachtens eine der wichtigsten Fragen. Viele Menschen weltweit schauen auf Europa und unser Modell einer »sozialen Marktwirtschaft«. Deswegen haben wir die Verantwortung, auf diesem Gebiet Vorreiter zu sein. Viele Dinge, die heute sehr aufwendig herzustellen sind, werden in Zukunft immer weniger Arbeitszeit benötigen. Die Gesellschaft könnte im Wohlstand wachsen, ohne dass das Bruttoinlandsprodukt wächst. Wenn immer mehr Vorgänge automatisiert werden, stellt das die Koppelung von Arbeit und Erwerbseinkommen in Frage. Zudem sollten wir die Funktion von Kapital und Geld überdenken. Die Finanzmärkte sind mit Geld überfüllt, und die Investoren wissen nicht, wo sie es noch anlegen könnten – trotzdem fehlt es an allen Ecken und Enden. Arbeit, Einkommen und Kapital anders zu denken, wäre auch ein neues europäisches Narrativ.

RH Um Gerechtigkeitsziele geht es auch in der Steuerdebatte. Ich unterstütze eine gesunde Haushaltspolitik, aber ich bin nicht damit einverstanden, dass sich die EU kaum um die Einnahmen kümmert. Man muss etwas gegen diesen wahnsinnigen Wettbewerb um möglichst niedrige Unternehmenssteuern tun. Unternehmen, die riesige Profite machen, müssen anständig Steuern zahlen, damit die Politik mit dem Geld gegen die Folgen der Krise vorgehen kann.

LMS Aktive Menschen aus Griechenland und Spanien haben mir oft gesagt: »Das ist nicht unsere Krise! Wir leiden unter anderen alltäglichen Situationen als ihr. Bitte sprecht nicht aus deutscher Sicht von unserer Krise.« Es gibt immer noch eine empörend große Menge an Menschen, die von dieser sogenannten Finanzkrise sehr profitieren. Ich wünsche mir, dass diese Krise eine tickende Zeitbombe ist, die dazu führt, dass sich Menschen anders organisieren. Im Rahmen von »European Alternatives« arbeiten wir mit vielen lokalen und regionalen Initiativen zusammen, die funktionierende Modelle anderen Wirtschaftens entwickeln.

RH Alle unsere alternativen Modelle, Dieter, kommen zurück …

DH Sie müssen nur noch besser funktionieren und aus der Nische herausfinden!

LMS Die eigentliche Aufgabe besteht darin, die Macht dieser Initiativen zu unterstützen und zusammenzubringen.

RH Diese starken sozialen Bewegungen haben aber nicht zu Machtverschiebungen geführt, die einen gesellschaftlichen Umbau ermöglichen. Wenn ich mit den Aktivisten aus dem Süden spreche, vermisse ich, dass sie sehen, unter welchen Machtverhältnissen wir in Brüssel arbeiten. Das Votum der Bürger bei den letzten Europa-Wahlen deutet eher in Richtung Nationalismus und konservativer Politik. Ich bin im EU-Parlament, weil ich glaube, dass wir weiterhin gemeinsam lernen können. Setzt man in einer Situation wie in Spanien und Griechenland auf Revolution? Nach einer revolutionären Phase – ich habe lange in einer Landkommune gelebt und überlegt, mich einem großen Aussteigerprojekt anzuschließen – bin ich inzwischen bei der Reform angelangt. Auch wenn ich bei den Grünen mit am meisten die aktivistischen Zusammenhänge aufsuche, sage ich heute: Veränderung Schritt für Schritt, das bringt mehr!

DH Wie erklärst du einem Menschen, der für regionale Autonomie streitet, was Brüssel für ihn tut? Wo gewinnt er durch europäische Politik an lebensdienlichen Strukturen auf der unteren Ebene?

RH Wir Grüne haben – als ein kleines Beispiel mit großer Wirkung – in dem riesigen Moloch der Agrarreform eine Finanzierung für Projekte im ländlichen Raum, die regionale Wertschöpfung betreiben wollen, gerettet.

