In Barcelona gibt es eine lange Tradition der Wiederaneignung öffentlicher Räume für gemeinschaftliche Nutzung.
von Melissa García Lamarca, Bru Laín, erschienen in Ausgabe #30/2015
Seit einem Jahr verfolgen wir mit der Initiative »Barcelona Metropolitan Observatory« die Idee einer »Stadt der Gemeingüter« als eine Graswurzelbewegung gegen Privatisierungs- und Verwertungsbestrebungen. Wir wollten aus den Erfahrungen von bestehenden »urbanen Commons« lernen: Wie schaffen sie Alternativen zur kapitalistischen Marktwirtschaft bzw. zur staatlichen Planwirtschaft? Wie pflegen und organisieren sie Gemeinschaft? Welche Formen entstehen hier, um Infrastrukturen und Dienstleistungen kollektiv selbstzuverwalten? Dafür gibt es viele Beispiele.
Die Industriebrache von »Can Batlló« in Barcelonas Bordeta-Viertel wurde in den letzten Jahren nicht etwa durch kapitalistische Investitionen, sondern durch tatkräftige Anwohner zu neuem Leben erweckt. Ende der 1880er Jahre als Teil eines neun-Hektar-Geländes erbaut, gab die Textilfabrik zu ihren besten Zeiten vor 100 Jahren immerhin 5000 Menschen Arbeit. Doch seit den 1940er Jahren war die Produktion rückläufig. Die Räumlichkeiten wurden zunächst an Gewerbetreibende vermietet, aber dann mehr und mehr verlassen. Ein Stadterneuerungsplan sollte 1975 der Brache ein neues Gesicht mit Sozialwohnungen und Grünflächen geben, doch die Stadt setzte den Plan mehr als drei Jahrzehnte lang nicht um. 2008 waren die Anwohner von Can Batlló es endgültig leid, dass alle Umbau-Ankündigungen der Politiker im Sand verliefen. Sie riefen die Bürgerinitiative »Can Batlló és pell barri« (»Can Batlló gehört der Nachbarschaft«) ins Leben und starteten die Tick-Tack-Countdown-Kampagne: Wenn die geplanten Arbeiten auf dem Gelände nicht bis zum 11. Juni 2011 starteten, würde es die Nachbarschaft besetzen und nach eigenen Vorstellungen aktiv werden. Als trotz des Ultimatums immer noch nichts geschah, begann man tatsächlich noch am Stichtag damit, die alte Fabrik grundlegend zu verwandeln. Aus den Metall- und Druckwerkstätten wurden mit der Zeit gemeinschaftlich und individuell nutzbare Räume. Ein 35-jähriger Streit um die offizielle Übertragung der Nutzungsrechte durch die Stadt Barcelona an die Bürgerschaft führte im Juli 2011 endlich zum Erfolg. Seitdem ist Can Batlló ein von der Anwohnerschaft kollektiv genutzter und selbstverwalteter, offener Ort. Seine Verwandlung gelang in Riesenschritten, denn bis zu 300 Menschen aller gesellschaftlichen Schichten packten gemeinsam an. Nachdem die ersten Projekte, darunter eine Volksbücherei und eine Aula, realisiert waren, kam eine Flut neuer Nutzungsideen auf. Neuerdings haben sich eine Bar, verschiedene Werkstätten, eine Kletterwand sowie eine Zirkusgruppe etabliert. Für die nahe Zukunft sind eine Arbeitsgruppe für solidarische Ökonomie, ein gemeinschaftliches Wohnprojekt, eine Bierbrauerei sowie eine Berufsbildungsstätte geplant.