AS Durch Zusammenarbeit auf überregionaler Ebene im Umweltschutz wird auch die regionale Selbstbestimmung gefördert – zum Beispiel, wenn die Abgase eines Kohlekraftwerks über eine Landesgrenze hinüberwehen. Auch wenn ich überall Unternehmen gründen kann, fördert das meine Selbstbestimmung. Förderprogramme sind hier gar nicht so entscheidend, sondern eher Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, dass Einzelne aktiv werden und sich vernetzen können. Ich finde es gut, von Rebecca aus Brüssel zu hören, dass wir »mal langsam machen« sollten. Bisher sind die Eliten vorgeprescht und haben ein großes Haus Europa gebaut. Jetzt aber hat die politische Elite Angst, dass die Bürger, wenn sie darüber abstimmen dürfen, es vielleicht wieder einreißen. Wir sind so schnell gewachsen – die Menschen der verschiedenen Länder kennen sich gegenseitig noch gar nicht. Jetzt steht ein großer Prozess an: Wer sind wir eigentlich in Europa, welche Werte und Regeln wollen wir uns geben? Ist das unser Haus, das die Eliten da aufgebaut haben? Wollen wir dort einziehen? Wollen wir vielleicht noch Fenster einbauen oder ein paar Wände herausreißen?

RH Das sind Fragen für den europäischen Konvent!

AS Richtig! Wir brauchen eine europäische Versammlung zur Diskussion und Erneuerung der Verfasstheit Europas.

RH Das finde ich auch die richtige Vorrede dazu. Der Konvent wird sehr unterschiedlich begründet. Diese Begründung als Verständigungsprozess finde ich gut.

AS Was kann der Konvent leisten? Vor allem, dass Menschen sich die europäischen Verträge gestaltend zu eigen machen. Selbst wer EU-Recht studiert hat, kann dieses 480-Seiten-Werk nicht vollständig durchdringen und diskutieren. Das könnte nur ein Konvent, das heißt eine Zusammenkunft von Vertretern aller Mitgliedsstaaten, die nicht nur aus Politikern bestehen sollten. So ein Konvent sollte nach Meinung von »Democratic Europe Now« einberufen werden, und ihm sollte genügend Zeit gegeben werden. Am Ende stünde die Notwendigkeit einer europaweiten Volksabstimmung: Geht es jetzt hinein in das Haus oder nicht? Oder brauchen wir noch Zeit?

DH Wie sollte eurer Meinung nach das europäische Narrativ mit den Sehnsüchten nach regionaler Autonomie umgehen? Die gibt es sowohl in der alternativen als auch in der nationalistischen Szene.

AS Ich sehe das mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Negativ ist die Abspaltung, positiv ist der Wunsch, neue Formen jenseits des Nationalstaats zu finden. Man muss diesen Wunsch vielleicht nur anders denken – jenseits von ethnischer Identität. Ich hätte die Schotten gerne gefragt: Wollt ihr in dieser oder jener Funktion gerne Teil des Vereinigten Königreichs oder der EU sein, beispielsweise in der Wirtschaft oder im Strafrecht? Am Beispiel des Bodensees kann man es schön illustrieren: Wieso haben wir da viermal eine eigene nationale Wasserpolizei? Das ist eigentlich ein Raum, der eine supranationale Funktion hat. Das würde ich gegenüber regionalistischen Bewegungen als eine Lösungsidee anführen, zum Beispiel kulturell eigenständig, aber in anderen Bereichen doch eingebunden zu sein.

LMS Ich sehe in den Autonomiebewegungen auch einige positive Aspekte, vorausgesetzt, sie basieren nicht auf Konzepten von ­ethnischer Zugehörigkeit. Allerdings geht es auch hier primär um Ungleichheit. Die Schotten fühlen sich zum Beispiel in einem Unrechtsverhältnis gegenüber London. Gerade in der Krise schafft das Unmut und ist bestes Futter für Nationalisten. Das ist verdammt gefährlich. Auch wenn es der schwierigere Weg ist: Ich halte ein größeres Maß an Transparenz und eine gerechtere Politik für alle für den effektiveren Lösungsansatz als den der Abspaltung.

RH Das Bedürfnis nach Autonomie verstehe ich gut, auch vor dem Hintergrund der vergangenen Kriege. Ich sehe aber auch eine Konkurrenzdebatte, wie sie in Bayern oder Baden-Württemberg über den Länderfinanzausgleich geführt wird – zum Beispiel bei den Katalanen. Da gehen meine spanischen Kollegen immer an die ­Decke, wenn ich das sage. Ich war über das Ergebnis des schottischen Referendums positiv überrascht. Mich beruhigt es, wenn ethnische Begründungen nicht mehr greifen. In einem meiner geliebten, aber schwierigsten Länder, der Ukraine, erleben wir den Albtraum, wie eine ethnische Argumentation neue Grenzen schafft. Die wollten wir mit dem Euro-Maidan ja gerade überwinden.

DH Können wir also froh sein, dass unsere Bewegung für eine »Freie Republik Wendland« keine politische Wirklichkeit geworden ist? Dass sie nur ein Symbol geblieben ist?

RH Es wirkt noch immer! Durch meinen Vergleich zu vielen europäischen regionalen Basisbewegungen kann ich sagen, dass für diese kleine Region im Wendland eine Bürgergesellschaft weitgehend gut und lebendig funktioniert.

DH Was brennt euch unter den Nägeln? Welchen Fokus setzt ihr demnächst in eurem Engagement für Europa?

LMS Auf meiner Herzblutagenda steht das Thema »neuer Nationalismus in Europa« ganz weit oben. Wir erleben, wie Nationalisten in ganz Europa auf sehr komplexe Fragestellungen sehr einfache und verallgemeinernde Antworten geben. Die Situation der Krise ist bester Nährboden für rechte Ideen. Sie ist aber immer auch eine Zeit des Überdenkens, der reflektierten Innovationen. Jetzt gilt es, an der Imagination eines wirklich solidarischen, gemeinsamen ­europäischen Raums weiterzuarbeiten.

RH Wir bräuchten so etwas wie einen Marshallplan für den ­Süden und Osten mit dem Schwerpunkt Energie und Nachhaltigkeit. ­Die EU ist eine der mächtigsten und reichsten Regionen der Welt, liegt aber inmitten von Armut, Kriegen und Flüchtlingen. Dem müssen und können wir gerecht werden.

AS Ich halte viele Vorträge an Schulen und frage dort: »Wie denkt ihr über Europa?« – Alle sind dafür. »Was haltet ihr von der EU?« – Kaum jemand ist dafür. Für mich ist es das Wichtigste, die Menschen an den Prozessen zu beteiligen. Aus der Forschung wissen wir, dass prozessuale Fairness wichtiger ist als Ergebnisfairness. Langsam ist manchmal schneller. Die nachhaltigste Integration der EU ist eine freiwillige Integration. Eine Gemeinschaft, die vielfältig ist und aus Freiheit zusammenarbeitet, ist mein Zukunftsbild.

DH Das kann ich als Gemeinschaftsmensch bestätigen: Die Prozesshaftigkeit ist manchmal anstrengend, bringt aber tatsächlich die Integration. Was wir hier im Kleinen gerade versucht haben, die Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Politik – das hat großes Potenzial, das viel mehr genutzt werden sollte. Ich danke euch für den erfrischenden europäischen Geist unseres Gesprächs! •

 

Rebecca Harms (58) war 1977 Mitbegründerin des Anti-Atom-­Widerstands in Gorleben. Seit 1998 ist sie Mitglied des Bundesparteirats von Bündnis 90/Die Grünen. 2004 wurde sie ins Europäische Parlament gewählt und ist dort Fraktionsvorsitzende. Ihre Herzens­themen sind Energie- und Atompolitik, Klimaschutz und Außenpolitik.
www.rebecca-harms.de

Luisa Maria Schweizer (30) in Berlin lebende Anthropologin und Aktivistin, ist erste Vorsitzende von European Alternatives Berlin e. V. Unter dem Motto »Demokratie, Gleichheit and Kultur jenseits der Natio­nalstaaten« sind die European Alternatives transnational aktiv.
www.euroalter.com

Armin Steuernagel (24) studierte Philosophie, Politik und Ökonomik und forscht, wie Wirtschaft humanisiert und Europa demokratisiert werden kann. Er ist Mitbegründer von Unternehmen wie »Mogli« (Bioessen für Kinder) und der NGO »Democracy International«.
www.democraticeuropenow.eu
www.mogli.de

weitere Artikel aus Ausgabe #30

Photo
von Jörn Wiedemann

Transformationsdesign (Buchbesprechung)

In ihrem Buch »Transformationsdesign« gehen der Kulturwissenschaftler Bernd Sommer und der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer der Frage nach, wie der große Wandel gestaltet werden müsse. Unmissverständlich machen sie klar, dass der Wandel gar nicht in Frage

Photo
von Lara Mallien

Glücksökonomie (Buchbesprechung)

Ist das wieder eines der Bücher mit vielen netten Geschichten über gelungene, zukunftsweisende Projekte, von denen mensch in Oya oder anderen Medien längst schon gelesen hat? Diese Frage stellte ich mir etwas bang vor der Lektüre des neuen Buchs

Photo
von Anne Erwand

Warum die Sache schiefgeht (Buchbesprechung)

Wenn man sich auch nur ein bisschen mit den Grundlagen wertschätzender Kommunikation beschäftigt hat, ist man schon beim Lesen des Deckblatts von Duves neuem Buch „Warum die Sache schiefgeht“ sehr versucht, dieses sofort wieder aus den Händen zu legen. Der Untertitel

Ausgabe #30
Oyropa

Cover OYA-Ausgabe 30
Neuigkeiten aus der Redaktion