Neues Leben in den Lagerstätten leerer Versprechungen Can Batlló ist aber nur eines von zahlreichen Nachbarschaftsprojekten, die sich derzeit in Barcelona und Umgebung Räume und Prozesse wiederaneignen, welche bis dahin als handelbare Güter in öffentlicher oder auch in privatkapitalistischer Hand lagen. Als weiteres Beispiel dient etwa das im Eixample-Viertel gelegene 5500-Quadratmeter-Areal »Germanetes«. Nachdem es jahrzehntelang nur als Lagerstätte für die leeren Versprechungen des Stadtparlaments gedient hatte, dort öffentliche Infrastruktur zu schaffen, wurde es 2011 von Nachbarschaftsgruppen in Beschlag genommen, die Dutzende von partizipativen Workshops veranstalteten, um neue Ideen für den Ort zu entwickeln. Ähnlich erging es auch dem Gelände von »Flor de Maig« in Poble Nou. 1890 war es Sitz der mit 1500 Mitgliedern, 120 Angestellten und sechs Zweigstellen größten Konsumgenossenschaft Kataloniens gewesen; sie existierte bis 1950. Im Jahr 2012 wurde die Liegenschaft besetzt und in einen selbstverwalteten soziokulturellen Treffpunkt verwandelt. Die Wiederaneignung von Commons ist nicht auf den öffentlichen Raum beschränkt. Sie reicht auch in kulturelle Räume hinein, wie etwa den 2005 von Aktivisten gegründeten Buchladen »Ciutat Invisible« (»Die unsichtbare Stadt«), der zugleich eine Forschungsgruppe ist – diese Kombination war von dem anarchistischen »Projekt A« in Neustadt/Weinstraße inspiriert. In Sabadell gibt es ein Hausbesetzungsprojekt von derzeit 146 Menschen, die sonst auf der Straße leben müssten. Oft konnten sie krisenbedingt die Hypothek für ihre Wohnungen nicht mehr zahlen. Zudem bilden sich Infrastruktur-Initiativen wie »Som Energia«, eine Bürger-Energiegenossenschaft mit über 13 000 Mitgliedern, oder digitale Projekte wie »Guifi.net«, das weltweit größte dezentral-demokratische W-LAN-Netzwerk. Mehr als 26 000 Knotenpunkte in ganz Katalonien und Spanien trotzen den Geschäftsmodellen der oligarchischen Konzerne in der Welt der Informationstechnik.
Der Widerstand gegen die Einhegung hat eine lange Tradition Man darf all diese Initiativen nicht losgelöst von sozialen, historischen und politisch-ökonomischen Prozessen betrachten. Barcelona besitzt starke Wurzeln in den Bewegungen der Anarchistinnen, Sozialisten, Arbeiterinnen und Kollektive. In der heutigen, modernistisch geprägten Werbekampagne für die Stadt kommt diese Geschichte freilich nicht vor. In den 1960ern und 70ern hatten die Nachbarschaftsbewegungen durch den Zustrom von Menschen vor allem aus Südspanien eine große Kraft. Sie knüpften in gewisser Weise an die demokratischen Stadtteil-Räte aus der Zeit vor der 1939 installierten Diktatur General Francos an. Während langer und turbulenter Kämpfe erreichten sie Verbesserungen im Bereich des öffentlichen Transports, der Bildung und bei den sozialen und medizinischen Diensten. Das heutige Barcelona ist also das Ergebnis eines langen Hin und Hers zwischen der Einhegung der öffentlichen Räume und Gemeingüter auf der einen und ihrer Rückgewinnung auf der anderen Seite. In den vergangenen Jahrzehnten und besonders in den letzten Jahren unter der Austeritätspolitik konnten urbane Verwertungsprozesse – bzw. das, was David Harvey »kapitalistische Urbanisierung« nannte – erneut tiefe Wurzeln schlagen: die Privatisierung öffentlicher Dienste, die touristische Verwertung der Stadt, die Gentrifizierung zentrumsnaher Stadtgebiete und so fort. Zu Beginn unserer Forschungen hatten wir nur eine vage Vorstellung davon, was urbane Commons sein könnten. Mehr oder weniger intuitiv wählten wir eine Reihe von Praktiken aus, die sich anhand irgendeiner – jeweils objekt- und kontextspezifischen – Form des gemeinschaftlichen Managements um kollektive Ressourcen kümmern, sie verteidigen oder zurückerobern. Unsere Arbeit begann mit dem Beobachten spezifischer Prozesse und dem Sammeln von Geschichten aus den Nachbarschaften. Im nächsten Schritt brachten wir diese unterschiedlichen Erfahrungen in einen Dialog, damit kollektive Lernräume entstehen. Von Can Batlló bis hin zu Gulfi.net – all diese Ansätze wirken an einer neuen Vorstellung von Wohlstand mit, bei der die Betonung der sozialen Reproduktion – also die Ermöglichung von sozialen Verbindungen und gegenseitiger Fürsorge – die kapitalistische Verwertungslogik ersetzt. Das Pflegen und Nutzen der Dinge hat hier Vorrang vor dem Tausch. Bei all unseren Begegnungen stellten wir immer wieder fest, dass es keine Stadt ohne Commons gibt – und keine Commons ohne die gelebte Praxis, die sie erhält. Die Räume, in denen heute neue kollektive Organisationsformen erprobt werden, bilden soziale Laboratorien für die demokratische Praxis von morgen. •
Melissa García Lamarca (35) und Bru Laín (32) sind Teil der Gruppe »Barcelona Metropolitan Observatory« (OMB), eine außeruniversitäre, unkommerzielle Forschungsgemeinschaft, die in Barcelona urbane Entwicklungsprozesse, sozialpolitische Bewegungen und basisdemokratische Selbstverwaltungsformen analysiert. OMB ist Teil des spanischen Forschungs- und Aktionsnetzwerks »Fundación de los Comunes«.